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So ein Gespräch haben wir noch nie geführt: Gleich neun Menschen aus Neukölln setzen den Ton fürs neue fluter-Heft

Späti

Vor dem Anzen-Späti ist viel los, Leute kommen und gehen und decken sich oft noch bis spätabends mit Getränken, Zigaretten und Süßigkeiten ein. Genau der richtige Ort, um über Neukölln ins Gespräch zu kommen. Also stehen heute nicht nur günstige Drinks auf dem Tisch, sondern auch die Aufnahmegeräte des fluters. Betreiber Mustafa hat seinen Laden mit Begeisterung als Ort für den großen Späti-Gipfel angeboten. Heute soll es hier um einige grundlegende gesellschaftliche und politische Themen gehen, für die Neukölln zu einem wichtigen Schauplatz geworden ist. fluter hat dazu acht sehr unterschiedliche Neuköllnerinnen und Neuköllner eingeladen. Aber auch ein Nachbar kommt zufällig des Weges und wird von Mustafa umgehend mit an den Tisch gebeten.

Mustafa: Wie geht’s dir, Boris?

Boris: Gut geht’s! Worüber sprecht ihr?

fluter: Über Neukölln.

Boris: (begeistert) Ihr redet über Neukölln! Da habe ich gleich eine schöne Geschichte. Mustafa ist ein bindendes Glied für Neukölln. Früher haben sich viele Nachbarn einfach nur gegrüßt und sind weitergegangen. Heute sitzen sie hier gern abends zusammen, trinken ein Bier und quatschen.

fluter: Seit wann wohnst du hier im Haus?

Boris: Seit 20 Jahren. Ich bin einer der ältesten Mieter hier.

fluter: Insgesamt hat sich dieser Bezirk ja sehr verändert. Wie nimmst du das wahr?

Boris: Sehr positiv. Mit einem Mal gibt es eine Hauscommunity – die Leute kennen sich, sie duzen sich. Mustafa fragt sogar, ob er einem schwere Taschen in die Wohnung hochtragen soll.

Die Frage war ganz klar auf den größeren Kontext des Bezirks gemünzt, aber Boris kommt aus dem Abfeiern von Mustafa gar nicht mehr raus. Eine Frau mittleren Alters nähert sich dem Tisch. Sie trägt ein beschriftetes T-Shirt: „Unser Block bleibt!“ Es ist Susanne, die sich gegen Gentrifizierung engagiert. Zusammen mit seiner Mitarbeiterin Céline stellt Mustafa jetzt Sonnenschirme auf. Ein heißer Neukölln-Tag lässt jetzt, gegen 11 Uhr, schon mal seine Muskeln spielen. Sonne und Beton.

fluter: Neukölln ist seit ein paar Jahren ziemlich hip. Es gibt jede Menge neue Bars, Läden, Clubs und Restaurants und viel Zuzug. Hat diese neue Dynamik auch eine Kehrseite?

Susanne: Absolut. Da sind die steigenden Mieten und die Verdrängung von Einkommensschwachen. Die Aufwertung der Quartiere bis zu dem Punkt, an dem sich viele das Leben hier nicht mehr leisten können, ist ein massives Problem. Wir haben mit mehreren Anwohnenden die Initiative „Unser Block bleibt!“ gegründet, weil die Häuser und Wohnungen unseres Straßenzugs verkauft werden sollen. Es wurden Planungen erstellt für die Edel-Sanierung, für den Edel-Ausbau von Dachgeschossen und für die Nachverdichtung unserer Hinterhöfe durch neue Wohnungen. Da werden für 70 Quadratmeter schon mal 3.000 Euro Miete aufgerufen.

fluter: Auch in Berlin gilt ein Mietspiegel, und es gibt Milieuschutzgesetze, die einen solchen Anstieg des Mietniveaus verhindern sollen.

Susanne: Ja, aber es gibt auch viele Tricks, wie das umgangen wird. Zum Beispiel indem Wohnungen möbliert und nur temporär vermietet werden, dafür aber mit Full Service. Da wird dann auch täglich geputzt und der Kühlschrank aufgefüllt. Mit dem Zuzug großer Tech-Unternehmen nach Berlin gibt es immer mehr Menschen, die sich solche Mieten leisten können. Auch der neue Eigentümer unseres Hauses, der das Thema Wohnen offenbar rein renditeorientiert betrachtet, kommt aus der Digitalbranche. Es wird auf Dauer schwer sein, diesen mächtigen Playern etwas entgegenzusetzen. Aber wir haben mit unserer Initiative zumindest mal erwirkt, dass einige der Zugezogenen gegen die überhöhten Mieten geklagt und gewonnen haben.

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Mustafa Uyar

Mustafa Uyar ist gelernter Frisör und betreibt seit Januar 2023 seinen beliebten Späti in der Anzengruberstraße

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Anja Dix

Anja Dix leitet ein Jugendschutzteam der Polizei, das sich um Gewaltfälle an Schulen im Ortsteil Gropiusstadt kümmert

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Mona Hamed

Mona Hamed hat vergangenes Jahr an einem Neuköllner Gymnasium ihr Abitur gemacht und möchte nun studieren

fluter: Ist es überhaupt möglich, die Dynamik eines solchen Bezirks an einem bestimmten Punkt einzufrieren, ohne die positiven Seiten der Veränderung einzubüßen?

Susanne: Was sind denn die positiven Seiten? Neue Bars, Läden und Clubs – schön und gut. Aber ich finde diese Veränderungen schon auch schwierig. Durch den Partytourismus ist es hier mittlerweile total überlaufen und vermüllt. Und es wird sehr kommerziell. In letzter Zeit kommen vor allem Burgerläden und Foodketten.

Ein älterer grauhaariger Herr stößt dazu und begrüßt die Runde mit einem vergnügten „Hallo, ich bin der Helmut vom Sandmann“. Das ist Helmut Graeber, ein gebürtiger Neuköllner und langjähriger Gastwirt.

Helmut: Ich habe die ersten Jahre mit meinen Eltern hier in der Anzengruberstraße gewohnt. Statt Spielplätzen gab es damals Kohlenplätze, wo Briketts zum Heizen verkauft wurden. Und es gab noch Trümmergrundstücke aus dem Zweiten Weltkrieg, auf denen wir als Kinder herumgeklettert sind. Neukölln war damals noch ein richtiger Arbeiterbezirk.

fluter: Der Zuzug von türkischen Menschen, die später das Bild von Neukölln mitprägten, begann in den 1970er-Jahren. Wie hast du das erlebt?

Helmut: Wir hatten schon in den Sechzigern einen türkischen Nachbarn im Haus. Ich habe ihn vor ein paar Jahren wiedergetroffen, er konnte sich noch dunkel an mich erinnern. Ein netter, zurückhaltender Kerl, der damals noch wenig Deutsch sprach.

fluter: In den 1990er-Jahren haben sich viele Zugewanderte aus arabischen Ländern in Neukölln angesiedelt. Wie war das Verhältnis zu diesen Menschen?

Helmut: In den Sandmann kamen sie nicht. Mir ist aufgefallen, dass viele der jungen Männer immer so mit breiter Brust über die Gehwege liefen, dass man sich regelrecht an ihnen vorbeischlängeln oder die Straßenseite wechseln musste. Platz haben sie jedenfalls nicht gemacht. Das hat sich in den letzten Jahren durch die vielen Hipster wieder gebessert. Es ist jetzt durchmischter, was vermutlich gerade auch für die Frauen positiv ist.

„Einerseits wird Neukölln nach und nach so bürgerlich wie Prenzlauer Berg, andererseits ist auch neue Gewalt hinzugekommen“

Boris: Ich erlebe die Araber insgesamt als sehr nette Menschen. Nur ein Beispiel: Als mein Auto mal nicht ansprang, hat das so ein arabischer Ladenbesitzer mitgekriegt. Und was macht er? Er hält mir direkt seinen Autoschlüssel hin und sagt: Hier, nimm mein Auto! Hä? Ich kannte den überhaupt nicht. Das würden die meisten Deutschen doch nicht machen. Allerdings muss ich sagen: Eine negative Erfahrung habe ich auch. Man hat mich mal mit einer Waffe bedroht! Vielleicht lag es an meinem auffälligen Auto, einem Oldtimer. Jedenfalls kam von hinten ein Wagen, hielt neben uns, die Scheibe wurde runtergekurbelt, und dieser Typ hält mir seine Waffe ins Gesicht. Die Heidi, meine Frau, saß neben mir und schrie: Fahr los, fahr los! Keine Ahnung, warum die das gemacht haben. Ich denke, es waren irgendwelche pubertierenden Jungs.

Helmut: Vielleicht so ähnlich wie die Kerle, die neulich im Columbiabad ziemlich Rabatz gemacht haben.

Im Frühsommer hat Neukölln mit Prügeleien im Freibad für Schlagzeilen gesorgt. Die Badeanstalt am Columbiadamm war danach erst mal für einige Tage geschlossen. Die gestressten Angestellten hatten sich in großer Zahl krankgemeldet.

Mustafa: Einerseits wird Neukölln nach und nach so bürgerlich wie Prenzlauer Berg, andererseits ist auch neue Gewalt hinzugekommen. Früher gab es viel Taschendiebstahl und so was. Aber seit viele Menschen vor Kriegen hierhin geflüchtet sind, kommt es nach meiner Beobachtung öfter zu harter Gewalt – Messerstechereien und so. Das sind so 20-jährige Jungs, die im Krieg ziemlich durchgedreht sind. Wer hier aufgewachsen ist, weiß, was am Ende passiert, wenn man Gewalt anwendet. Dann kriegst du eine Strafe. Aber die Leute, die da jetzt aus dem Krieg kommen, denen ist es vielleicht egal, ob die von der Polizei mitgenommen werden.

fluter-Runde auf dem Bürgersteig vor Mustafas Anzen-Späti
Die Spätkaufs – im Volksmund Spätis – gehören in Berlin zum Stadtbild. Hier sitzt die fluter-Runde vorm Anzen-Späti

Mustafas Diskussionsbeitrag sorgt bei anderen am Tisch sichtlich für Skepsis. Es meldet sich eine weitere Person zu Wort, die erst vor ein paar Minuten dazugestoßen ist und mit der wir eigentlich über ein ganz anderes Thema sprechen wollten: Antke Engel vom Verein Gender/Queer e. V.

Antke: Ich schalte mich einfach schon mal ein, wenn es okay ist. Ich kann das in Bezug auf geflüchtete Menschen nicht so genau beurteilen. Mit Sicherheit sind das nicht alles „traumatisierte Gewalttäter“. Viele sind sicher sehr friedfertige Menschen. Aber es stimmt, dass Traumatisierung etwas mit dir macht. Meines Wissens gibt es für Menschen, die viel Gewalt erfahren haben, vor allem zwei Möglichkeiten: Sie richten sie gegen sich selber oder reproduzieren die Gewalt nach außen. Außerdem möchte ich bitte ergänzen: Ich finde es sehr schwierig, wenn verallgemeinernd gesprochen wird. Oder wenn aus einzelnen Beispielen etwas angeblich „Typisches“ einer ganzen Bevölkerungsgruppe abgeleitet wird. Oder wenn überhaupt Bevölkerungsgruppen wie „die Schwulen“, „die Araber“ benannt werden, als seien dies einheitliche Gruppen.

fluter: Laut Artikeln in Medien und Polizeiberichten gibt es eine Zunahme von Übergriffen auf queere Menschen. Kannst du das bestätigen?

Antke: Ich denke, dass es auch früher viele Vorfälle gab, die aber gar nicht erhoben wurden. Und dass es je nach Stadtteil unterschiedlich ist, ob Menschen Vorfälle der Polizei melden. Oder auch umgekehrt: wo die Polizei proaktiv eingreift. Was am Ende in Statistiken zu sehen ist, ist immer auch Ausdruck von gesellschaftlichen Hierarchien und Spannungsverhältnissen, die auch medial beeinflusst sind. Die Frage ist auch: Wo fängt Gewalt an? Viele fiese Vorurteile gegenüber Schwulen, Lesben und Transpersonen gibt es eher in gutbürgerlichen Wohnquartieren. Aber ich will hier auch keine Gewalt kleinreden. Es gibt natürlich Übergriffe, und Menschen wurden sogar zusammengeschlagen. Das ist großer Mist. Aber es gibt hier auch queere Supportstrukturen. Menschen, die gemeinsam dafür sorgen, dass im Falle von Diskriminierung und Übergriffen darauf reagiert wird.

Unter den Sonnenschirmen vor dem Anzen-Späti macht sich zunehmend Talkshow-Atmosphäre breit. Wären da nicht immer wieder diese krassen Lärmbelästigungen. In diesem Moment lässt ein vorbeifahrendes Motorrad den Motor derartig im obersten Drehzahlbereich kreischen, dass es für einige Sekunden den Neuköllner Gesamtlärm komplett übertönt.

fluter: Ziehen queere Personen wegen dieser Neuköllner Offenheit gezielt hierher, Antke?

Antke: Ja, aber es geht auch schlicht um die Frage, wo findest du Lover_ innen? Wo gibt es mehr als nur eine Person, die du begehren könntest? Da müsste ich jetzt wahrscheinlich auf dem Dorf ganz schön suchen. Hier habe ich viele Orte, wo das möglich ist.

fluter: Wie ist die Akzeptanz vonseiten migrantischer Milieus für euer gesellschaftspolitisches Anliegen?

Antke: Teile der migrantischen Community sind auch Teil unseres Projektes. Migrantische Communitys sind ja sehr heterogen. Da gibt es schwule, lesbische und trans Personen und von radikal rechts bis radikal links auch das ganze politische Spektrum. Auch innerhalb der queeren Community kommt es zu Rassismus und Ableismus. Aber abgesehen von diesen Problemen sehen wir in der Vielfalt der Perspektiven, die es hier in Neukölln gibt und die sich auch aneinander reiben, ein erhebliches Potenzial: Man kann gemeinsam überlegen, wie das konstruktiv genutzt werden kann. Und das funktioniert hier in Neukölln vergleichsweise gut. Es gibt da so eine Konfliktfreude. Zum Beispiel ist es doch auch super, wenn sich Leute wie in Susannes Block zusammenschließen und etwas gegen die Verdrängung tun.

Boris: Es gibt noch etwas, woran man sieht, wie viel so eine Gemeinschaft erreichen kann. Das Tempelhofer Feld ist doch das beste Beispiel. Der Senat dachte: Kein Problem, das kriegen wir hin mit der Teilbebauung. Aber dann ist dieser massive Protest entstanden. Das war eine tolle Stimmung nach diesem Volksentscheid, der die Bebauung des Flugfeldes unterbunden hat. Wie viele Menschen da auf den Beinen waren und gejubelt haben!

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Susanne

Susanne wehrt sich im hippen Reuterkiez mit der Initiative „Unser Block bleibt!“ gegen Gentrifizierung

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Antke Engel

Antke Engel engagiert sich mit dem Verein Gender / Queer e. V. für die Gleichberechtigung queerer Menschen

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Boris Baberkoff

Boris Baberkoff lebt seit vielen Jahren in der Anzengruberstraße. Er liebt Neukölln und beobachtet die Veränderungen hier aufmerksam

Nun ist erst mal Mittagspause. Eine Stunde später, Mustafa richtet gerade noch die Sonnenschirme neu aus, nähert sich auch schon eine blonde Frau dem Tisch. Es ist die Polizistin Anja Dix, die überpünktlich zum Treffen erschienen ist. Also fangen wir das Gespräch gleich an.

fluter: Du bist Präventionsbeauftragte der Polizei. Was macht man da genau?

Anja: Wir gehen in Schulen und reden mit den Kindern in Informationsveranstaltungen darüber, wie man ohne Gewalt Konflikte löst. Wir beantworten auch Fragen wie: Was hat es auf sich mit dem Recht am eigenen Bild? Oder: Wie sieht es mit dem Versenden von Nacktfotos aus?

Anja Dix ist in Zivil gekommen, aber auch so strahlt sie eine gewisse polizeiliche Autorität aus. Man kann sich gut vorstellen, wie sich in Schulklassen alle zusammenreißen und plötzlich Ruhe herrscht, wenn sie den Raum betritt.

fluter: Auf deinem Abschnitt habt ihr ein Jugendschutzteam eingeführt. Wie kam es dazu?

Anja: Wir haben schon vor der Pandemie festgestellt, dass die Gewalt an den Schulen intensiver wird. Die Fälle waren teilweise so heftig, dass wir uns nicht erklären konnten, wie Kinder und Jugendliche sich so etwas antun können. Das Team besteht aus drei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die an die Schulen gehen und normenverdeutlichende Gespräche mit den tatverdächtigen Kindern oder Jugendlichen führen – also Gespräche, die den Beteiligten vor Augen halten, nach welchen Werten diese Gesellschaft funktioniert und welche Regeln für das Zusammenleben wichtig sind. Wenn die Polizei ihnen dies noch einmal klar vor Augen hält, dann macht das schon Eindruck. Für diese Einsätze braucht man geeignete Kolleginnen und Kollegen, die Lust darauf haben, mit den Kids zu arbeiten. Hinzugekommen ist, dass wir die Eltern nun gleich mit ins Boot holen. Gerade Eltern von Kindern, die herausforderndes Verhalten zeigen, sind häufig nicht greifbar für die Schule. Wenn die Schule aber sagt: „Die Polizei ist hier und will mit Ihrem Kind reden“, dann kommen sie.

„Wir haben hier ja Schulen, an denen annähernd hundert Prozent der Kinder eine Migrationsgeschichte haben“

fluter: Was ist anders geworden an der Gewalt in Schulen, wie hat sie sich in den letzten Jahren verändert?

Anja: Nach unserer Beobachtung ist sie nicht nur mehr, sondern teilweise auch brutaler geworden – und die Tatverdächtigen werden immer jünger. Letzte Woche haben wir von einer Lehrerin ein Video zugeschickt bekommen, in dem ein Zehnjähriger seine kleine Katze quält, das Ganze aufgenommen und in den Klassen-Chat geschickt hat. Auf Instagram gibt es einen richtigen Wettbewerb, da will man sich dann gegenseitig überbieten, noch eine Stufe härter sein.

fluter: In manchen Medien wird ein Zusammenhang zwischen Migrationsbiografie und Straffälligkeit hergestellt. Wie siehst du das aus deiner Perspektive als Leiterin des Jugendschutzteams?

Anja: Das kann ich schlecht sagen, wir haben ja sehr viele Schulen, an denen annähernd hundert Prozent der Kinder eine Migrationsgeschichte haben. Wie soll ich da beurteilen, ob die dortige Gewalt etwas damit zu tun hat? Es wird auch häufig vergessen, dass auch die Opfer eine Migrationsgeschichte haben.

fluter: Spielt denn die Kultur der Familie eine Rolle, etwa wenn Mädchen sehr streng religiös erzogen werden?

Anja: Wir haben mit Menschen zu tun, wo ganz klar ist, dass manche Ansichten in den Familien zu Konflikten führen. Wir haben zum Beispiel immer wieder Fälle, wo Mädchen, weil sie meinen, verliebt zu sein, Nacktfotos von sich verschicken, und der Junge, der die erhält, damit droht, sie dem Vater des Mädchens zu zeigen, wenn sie nicht mit ihm Sex hat. Nach so einer sexuellen Nötigung haben wir einmal eine Veranstaltung mit Zehntklässlerinnen gemacht und darüber gesprochen, wie es ihnen in den Familien geht und wie frei sie sich in Beziehungsfragen entscheiden können. Viele der Mädchen haben gesagt, ihre Eltern und Brüder gucken schon, was sie machen, und sie dürfen nicht mit jedem Jungen reden oder eine Beziehung eingehen.

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Sonnenallee
In der Gegend rund um die Sonnenallee trifft man auf viele Menschen, die ihren eigenen Style kreieren

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Bürgersteig

Der Bürgersteig dient dem Späti als Terrasse. Wenn Bedarf ist, werden schnell Tische und Stühle aufgestellt

Ein junger Mann in blau-schwarzem Hemd kommt schnellen Schrittes an den Tisch. Er ist spät dran. Es ist der Schauspieler Hassan Akkouch, der in Neukölln groß geworden ist. Der Dokumentarfilm „Neukölln Unlimited“ begleitete seine Familie, nachdem sie rechtswidrig abgeschoben wurde, drei Jahre lang. Mittlerweile ist er bekannt durch Serien wie „4 Blocks“.

fluter: Anja hat gerade erzählt, dass die Gewalt an Schulen steigt. Hassan, du bist hier in Neukölln zur Schule gegangen, war das damals auch schon so?

Hassan: In der Grundschule habe ich das nicht bemerkt. Auf der höheren Schule gab es zwar mal Auseinandersetzungen, aber die kann ich an einer Hand abzählen. Ich war aber auch auf einer Schule, die stark gefördert und subventioniert wurde. Bei meinem kleinen Bruder war es anders, der ist oft von der Schule geflogen. Der ist aber aus einer anderen Generation. Er ist Jahrgang 94, ich bin Jahrgang 88.

Anja: Ja, von Generation zu Generation wird es gefühlt immer schlimmer.

fluter: Warum nimmt die Gewalt denn eigentlich zu?

Anja: Die Frage kann ich nicht in einem Satz beantworten, darüber müsste man eine wissenschaftliche Studie machen. Ich habe nur die Vermutung, dass das Internet wie ein Brennglas wirkt.

Hassan: Also Cybermobbing auf der einen Seite, und auf der anderen machen die das für den Fame?

Anja: Wir haben mit richtigen Demütigungsvideos zu tun. Da wird zum Beispiel ein Junge gezwungen, aus der Toilette zu trinken, und dabei die ganze Zeit sein Gesicht gefilmt. Zwischendurch bekommt er immer wieder Schläge. Manche nutzen Gewaltvideos, um ihre Brutalität öffentlich darzustellen.

In der Runde herrscht für ein paar Sekunden betretenes Schweigen.

fluter: Hassan, für Leserinnen und Leser, die die Doku „Neukölln Unlimited“ nicht gesehen haben: Wie war die Situation deiner Familie damals?

Hassan: Meine Eltern sind 1990 als Schiiten aus dem Libanon geflohen. Zwölf Jahre später lief ein Verfahren, weil wir gegen die Entscheidung, uns abzuschieben, Widerspruch eingelegt hatten. Bis zur Gerichtsentscheidung hätten wir also nicht abgeschoben werden dürfen, wurden es aber trotzdem. Als wir am Tag der Abschiebung, der auch noch der Geburtstag meines Bruders war, die Polizisten gefragt haben, warum wir Deutschland verlassen müssen, haben die geantwortet: „Die Flüge waren günstig.“ Als wir dann nach sechs Wochen aus dem Libanon über verschiedene Länder zurückkamen, war die Duldung immer noch gültig. Meine Mutter ist einfach in die Ausländerbehörde gegangen und hat sie verlängert.

fluter: Wie hat denn die Schule reagiert, als ihr zurückgekommen seid?

Hassan: Die Schule meiner Schwester wusste, dass wir abgeschoben wurden, und hat sogar Demos dagegen organisiert. Meiner Schule hat die Ausländerbehörde erzählt, dass wir während der Schulzeit bei einer Tante in Dortmund Urlaub machen. Als ich in den Unterricht gegangen bin, hat meine Lehrerin gesagt: (macht einen strengen Ton nach) „Na, wo warst du die sechs Wochen?“ Als ich ihr gesagt habe, wir wurden in den Libanon abgeschoben, hat sie geantwortet: „Du lügst, du warst schön Urlaub machen in Dortmund. Setz dich hin.“

fluter: Du hast als Jugendlicher die ganzen Behördengänge gemacht, warst Schülersprecher, ehrenamtlich tätig und hast auch noch als Tänzer gearbeitet. Wie hast du das alles geschafft?

Hassan: Ich war schon immer ein ambitioniertes Kind. Erst habe ich Fußball gespielt, später mit Breakdance angefangen und auch meine Geschwister mitgenommen. Bei mir gab es immer eine Veranlagung für das Künstlerische. Bei meinem kleinen Bruder ist es anders gelaufen. Den hat die Abschiebung an seinem Geburtstag richtig aus der Bahn geworfen. Aber jetzt ist er Rettungssanitäter. Bei jedem von uns hat sich diese Erfahrung anders ausgewirkt: Meine Schwester hatte Bulimie, und ich war jahrelang fast apathisch und habe nur funktioniert.

fluter: Es war für eure Familie der Normalzustand, dass man sich von einer Duldung zur nächsten hangelt?

Hassan: Genau, diese sogenannte Kettenduldung. Ich habe immer das Gefühl gehabt, es wurde uns megaschwer gemacht. Während des Ramadan haben wir mal von 9 Uhr morgens bis 18 Uhr in der Ausländerbehörde gesessen und haben dort auf dem Boden das Fasten gebrochen. So wurde mit einem umgegangen.

fluter: Was bedeutet für dich der Begriff „Integration“?

Hassan: Früher wurde mir immer beigebracht, Integration sei, die deutsche Sprache zu lernen und sich anzupassen. Ich finde, das kann doch alles nebeneinanderlaufen. Ich muss nicht verheimlichen, dass ich Arabisch spreche oder mich gerne traditionell anziehe, um hier in der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Integration ist für mich: Man hält sich an die Gesetze hier, man spricht die Sprache, man ist ein Teil des Systems. Bestenfalls ist man irgendwie engagiert. Ich musste mein ganzes Leben beweisen, dass ich hierhergehöre. Das war eine alte Idee von Integration.

Die Abiturientin Mona Hamed und Lehrer Simon Klippert stehen nun vor dem Anzen-Späti. „Tachchen“, sagt Simon, „wir wollen euch nicht unterbrechen.“ Der SpäGi macht trotzdem eine kleine Pause für eine letzte Vorstellungsrunde.

Mona: Ich heiße Mona, habe letztes Jahr hier an einer Schule in Neukölln mein Abitur gemacht und chille gerade.

Simon: Mein Name ist Simon, und ich arbeite seit zehn Jahren an einer Neuköllner Schule als Lehrer. Ich habe auch 15 Jahre in Neukölln gewohnt, aber ich dachte, ich bekenne mich heute, ich bin vor zwei Jahren umgezogen. (Er zeigt dabei auf sein T-Shirt, auf dem „Krzbrg“ steht)

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Hassan Akkouch

Hassan Akkouch ist als Schauspieler bekannt aus „4 Blocks“. Er hat eine bewegte Kindheit und Jugend in Neukölln verlebt

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Helmut Graeber

Helmut Graeber ist kurz nach dem Krieg in Neukölln geboren worden und hat hier viele Jahre eine beliebte Kneipe bewirtschaftet

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Simon Klippert

Simon Klippert ist Lehrer an einer Neuköllner Schule und engagiert sich mit der Initiative „related“ für Bildungsgerechtigkeit

fluter: Neukölln ist in den letzten Jahren ein Medienphänomen geworden. Ist man als Ur-Neuköllner mittlerweile auch ein bisschen stolz, dass die Republik auf Neukölln guckt?

Mona nickt sofort.

Mona: Ich find’s schon cool, dass mein Bezirk in Filmen gezeigt wird. Aber wie er präsentiert wird, finde ich schwierig. Oft kommt das Klischee auf, dass Neukölln nur durch Gangs geprägt ist.

fluter: Ist dein Freundeskreis so divers, wie man es im Neuköllner Stadtbild sieht?

Mona: Mein Freundeskreis ist wirklich bunt durchmischt. Ich habe thailändische Freunde, arabische Freunde, türkische Freunde und deutsche Freunde ... Die meisten meiner Freundschaften sind in der Schule entstanden. Auf meiner Schule haben aber auch 90 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund.

fluter: Wie stark sind eurer Meinung nach die Themen Integration und Bildungsgerechtigkeit miteinander verknüpft?

Simon: Sehr stark! Die Aufgabe, die Jugendliche in Neukölln haben, um in der Schule erfolgreich zu sein, ist viel größer als für viele andere. Wir Lehrkräfte können aber schauen: Was bringen die Kids mit? Wenn die Leute noch eine andere Sprache als Deutsch sprechen, kann man das auch nutzbar machen. Bei uns an der Schule gibt es deswegen Türkisch, Kurdisch und Arabisch als Angebote.

Mona: Ich habe Arabisch gehabt und möchte jetzt International Business Management studieren. Aber die Voraussetzungen waren, dass ich außer Englisch noch Spanisch oder Französisch können muss. Ich muss jetzt noch einen Sprachkurs in einer der Sprachen machen, damit ich mich nächstes Semester bewerben kann. Arabisch wurde nicht anerkannt.

fluter: Was sind die größten Hindernisse, um hier gute Bildungsarbeit leisten zu können?

Simon: Einmal sind es strukturelle Dinge wie Gebäude, Ausstattung und Personal. Und das Zweite ist meiner Meinung nach die Haltung. Wenn man als Lehrkraft in Neukölln schon mit einer gewissen Vorstellung in die Klasse geht und dabei seine Rassismen und Sexismen eins zu eins an die Kinder weitergibt, dann hat man nicht verstanden, dass man erst mal seine eigene, meist privilegierte Rolle checken muss. Anders funktioniert das hier mit Sicherheit nicht.

„Die Menschen, die ich aus Neukölln kenne, haben sich über die Berichterstattung zu den Silvesterkrawallen aufgeregt“

fluter: Wie gehst du stattdessen an die Aufgabe ran?

Simon: Kinder brauchen die Schule auch als sozialen Ort, der ihre Interessen und Bedürfnisse sieht. Bei uns ist zum Beispiel der Nahostkonflikt für ganz viele Familien ein sehr persönliches Thema. Wir bieten deswegen einen zweijährigen Kurs dazu an und fahren am Ende auch dorthin.

Simon zeigt auf die Zigarettenschachtel, die auf dem Tisch liegt: Kann ich eine nehmen? (lacht)

Mustafa: Ja, klar. (reicht ihm die Schachtel)

Mona: Meine alte Klassenlehrerin war für mich wie eine zweite Mutter, weil ich mit ihr über viele Dinge reden konnte. Wenn ich meinen Freunden von anderen Schulen davon erzählt habe, meinten die immer, so etwas kennen sie nicht.

fluter: Man hört auch davon, dass es an den Schulen teilweise Probleme mit Jugendlichen gibt, die von anderen Seiten, etwa Moscheevereinen, indoktriniert werden. Mit Ansichten, die problematisch sind im Schulalltag. Kannst du das bestätigen? Hast du solche Dinge erlebt?

Simon: Dass wir in Neukölln auch menschenfeindliche Positionen finden, die sich auf den Islam berufen, ist ja wenig verwunderlich – hier leben einfach viele Muslime. Das kommt natürlich auch von Moscheegemeinden, aber ich denke, Social Media ist noch viel wirkmächtiger. Aus meiner Sicht ist es aber kein strukturelles Problem. Trotzdem verstehe ich es als meinen Auftrag, als Pädagoge da ins Gespräch zu gehen.

fluter: Nach den Silvesterkrawallen, bei denen auch Feuerwehrleute mit Böllern beschossen wurden, hat man in den Medien viel über die Gewaltbereitschaft der Neuköllner Jugend gesprochen. Wie habt ihr die Berichterstattung wahrgenommen?

Die Runde schweigt erst mal.

fluter: Hassan, willst du was sagen?

Hassan: Du meinst, weil ich so lange nichts mehr gesagt habe? (lacht) Da kam dann das alte, negative Image von Neukölln wieder zurück. Die Menschen, die ich aus Neukölln kenne, haben sich über die Berichterstattung aufgeregt. Es gab nämlich auch andere Leute, wie den Besitzer des Restaurants City Chicken. Die haben zwei Tage lang ein riesiges „Heldenmenü“ für einen Euro an Rettungskräfte verkauft. Feuerwehrleute und die ganzen Polizisten kamen und haben zwei Tage lang dort gegessen. Die Reaktion aus der Community heraus hat mich gefreut.

Nachbarin

Guter Blick auf den Gipfel: Die Nachbarin von gegenüber schaute uns wohlwollend beim Diskutieren zu

fluter: Ein großer Aufreger daran war die Verknüpfung mit der Frage nach der Herkunft. Würdest du das so sagen?

Hassan: Für Menschen, die hier leben mit einem sogenannten Migrationshintergrund, ist das natürlich ein großer Aufreger. Als das Attentat in New York 2001 passiert ist, stand ich im Bus und wurde dumm angeguckt, und ältere Damen haben ihre Handtasche auf der Rolltreppe festgehalten. Damals war ich vielleicht zwölf Jahre alt. Man hat immer Angst, dass gewisse Sachen auf einen zurückfallen.

fluter: Was wäre denn aus eurer Sicht eine adäquate Debatte über diese Silvesterkrawalle gewesen?

Simon: Ich denke, man hätte da differenzierter fragen können: Warum haben die Leute das gemacht? Warum sind die übergriffig gegenüber der Feuerwehr und der Polizei? Welche Rolle spielt die Gruppendynamik in so einer Gruppe von jungen Männern? Welche Rolle spielt Männlichkeit? Warum sind die Leute so wütend? Natürlich macht es einen Unterschied, woher jemand kommt, aber das sollte nicht die erste Frage sein.

Anja: Ich bin da total bei dir.

fluter: Das waren zum Teil Jugendliche, die auch eure Mitschülerinnen und Mitschüler hätten sein können. Wie habt ihr diese Ereignisse an eurer Schule aufgearbeitet?

Simon: Am 2. Januar ging die Schule wieder los, und das Erste, was wir gemacht haben, war, darüber zu reden. Ein paar Leute, die selbst schon Probleme mit der Polizei hatten, haben gesagt: „Ja, die Polizei ist ja auch nicht immer nur nett und so.“ Aber niemand hat gesagt, dass das gerechtfertigt war, was da passiert ist.

Anja: Ich habe von einer Schule leider die Rückmeldung bekommen, dass die Silvesternacht später noch gefeiert wurde.

Simon: Das tut mir leid. Das find ich richtig daneben.

Anja: Das war schon echt schlimm. Sechs meiner Kolleginnen und Kollegen sind zum Teil schwer verletzt worden. Die sind unter anderem mit großen Sprengsätzen beworfen worden. Vom Gefühl her muss das lebensbedrohlich für sie gewesen sein. Zum Glück ist nichts Schlimmeres passiert. Man muss aber klar sagen, das war natürlich nicht die breite Masse, die das später gefeiert hat.

fluter: Es sind nicht alle, und trotzdem spricht ganz Deutschland über die Jugendlichen in Neukölln. Mona, wie war es für dich, dass über euch so gesprochen wurde?

Mona: Über uns wird ja nicht nur wegen dieser Nacht gesprochen. Über uns wird die ganze Zeit gesprochen. Manche stellen diese Sachen an, die absolut nicht okay sind, aber alle werden in eine Schublade gesteckt.

Dieser Text ist im fluter Nr. 88 „Neukölln” erschienen

fluter: Nach dem Negativen – was gefällt euch denn gut in Neukölln?

Anja: Ich habe hier wahnsinnig viele tolle, engagierte Menschen kennengelernt, das ist auch ein Grund, warum ich die Präventionsarbeit so liebe.

Mona: Neukölln ist mein Zuhause, und ich liebe es, weil ich hier aufgewachsen bin. Die Leute sind hier einfach extrem offen und nett, man fühlt sich überall willkommen.

Simon: Ich würde sagen, Neukölln steht für mich für Veränderung, für Energie – hier ist was los. Für irgendwie Miteinander-Klarkommen, auch wenn’s nicht immer so einfach ist. Und das mag ich.

fluter: Was kann Deutschland von Neukölln lernen?

Mona: Ich würde sagen: Diversität. Wenn ganz Deutschland genauso eingestimmt wäre wie die Welt hier in Berlin, dann wäre alles in Deutschland ein bisschen besser.

Hassan: Mit all den Leuten, die hier aus Neukölln gekommen sind, die auch schon viel geleistet haben für diese Gesellschaft, sieht man einfach, dass hier auch ein Boden ist, um gut wachsen zu können, und nicht nur Sumpf.

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