Das Namensschild an der Türklingel ist schon vollständig: Lama Yahia und Aziz Assad. Doch noch immer lebt der 28-Jährige alleine mit seinem Kater Lino in der Zweizimmerwohnung in der Osnabrücker Innenstadt. An der spärlichen Einrichtung hat sich seit seinem Einzug vor gut vier Monaten kaum etwas getan. „Meine Frau sagt, ich soll nichts kaufen, bis sie kommt und beim Aussuchen hilft“, erzählt Aziz. Er lacht.

Zwischen Aziz und seiner Frau Lama liegen noch immer etliche Ländergrenzen. Der Syrer musste seine Heimat verlassen, weil er um sein Leben fürchtete. In Osnabrück ist er nun sicher, doch Familie, Freunde und die Liebe ließ er zurück. An einem Mittwochvormittag im Oktober hält Aziz seinen Kater in den Händen, streichelt ihn und freut sich darüber, dass das Tier so zutraulich und verständnisvoll ist. „Wir verbringen viel Zeit miteinander“, sagt Aziz.

Kurzer Rückblick: Völlig übermüdet und ohne Gepäck landet Aziz im Sommer vergangenen Jahres auf dem Frankfurter Flughafen. Er hat ein Vermögen für Schleuser ausgegeben, damit sie ihn nach Deutschland brachten. Sein neues Leben beginnt in einem thüringischen Erstaufnahmelager. Dort hält er es wegen der widrigen Lebensbedingungen und der menschlichen Kälte in der Nachbarschaft kaum aus. Er wäre lieber in der Nähe seiner Freunde geblieben, hat aber auch Verständnis dafür, dass die Behörden ihn in ein anderes Bundesland geschickt haben. Der sogenannte Königsteiner Schlüssel sorgt dafür, dass Flüchtlinge nach einer bestimmten Quote über die Bundesrepublik verteilt werden.

Sechs Monate wartet Aziz, bis sein Asylantrag bei den Behörden durchgeht. Dann entscheidet er sich, sein Glück in Osnabrück zu versuchen, wo bereits einige seiner Verwandten leben. Er ist nun ein anerkannter Flüchtling, hat eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre, darf arbeiten und wird finanziell vom Jobcenter unterstützt, bis er eine Arbeit gefunden hat.

Hauptsache, etwas tun – gegen das Kopfkino

In Niedersachsen hat er einige Monate nach seinem Umzug zumindest ein bisschen seinen Frieden gefunden. Auf dem Sofa liegen Grammatikhefte und ein Collegeblock mit deutschen Vokabeln, daneben ein dickes Buch: die „Chronik der Stadt Osnabrück“. Jeden Morgen steht er früh auf und lernt, bevor um 12 Uhr der Sprachunterricht beginnt. Er mache Fortschritte, sagt Aziz. Neulich, als er krank war, habe er mit dem Doktor auf Deutsch gesprochen. An der Uni hat er sich als Gasthörer eingeschrieben und besucht eine Vorlesung über Arbeitsmigration, allerdings erstmal auf Englisch.

Er hat Pläne. Bald will er eine Ausbildung als Informatiker beginnen und später vielleicht Geschichte studieren. Bis dahin könnte er sich gut einen Minijob vorstellen. „Damit ich öfter mal aus dem Haus komme“, erklärt Aziz. Hauptsache, etwas tun – gegen das Kopfkino vom Krieg, gegen die schlimmen Erinnerungen an die Luftangriffe. Jedes Mal, wenn ein Hubschrauber oder ein Flugzeug vorüberfliegt, schaue er reflexartig in die Luft. Früher hat eine solche Reaktion ihm möglicherweise das Leben gerettet, heute ist es ein Symptom, das Schlimmeres für seine Gesundheit vermuten lässt. Der junge Mann wirkt nach außen fröhlich und ausgeglichen, strahlt Lebensfreude und Zuversicht aus. Doch Aziz hat die Erlebnisse aus seiner Heimat noch nicht ganz verdaut, er ist manchmal depressiv.

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Aziz schaut in den Himmel (Christian Protte)

Aziz hat viele Pläne: Am liebsten will er ganz bald eine Ausbildung als Informatiker beginnen.

(Christian Protte)

Dazu kommt die Einsamkeit. Daran versucht er möglichst wenig zu denken. „Das Warten ist hart“, sagt Aziz. Er lenkt sich ab, nicht nur mit Vorlesungen und Deutsch lernen. Vor Kurzem sei er zum Beispiel auf einer Demonstration für Flüchtlinge gewesen. Er habe sich gefreut, dass die meisten Deutschen die Tausenden Neuankömmlinge mit so viel Wärme und Freundschaft empfangen haben. Und die Osnabrücker seien in den vergangenen Wochen noch netter zu ihm gewesen als ohnehin schon. Doch er macht sich Sorgen, ob das Land tatsächlich alle aufnehmen kann. Er hofft, dass die Stimmung nicht irgendwann kippt und es mit der Freundlichkeit vorbei ist.

Auch immer mehr seiner Freunde fliehen vor dem Krieg. Erst vor wenigen Wochen sei sein Schwager nach Deutschland gekommen. Ungefähr zehn Tage habe er gebraucht, um aus Syrien über die Türkei, Griechenland, Albanien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich schließlich ins saarländische Lebach zu gelangen. Für dieses Bundesland habe er sich entschieden, weil die Asylanträge dort mit am schnellsten bearbeitet würden. Deshalb hat er sich auch dort erst als Asylsuchender zu erkennen gegeben und einen Antrag gestellt.

Nun lebt der Schwager in einem großen Zelt, erzählt Aziz. „Nicht angenehm, aber Hauptsache, in Sicherheit.“ Vielen gehe es wie ihm selbst damals bei seiner Ankunft. Den Flüchtlingen sei nicht klar, welche Funktion die ganzen zuständigen Behörden haben und zu welchen Ämtern sie gehen müssen, sobald sie das Erstaufnahmelager erreichen. Das bürokratische System habe er inzwischen besser verstanden, und Aziz will seinem Schwager und den eintreffenden Freunden so gut es geht helfen. Auch bei so vermeintlich einfachen Fragen wie nach dem günstigsten Handy-Tarif.

 

Kurz vor zwölf packt Aziz rasch seine Sachen für den Deutschkurs zusammen. Kater Lino bekommt noch eine Schale Trockenfutter. Bald werde er mit seiner Frau zusammen diese schwierige Sprache mit den verwirrenden bestimmten und unbestimmten Artikeln lernen. Dann werden auch endlich Vorhänge an die Fenster kommen, neue Unterschränke in die Küche und ein paar Bilder an die Wände. Bis sie da ist, bleibe sein Leben ein Chaos, sagt Aziz.

Bis seine Frau da ist, bleibt Aziz' Leben ein Chaos

Lama hat in der Ukraine Zahnmedizin studiert und wollte längst zu ihrem Mann nach Deutschland kommen. Seit vielen Wochen versuchen die beiden, ein Visum für sie zu bekommen – eins, das getrennte Familien wieder vereinen soll. Doch bisher will die deutsche Botschaft in Kiew ein solches Dokument nicht ausstellen. Aziz vermutet, die Behörden bezweifeln, dass die beiden tatsächlich richtige Eheleute sind. Mehr als drei Jahre haben sie sich außer in Skype-Telefonaten nicht mehr gesehen. „Dann können wir auch noch drei Monate warten“, sagt Aziz.

So geduldig, wie das klingt, ist er aber nicht. Er und seine 24-jährige Frau machen sich Gedanken. Aziz hat kein Problem damit, offen darüber zu reden. Sollte es Lama nicht vielleicht auf anderem Wege versuchen, falls das mit dem Visum ewig so weitergeht? So, wie er selbst vor mehr als einem Jahr und Hunderttausende ihrer Landsleute: auf illegalen Wegen, mit gefälschten Papieren und Schleusern über die Grenzen Europas. Aziz und Lama geben jedenfalls nicht auf und sind optimistisch, sich bald wieder in den Armen zu halten.

In der dritten Folge möchten wir unbedingt vom glücklichen Wiedersehen und ihren gemeinsamen Zukunftsplänen berichten.

Titelbild: Christian Protte