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Gelb vor Wut

Seit Wochen demonstrieren die Gelbwesten in Frankreich. Was bisher über die heterogene Bewegung bekannt ist

Wo kommen sie her?

Die „Gilets Jaunes“, auf Deutsch „Gelbwesten“, verstehen sich als Protestbewegung. Sie ist spontan entstanden, als Präsident Emmanuel Macron eine Steuererhöhung auf Benzin und Diesel ankündigte. Viele Menschen, die unter prekären Bedingungen auf dem Land leben und auf das Auto angewiesen sind, empfanden die Steuer als eine Zumutung. Ende Oktober rief der Lkw-Fahrer Éric Drouet über Facebook-Videos zu Protesten auf. Daraufhin veröffentlichten zahlreiche Gleichgesinnte Videos in den sozialen Medien, um ihre Unterstützung kundzutun.

Eines der Videos ging viral und bekam – völlig unerwartet – über fünf Millionen Klicks. „Wir haben alle eine gelbe Weste im Auto“, heißt es im Handyvideo. Wer wegen der Arbeit verhindert sei und nicht zu den Protesten kommen könne, solle die Weste als Zeichen der Unterstützung hinter die Windschutzscheibe legen. Wenig später war die gelbe Weste zum Zeichen und Namen des Massenprotests geworden. 

In den sozialen Netzen gibt es jedes Mal einen Aufschrei, wenn jemand sich als Vertreter*in der Gilets Jaunes ausgibt

Bekannt wurden die Gelbwesten nicht nur durch die Größe ihrer Proteste, sondern auch durch Sachschäden und Gewalt. In ganz Frankreich sind an den vergangenen Wochenenden Hunderttausende Gelbwesten auf die Straßen gegangen. In Paris und anderen Orten zündeten Demonstrierende Barrikaden und Autos an, schlugen Fensterscheiben ein und gerieten in Konflikt mit der Polizei. Allein letzten Samstag wurden 264 Menschen verletzt und über 1.700 festgenommen. Die Bilder von brennenden Autos, zerstörten Kunstwerken und Tränengaseinsätzen gingen um die Welt.

Wie mit ihnen verhandeln? Immer wieder gibt es Einzelne, die sich aus der Masse als Sprecher*innen hervortun, wie Éric Drouet, der Lkw-Fahrer, und Priscillia Ludosky, eine Kosmektikverkäuferin, die mit einer Petition für eine Senkung der Treibstoffpreise an den Zapfsäulen viel Unterstützung bekommen hatte. In den sozialen Netzen gibt es jedoch jedes Mal einen Aufschrei, wenn jemand sich als Vertreter*in der Gilets Jaunes ausgibt. Als die beiden mit sechs anderen Personen ein Gespräch mit dem Premierminister zusagen, müssen sie sich vor einem wütenden Online-Publikum rechtfertigen.

Wer sind die Gelbwesten?

Die Gelbwesten sind sehr heterogen. Einige hängen linken, andere rechten Ideen an. Wieder andere sagen von sich, dass sie eigentlich unpolitisch seien. Inzwischen haben sich kleine Abspaltungen gebildet, wie etwa die „Gilets Jaunes libres“, die „freien Gelbwesten“: Sie sprechen sich gegen Gewalt aus und wollen mit der Regierung verhandeln. Andere finden die Ausschreitungen als Zeichen der Revolte wiederum richtig. Schüler*innen tun sich zusammen und gehen in großen Gruppen auf die Straße. Bei einem „Marsch für das Klima“ am 8. Dezember angesichts der Weltklimakonferenz trugen auch die Öko-Demonstrant*innen gelbe Westen. 

Sowohl links- als auch rechtsradikale Politiker*innen versuchen, die Bewegung für sich zu vereinnahmen. „Ich unterstütze die Gelbwesten“, sagte die Vorsitzende der teils als rechtspopulistisch, teils als rechtsextrem eingeordneten Partei Rassemblement National (bis Juni 2018: Front National), Marine Le Pen, dem Fernsehsender BFMTV bereits am 26. November. 

Wodurch sich die Bewegung auszeichnet? Ihre Führungslosigkeit

Auch die linksradikale Partei La France Insoumise unter Jean-Luc Mélenchon solidarisiert sich mit den Gelbwesten, besonders in der Person des populären Abgeordneten François Ruffin, der in Videos seine Solidarität bekundet, an Protesten teilnimmt oder sie besucht. Abseits der Parteipolitik unterstützen auch Linksintellektuelle wie der Ökonom Frédéric Lordon oder der Schriftsteller Édouard Louis die Bewegung der Gelbwesten.

Die vielen Untergruppen und das Fehlen von Anführer*innen zeigen, dass die Bewegung sich gerade durch ihre Führungslosigkeit auszeichnet. Damit erklärt sich womöglich der große Zulauf aus allen Ecken. Es gibt nur eine gemeinsame Idee, die den Protest eint: Die Menschen sind gegen die Politik von Präsident Macron und verlangen mehr soziale Gerechtigkeit. Auffällig ist außerdem, dass besonders viele Menschen in ländlichen Regionen an den Protesten beteiligt sind.
 

 

Was wollen sie?

Die Arbeitslosenquote in Frankreich liegt aktuell bei 9,1 Prozent – und ist damit fast dreimal so hoch wie in Deutschland. Es herrscht seit Jahren große Unzufriedenheit über soziale Ungleichheit in Frankreich. Gleich nach seinem Amtsantritt brachte Macron eine Arbeitsmarktreform auf den Weg, die vor allem in einer Entlastung der Arbeitgeber*innen bestand: So wurde etwa eine Höchstgrenze für die Abfindungssummen bei Entlassungen eingeführt und das Kündigungsgesetz gelockert.

Wir haben vier Demonstranten in Paris gefragt, warum sie auf die Straße gehen

Unbeliebt gemacht hat sich Macron bei den sozial schwachen Schichten, als er das Wohngeld gekürzt und fast zeitgleich die Vermögenssteuer quasi abgeschafft hat – vielen gilt er seither als „Präsident der Reichen“. Zu den Forderungen der Gelbwesten gehören eine stärkere politische Beteiligung der Bevölkerung, mehr Studienplätze, kostenloser Nahverkehr und höhere Renten und Mindestlöhne.

Die absolute Mehrheit, mit der Emmanuel Macron 2017 zum Präsidenten gewählt wurde, ist komplizierter, als sie scheint. Laut Umfragen von Ipsos/Sopra wählten ihn 43 Prozent der Menschen bei der Stichwahl nur deshalb, weil sie einen Sieg der rechtsextremen Marine Le Pen verhindern wollten. Ein Viertel der Franzosen war gar nicht erst zur Wahl gegangen. Seit 1969 hatte es in keiner Stichwahl eine so geringe Wahlbeteiligung in Frankreich gegeben.

Als Macron 2017 die Präsidentschaft antritt, vergibt er die Ministerposten an Vertreter*innen aus dem Privatsektor. Arbeitsministerin wird etwa Muriel Pénicaud, die keine politische Laufbahn hinter sich hat und vorher bei dem Konzern Danone arbeitete. Die aktuelle Verkehrsministerin Élisabeth Borne hat vorher beim Transportunternehmen SNCF und dann beim Bauunternehmen Eiffage gearbeitet. Viele Menschen in Frankreich haben das Gefühl, dass ihre Interessen in der Politik nicht repräsentiert werden. 

„Es ist zu wenig und kommt zu spät“, sagte Éric Drouet, der die Bewegung mit angeschoben hat

Der Druck auf Macron und seine Regierung ist enorm und verschärft sich zusätzlich durch die internationale Medienaufmerksamkeit. Am 4. Dezember, nach einem Wochenende, an dem die Gewalt in mehreren französischen Städten eskalierte, kündigte Premierminister Édouard Philippe an, die Steuererhöhung auf Benzin vorerst zurückzunehmen. Doch bei dem Protest scheint es längst um etwas anderes zu gehen.

„Macron démission“ („Macron, tritt zurück“) ist einer der Slogans, die an den Wochenenden durch die Straßen hallen oder an die Wände geschrieben werden. Demonstrant*innen sprechen in Medienbeiträgen von „Revolution“, Karikaturen und Memes zeigen Macron als Ludwig XVI., der sein Volk gegen sich hat. Der Hass, den viele gegen den Präsidenten hegen, erklärt sich durch den Abbau des Sozialstaats, den Macron weiter vorantreibt – der Präsident sieht darin notwendige Reformen im Kampf gegen die hohe Arbeitslosigkeit.

Am 10. Dezember hat sich Macron zum ersten Mal öffentlich zu den Gilets Jaunes geäußert. Er zeigte Verständnis für die Proteste und kündigte soziale Maßnahmen für Geringverdiener an, die den Haushalt, nach Angaben aus Regierungskreisen, zehn Milliarden Euro kosten werden. Mindestlohnverdiener sollen einen monatlichen Zuschuss von maximal 100 Euro und Rentner Steuererleichterungen erhalten. „Es ist zu wenig und kommt zu spät“, sagte der Lastwagenfahrer Éric Drouet, der die Proteste in den sozialen Medien maßgeblich angestoßen hatte. Für den kommenden Samstag haben die Gilets Jaunes erneut zu landesweiten Demonstrationen aufgerufen. 

Titelbild: Michael Bunel/Polaris/laif

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.