Mit Aziz durch Osnabrück zu laufen, hat etwas von einer Stadtführung: Das war mal ein Museum, das ist die Villa Schlikker, die gerade neugestaltet wird, dort drüben ist das Heger Tor… Unermüdlich gestikuliert und erzählt Aziz. Erst seit März 2015 lebt er hier, doch er kennt sich besser aus als mancher, der hier aufgewachsen ist. Einige der kleinen, engen Gassen in der Altstadt würden ihn an seine Heimat erinnern. „Aber eigentlich fühle ich mich mit Osnabrück schon mehr verbunden, als mit meinem Geburtsort“, sagt er.
Seine Heimat, das ist die syrische Stadt Salamiyya. Aziz Assad ist 2014 geflohen: Zunächst in die Türkei, dann über das Meer nach Griechenland und mit gefälschten Papieren weiter nach Deutschland – Schleusern bezahlte er unterwegs jede Menge Geld, um weiterzukommen. Die ersten Monate in Deutschland verbrachte er in einer Einrichtung in Thüringen, „fürchterlich war das“. Schließlich zog er nach Osnabrück in die Innenstadt.
„Die Küche besteht jetzt auch aus mehr als einem Wasserkocher und einer Fritteuse“
Eine Zeitlang konnte man sich bei seiner Wohnung nicht sicher sein, ob gerade ein- oder ausgezogen wird. Bis Lama kam und sich der kahlen Räume annahm. Seit November 2015 wohnt Aziz gemeinsam mit seiner Frau in der Zwei-Zimmer-Wohnung. Im Flur hat sie ein Bild einer knallpinken Blüte aufgehangen, „Every day may not be good… But there’s something good in every day“ steht darauf. Auf dem schwarzgrauen Sofa liegen bunte Kissen, eine Stehlampe wirft warmes Licht an die Wohnzimmerdecke, auf dem Tisch steht eine Obstschale. Alles Anschaffungen von Lama. „Die Küche besteht jetzt auch aus mehr als einem Wasserkocher und einer Fritteuse“ – Aziz grinst zufrieden.
Der 29-Jährige arbeitet immer noch bei der Stadt Osnabrück. Zuerst war er dort als Bundesfreiwilligendienstleistender (Bufdi) in der Flüchtlingshilfe und hat anderen Geflüchteten mit Übersetzungen geholfen oder ihnen bei speziellen EDV-Angeboten assistiert. Seit Oktober 2016 ist er in der IT-Abteilung und nimmt an einer Einstiegsqualifizierung teil, um, so hofft er, im Anschluss eine Ausbildung machen zu können. Möglich ist das durch ein Pilotprojekt der Stadt.
Aziz reichte eine Mappe mit Lebenslauf und Motivationsschreiben ein. Anschließend wurde er zu einem Gespräch eingeladen, bei dem ihm zwölf Personen gegenüber saßen. In Syrien hat Aziz Informationstechnik studiert. Wegen des Krieges musste er sein Studium nach zwei Jahren abbrechen. „Ohne Abschluss ist es natürlich nicht einfach, hier einen Job zu finden“, erklärt Aziz. Deshalb schrieb er sofort begeistert eine Bewerbung, als er von der Einstiegsqualifizierung hörte und davon, dass diese die Chancen auf einen Ausbildungsplatz erhöhen soll. Und dann auch noch im IT-Bereich! Obwohl ihn beim Gespräch manche Frage überrascht hätte, scheint er alles richtig gemacht zu haben – er wurde genommen.
Aziz und Lama sind zufrieden – und viel beschäftigt
Wenn das Bauamt oder sonst eine Abteilung der Stadt neue Rechner oder Drucker braucht, ist Aziz seitdem zur Stelle. Er installiert Programme, kümmert sich um Anwendungsfehler und streikende Drucker. Finanziell kommen er und Lama über die Runden. „Wir müssen natürlich Prioritäten setzen. Ich bräuchte eigentlich einen neuen Laptop, allerdings macht mir mein einer Zahn auch Probleme. Beides kann ich nicht bezahlen“, erzählt Aziz. Dennoch: Sie sind zufrieden. Und vor allem sind sie viel beschäftigt.
Unter der Woche verlässt Aziz normalerweise um 7.30 Uhr die Wohnung, und kommt abends gegen 18 Uhr wieder nach Hause: Morgens ist Aziz bei der Stadt, danach findet sein Deutsch-Sprachkurs statt, inzwischen lernt er auf dem Fortgeschrittenen-Niveau B2. Nebenbei arbeitet Aziz weiterhin mit einem Geschichtsprofessor an einer Chronik der Stadt – daher rührt auch sein Stadtführer-würdiges Wissen.
Rund 65 Seiten Text über die Geschichte Osnabrücks habe er inzwischen ins Arabische übersetzt. Ihm, dem Geschichtsbegeisterten, macht die Arbeit viel Spaß, auch wenn sie manchmal sehr mühsam sei. „Ich habe mal drei Tage für ein einziges Wort gebraucht“, erzählt er. Aziz zeigt den Chatverlauf mit seiner Nachbarin und Freundin Marie. Lauter Nachrichten, die sich damit beschäftigen, was „Katzenjammer“ und „kuschen“ bedeuten sollen. „Als ich es verstanden habe, musste ich mir natürlich überlegen, wie ich das am besten ins Arabische übersetzen kann.“ In solchen Fällen kontaktiert er einen anderen Freund, „ein Experte der arabischen Sprache“.
Ihre Hoffnungen: ein Praktikum, ein Ausbildungsplatz und ein Zimmer mehr
Lama schaut Aziz mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Amüsement an, als er davon erzählt. Ihre Sache scheint die Chronik der Stadt nicht zu sein – ohnehin ist auch ihr Tag voll genug. Sie besucht einen Sprachkurs und arbeitet als Bufdi in einem Jugendzentrum mit jungen Migrant*innen, denen sie zum Beispiel bei den Hausaufgaben hilft oder sie bei Behördengängen begleitet. „Ich übersetze vor allem viel für sie. Ich mag diese Arbeit“, sagt die 25-Jährige.
Lama hat vor ihrer Flucht Zahnmedizin studiert. Ihren Traum, ihrem eigentlichen Beruf nachzugehen, hat sie nicht aufgegeben. Sie hofft, bald ein Praktikum bei einem Zahnarzt machen zu können. Aziz hofft, dass er im August dieses Jahres dann tatsächlich eine Ausbildung bei der Stadt beginnen kann. Und sie hoffen beide, bald in eine größere Wohnung ziehen zu können.
Im Haus, in dem sie jetzt wohnen, haben sie bereits eine Andere im Blick. „Sie hat ein Zimmer mehr. Das wäre ideal für uns“, erzählt Aziz. Allerdings müsste ihre Wunschwohnung erst frei werden, wirft Lama ein. Sie möchte nicht mehr zurück nach Syrien. „Dort müsste ich auch wieder ganz von vorne anfangen.“ Nur der ganze Regen störe sie immer noch. Es gebe ein syrisches Liebeslied, indem es heißt: „Wenn es im August regnet, höre ich auf, Dich zu lieben.“ „Wir sagen jetzt immer: Willst du dich trennen, geh nach Deutschland.“ Die Beiden lachen. Das machen sie eigentlich die ganze Zeit. Lama und Aziz wirken sehr glücklich.
„Klar, ich werde immer wieder auf die Situation in Syrien angesprochen. Auch Lama will mit mir darüber reden.“ Nur Aziz selbst möchte das nicht – er fühle sich zu macht- und nutzlos. „Ich werde sehr böse und traurig, wenn ich die Nachrichten sehe. Es sind nicht nur die Gebäude, die zerstört werden. Meine Erinnerungen werden es auch.“ Er versucht, die Nachrichten zu ignorieren, „aber das ist schwer.“ Die Frage, wo er seine Zukunft sieht, beantwortet er hingegen gern und ohne zu zögern: „Hier in Osnabrück!“ Da sind er und Lama sich einig.