Mein Job im EU-Parlament ist es, zu beobachten, ob bestimmte Akteure bewusst falsche Informationen verbreiten, um dem EU-Parlament zu schaden. Bei meinen Analysen unterscheide ich zwischen Fehlinformation und Desinformation. Eine Fehlinformation kann einfach eine Falschmeldung sein, hinter der keine bösartige Absicht steckt. Damit haben wir Analysten nichts weiter zu tun. Desinformationen hingegen sind falsche oder irreführende Informationen, die koordiniert verbreitet werden. Und zwar mit dem Ziel, Wahlen und demokratische Prozesse zu beeinflussen. Damit beschäftige ich mich dann genauer.
Wenn das Europaparlament etwas entscheidet, behalte ich die Diskussionen im Internet dazu im Blick, zum Beispiel die Reaktionen auf sozialen Medien oder Kommentare von ausländischen Regierungsvertretern, nachdem das Europaparlament Russland zu einem Staat erklärt hat, der terroristische Mittel einsetzt und Terrorismus Vorschub leistet. Die Diskussionen analysiere ich mithilfe von Programmen danach, ob sie Teil der demokratischen Debatte sind oder ob eine koordinierte Desinformationskampagne dahintersteckt. Also ob zum Beispiel sogenannte Bot-Netze, automatisierte Schadprogramme, aktiv sind. Oder ob ausländische Akteure die Debatte gezielt beeinflussen. Momentan geht es auch viel um Kampagnen oder Gefahren rund um die Europawahlen.
„Es geht oft auch grundsätzlicher darum, das Vertrauen in die EU-Institutionen, in die Demokratie und Wahlprozesse zu untergraben“
Für diese Analysen verwende ich nur öffentlich zugängliche Informationen. Es gibt Arten, wie sich Debatten im Internet natürlich entwickeln. Und wie es läuft, wenn eine Debatte absichtlich und geplant nach vorne gebracht wird. Dabei hilft es, dass wir in unserem Team aus ganz Europa kommen und viele Sprachen sprechen. Das macht außerdem Spaß, weil man gleichzeitig den eigenen Horizont erweitert. Das habe ich auch schon bei meinem vorherigen Job, als Datenanalystin bei der UNESCO, sehr geschätzt. Meist arbeiten wir auf Englisch, manchmal arbeite ich auf Deutsch. Ansonsten lese ich viel auf Französisch und Spanisch. Und ich lerne, in weiteren Sprachen zu lesen oder Schlagworte wie „Wahlmanipulation“ zu erkennen.
Als Nationen, die womöglich durch manipulierte Informationen Abläufe in der EU beeinflussen wollen, haben die Europaabgeordneten Russland und China eingestuft. Verschiedene Akteure haben ein Interesse daran, das politische System der Europäischen Union zu destabilisieren. Aber es geht oft auch grundsätzlicher darum, das Vertrauen in die EU-Institutionen, in die Demokratie und Wahlprozesse zu untergraben.
Einmal zum Beispiel hat eine große Anzahl von Accounts ein Video auf X (ehemals Twitter) und anderen Onlineplattformen verbreitet. Es zeigte einen Bundestagsabgeordneten, der Schnupftabak konsumiert. Das Video wurde aber so bearbeitet, dass man nicht mehr richtig erkennen konnte, wo die Szenen aufgenommen wurden. Der Titel des Videos suggerierte, dass ein Europaabgeordneter Kokain im Europaparlament zieht. So etwas kann Wahlentscheidungen beeinflussen. Auf jeden Fall fördert es kein Vertrauen in die EU. Weil das Thema so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, stellte unser Parlamentssprecher es öffentlich richtig.
Um Desinformationskampagnen nicht nur zu verfolgen, sondern ihnen vorzubeugen, haben wir uns auf die Europawahlen vorbereitet. Wenn eine Desinformationskampagne erst mal im Netz ist, ist es viel schwieriger, die Informationen wieder richtigzustellen, als im Vorfeld EU-Bürger:innen mit relevanten Infos zu versorgen.
„Es gibt ein Schnellwarnsystem, mit dem wir uns über Desinformationskampagnen austauschen und uns über Reaktionen auf diese abstimmen“
Also haben wir uns angesehen, welche Desinformationen es in den letzten Jahren bei nationalen Wahlen in den Mitgliedsländern gegeben hat. Dabei fiel uns auf, dass es sehr viele Desinformationen zu organisatorischen Details wie zur Briefwahl oder Onlineabstimmungen gab. Solche falsch verbreiteten Details werden gerne verwendet, um Zweifel zu säen, dass etwas nicht ganz rundläuft. Damit über die Europawahlen erst gar keine Unsicherheit entsteht, haben wir solche Informationen auf einer Webseite zu den Wahlen angegeben. Und wir haben eine Videoserie gedreht, die zeigt, wie man selbst Desinformationen erkennen kann.
Aber diese irreführenden Infos betreffen ja nicht nur das Europaparlament, sondern die EU generell. Deshalb arbeiten wir eng mit der Europäischen Kommission, dem Europäischen Auswärtigen Dienst und den 27 Mitgliedstaaten zusammen. Es gibt ein Schnellwarnsystem, mit dem wir uns über Desinformationskampagnen austauschen und uns über Reaktionen auf diese abstimmen. Es wurde zum Beispiel bei den letzten Europawahlen 2019 genutzt und um während der Corona-Pandemie gegen falsche Informationen anzugehen.
Manchmal sorgen sich Bürger:innen, dass das Europaparlament mit dem Beobachten von Desinformationskampagnen die freie Meinungsäußerung gefährden könnte. Aber in meiner Arbeit geht es ausschließlich darum, koordinierte Kampagnen zu verfolgen. Wenn es um das Löschen von Hassrede oder möglicherweise illegalen Inhalten geht, können das Bürger:innen mit dem neuen Gesetz über digitale Dienste (DSA) sogar selbst machen. Große Onlineplattformen sind jetzt dazu verpflichtet, nach einer Meldung solche Inhalte schnell zu entfernen.
Gleichzeitig denken manche, dass wir das Problem mit mehr Analysen oder mehr Ressourcen schnell lösen können. Das ist natürlich wichtig. Aber um erfolgreich gegen Desinformationen vorzugehen, ist die ganze Gesellschaft gefragt: Also Medien, Schulen und jede:r Einzelne müssen sich in Debatten einbringen.
Illustration: Renke Brandt