Das Heft – Nr. 88

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Editorial

Zum fluter-Heft Neukölln

Neukölln hat es inzwischen medial zu einigem schrägen Ruhm gebracht. In den Medien fanden sich zuletzt kriminelle Clans und Freibadprügeleien. Armut, Gewalt, Kriminalität – wie in vielen anderen deutschen Ballungsräumen zeigen sich auch in diesem Stadtteil die Probleme einer immer größeren sozialen Polarisierung in Deutschland.

Neukölln ist mehreres in einem – urbaner Ballungsraum mit Gegenden, die zu den ärmsten der Hauptstadt gehören, und nur ein paar U-Bahn-Stationen weiter kleinstädtische Siedlungen oder teure Eigentumswohnungen. Menschen verschiedenster Religionen und Kulturen und Migrationsgeschichten leben und arbeiten hier. Eher kleinbürgerliche Interessen und Werte treffen auf die urbanen Experimente einer global vernetzten Jugendkultur.

Neukölln ist eine fast unmögliche Mixtur. Und sie funktioniert doch, irgendwie und meistens. Aber wie lange noch und zu welchem Preis?

Die Krisensymptome mehren sich. Der Kampf um den knapp gewordenen Wohnraum hat längst auch Neukölln erreicht, die Gentrifizierung schreitet fast ungebremst voran. In vielen öffentlichen Schulen nimmt die Krise des über Jahre vernachlässigten Bildungswesens inzwischen dramatische Formen an. Die öffentlichen Infrastrukturen geben oft auch in anderen Bereichen keinen sicheren Halt mehr. Dazu kommen die aktuellen globalen Krisen und ihre Auswirkungen. Die Mahlströme der unsicheren Verhältnisse schieben sich quer zu den Träumen und Plänen der Menschen mitten in die alltäglichen Kämpfe. Am härtesten trifft es gerade diejenigen, die am wenigsten Ressourcen haben, dagegenzuhalten.

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All das gibt es, aber es ist nicht alles. Wenn man den Menschen vor Ort zuhört, sie ins Gespräch kommen lässt, gibt es vieles zu entdecken. Es ist immer wieder beeindruckend, mit welch kritischem Realismus ganz normale Leute versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Hier im alltäglichen Zusammenleben zeigt sich die Kraft des Kommunalen. Sie kommt aus einem Gemeinsinn, der sich täglich neu findet und beweist. Es ist oft ein Humanismus der kleinen Dinge. Sei es in den eher flüchtigen Netzwerken der Nachbarschaft, in Vereinen, in karitativen, kulturellen oder politischen Initiativen. Aus Gegensätzen können Toleranzen werden, die Vereinbarkeit des scheinbar Unvereinbaren wird konkret erlebbar. Dieser Common Sense des normalen Alltags bleibt medial und politisch meistens unter dem Radar. Dabei ist es entscheidend für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, dass die Deutungshoheit über diesen spannenden sozialen Raum nicht den Populisten überlassen wird.

Denn trotz alledem: Neukölln lebt.

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