Update: Die EU-Kommission hat erstmals ein Medikament gegen Covid-19 zugelassen: Remdesivir wurde eigentlich zur Ebola-Behandlung entwickelt, aber nie zugelassen. Das Mittel hemmt ein Enzym, das Coronaviren benötigen, um sich zu vermehren. Remdesivir ist aber umstritten: Verlässliche Langzeitergebnisse für Covid-19-Patient*innen fehlen. Weil die für jedes Medikament genau abgeschätzt werden müssen, warten wir immer noch auf einen Corona-Impfstoff. Wer in der Entwicklung am weitesten ist und wie der Impfstoff verteilt wird, weiß die Gesundheitswissenschaftlerin Marcela Vieira.
fluter.de: Die Welt wartet auf einen Impfstoff gegen Covid-19. Warum ist die Entwicklung so langwierig und teuer, Frau Vieira?
Marcela Vieira: Bevor Medikamente, Impfstoffe und Medizintechnik beim Patienten ankommen, müssen sie viele Hindernisse nehmen. Eine Krankheit wie Covid-19 muss im ersten Schritt erforscht werden, um sie zu verstehen. Jede zündende Idee wird in präklinischen Studien gestetet: Das Reagenzglas oder Tierversuche zeigen, ob das Mittel wirklich heilt oder der Krankheit vorbeugt. In der dritten Phase, der klinischen Studie, wird die Entdeckung am Menschen getestet. Erst dann kann das Medikament in größeren Mengen produziert werden. Weil die Forscher in der Corona-Krise unter enormem Druck stehen, werden viele Forschungsansätze gleichzeitig verfolgt und wieder verworfen. Das kostet Milliarden.
Anfang Mai hat eine Allianz aus mehr als 40 Ländern und Organisationen 7,4 Milliarden Euro für die Forschung an Corona-Medikamenten gesammelt. Wohin geht dieses Geld? Und wem stünde der daraus entstehende Impfstoff zu?
Das ist die Millionen-Euro-Frage. Wir wissen nicht genau, wie das Geld verteilt werden soll. Einige Länder wie Frankreich und Deutschland haben sich schon dafür ausgesprochen, dass der Impfstoff ein „Global Public Good“ wird, also allen Menschen gleichermaßen zusteht. Auch die WHO fordert in einer Resolution, dass Covid-19-Medikamente möglichst schnell, weltweit und fair verteilt werden. Das sind wichtige Zeichen – die den Wettbewerb der Nationalstaaten um den ersten marktfertigen Impfstoff bremsen könnten.
Sie meinen, manche Staaten wollen sich mit dem Impfstoff einen Vorteil verschaffen?
Ja. Die USA scheinen sich bereits bei mehreren Pharmakonzernen um exklusive Impfstoff-Lieferungen zu bemühen. Staaten mit einem starken Pharmasektor wie die USA, Großbritannien oder die Schweiz sehen einen öffentlichen Impfstoff kritisch, weil das geistige Eigentum der Pharmakonzerne eingeschränkt werden könnte. Schließlich lässt er sich nicht exklusiv verkaufen, wenn alle Anspruch auf den Impfstoff haben. Wir wissen heute noch nicht, wie die Entwicklung, Lizenzierung und Produktion dieser internationalen Allianz ablaufen wird. Die Erklärung der WHO ist nicht bindend und lässt den Staaten große Spielräume.
„Im globalen Süden sterben Menschen, weil die Forschung an Krankheiten wie Tollwut, Denguefieber oder Lepra für die Pharmafirmen nicht lukrativ genug ist“
Der Zugang zu Medikamenten war bislang ein Problem armer Länder, keines für Industrienationen wie Deutschland oder die USA.
Moment, da muss ich widersprechen. Der pharmazeutische Markt ist auch für reiche Länder problematisch, nur ist das für uns weniger sichtbar. Im globalen Süden sterben Menschen, weil die Forschung an Krankheiten wie Tollwut, Denguefieber oder Lepra für die Pharmafirmen nicht lukrativ genug ist. Und selbst wenn es Medikamente gibt, können sie sich viele Menschen nicht leisten. Letzteres beobachten wir zunehmend auch in Industrienationen.
Haben Sie ein Beispiel?
In den USA können sich viele ihre lebenswichtige Insulinbehandlung nicht mehr leisten, weil sie über 1.000 Dollar zuzahlen müssten. Nun werden Sie sagen, das marode Gesundheitssystem in den USA sei bekannt. Aber selbst Deutschland hat solche Fälle: 2013 wurde mit dem Medikament Sovaldi erstmals eine Therapie auf den Markt gebracht, die Hepatitis C zuverlässig heilen kann. Eine zwölfwöchige Therapie sollte rund 43.000 Euro kosten – obwohl Forscher gezeigt haben, dass der Hersteller Gilead selbst bei einem Preis von 43 Euro noch Profit macht. Solche Mondpreise stehen in keinem Verhältnis zur medizinischen Innovation, sind aber heute normal und setzen die Gesundheitssysteme zunehmend unter Druck.
Dann kann die Diskussion um die Verteilung eines Corona-Impfstoffs doch vielleicht helfen, diese Missstände aufzuzeigen?
Ich hoffe sehr, dass die öffentliche Auseinandersetzung die Gesundheitssysteme gerechter macht. Eigentlich ist doch klar, dass es bei der Produktion von Medikamenten nicht um Profit-, sondern um Gesundheitsmaximierung gehen sollte. Wir müssen jetzt darüber sprechen, was sich dafür ändern muss.
Ist das nicht ganz einfach: Wer die Entwicklung von Medikamenten zahlt, dem gehören sie.
Nur kommen bei Medikamenten zwei Dinge zusammen: Man braucht viele fähige Menschen und viel Geld. Oft finden die ersten Forschungen an öffentlichen, steuerfinanzierten Forschungseinrichtungen statt, spätestens die klinischen Studien werden aber durch Pharmafirmen finanziert, die selbst viel Kapital oder Investoren haben und Lizenzen exklusiv ankaufen. Der fertige Impfstoff gehört dann dem Pharmakonzern – genau wie die Gewinne.
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Bei Medikamenten wie einem Impfstoff gegen Covid-19 geht es um das Leben von Millionen Menschen. Wer legt den Preis für so ein Medikament fest?
Den bestimmt meist der Hersteller, also eine Pharmafirma. Und es gibt keine Grenze nach oben. Das Problem ist: Medikamente sind kein Gut wie jedes andere. Ihr Preis regelt sich nicht einfach über Angebot und Nachfrage wie bei einem Turnschuh. Denn wer krank ist, ist bereit, jeden Preis zu zahlen. Erst vor einem Jahr erhielt der Pharmakonzern Novartis in den USA die Zulassung für die teuerste Arznei der Welt: Das Medikament Zolgensma kann Kinder mit einer oft tödlichen Erbkrankheit heilen. Wenn Ihr Kind diese Krankheit hätte, welchen Preis würden Sie bezahlen, um es zu retten?
Jeden.
Genau. Weil es kein anderes System zur Medikamentenproduktion gibt, nehmen wir hin, dass Menschenleben ein Preisschild bekommen. Eine Dosis Zolgensma kostet rund zwei Millionen Dollar.
Sind solche Preise gerechtfertigt?
Das lässt sich kaum sagen, weil die Pharmafirmen ihre Kosten nicht transparent machen. Experten schätzen aber, dass sich die Preise nicht an den tatsächlichen Kosten orientieren, sondern eher daran, was die Gesundheitssysteme zu zahlen bereit sind. Sie variieren von Land zu Land, je nachdem, wie zahlungskräftig die Bevölkerung ist. In Deutschland können Pharmafirmen andere Preise abrufen als in Brasilien. Wenn die Länder sich nicht kritisch über die Preise austauschen, gewinnen bei diesem Spiel nur die Pharmafirmen.
„Wir müssen einen Weg finden, die geistigen Eigentumsrechte der Pharmafirmen mit dem Recht auf Gesundheit zu vereinbaren“
Welchen Anreiz hat ein Pharmakonzern überhaupt, mit mehreren Ländern zusammenzuarbeiten? Ist es für sie nicht einfacher und lukrativer, einem Staat exklusiv die Rechte einzuräumen?
Stellen Sie sich vor, ein Unternehmen findet den Covid-19-Impfstoff und gibt seine Lösung der globalen Krise nicht weiter. Wie würde dieses Unternehmen in den Augen der Welt dastehen? Außerdem hat kein Unternehmen der Welt allein genügend Produktionskapazität für die Herstellung des Impfstoffes. Ohne Kooperation schafft es niemand dauerhaft aus der Corona-Krise. Ich glaube, wir müssen einfach einen Weg finden, die geistigen Eigentumsrechte der Pharmafirmen mit dem Recht auf Gesundheit zu vereinbaren. Die internationale Forschergemeinschaft zeigt übrigens gerade, wie so eine faire Zusammenarbeit aussehen kann: Normalerweise dauert es viele Jahre, manchmal gar Jahrzehnte, um einen Impfstoff zu entwickeln. Bei Covid-19 könnten wir es in einem Jahr schaffen.
Wem sollte der Covid-19-Impfstoff ihrer Meinung nach gehören?
Niemandem. Und allen. Der Impfstoff darf auf keinen Fall exklusiv für ein Unternehmen lizenziert werden. Jetzt, wo öffentliche Mittel in die Forschung fließen, könnten die Regierungen das auch zur Bedingung machen: Die 7,4 Milliarden der internationalen Allianz sollten in Forschung fließen, deren Ergebnisse weltweit zur Verfügung stehen. Denkbar wäre auch das Modell eines „Technologiepools“, bei dem Forscher ihre Informationen und Patente gegen eine Nutzungsgebühr weitergeben. Dieses Modell wird heute schon in der HIV- und Tuberkuloseforschung angewandt.
Was schätzen Sie: Welches Land hat den Covid-19-Impfstoff zuerst?
Die USA oder China. Beide testen ihre Impfstoffe schon in klinischen Studien. China hat angekündigt, den Impfstoff offen lizenzieren zu wollen, was bei den USA eher unwahrscheinlich ist. Natürlich ist das auch eine politische Inszenierung: China erhebt Anspruch auf eine internationale Führungsrolle, aus der sich die USA gerade zurückziehen.
Dazu passt die Ankündigung von Donald Trump, die Beziehungen zur WHO abzubrechen.
Für Trump stehen bald Wahlen an, ein Erfolg bei der Jagd nach dem Impfstoff kann entscheidend sein. Im Angesicht einer globalen Gesundheitskrise wäre meiner Meinung nach aber ein chinesischer oder deutscher Impfstoff wünschenswert. Wenn wir endlich ein Medikament haben, dann bitte eines, auf das nicht nur eine Nation, sondern alle Welt Zugriff hat.
Die Juristin Marcela Vieira arbeitet am Global Health Centre in Genf, einem Thinktank für globale Gesundheitspolitik. Vieira erforscht, wie Innovationen im Medizinbereich gefördert und möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden können. (Foto: privat)
Titelbild: TONY LUONG/NYT/Redux/laif