Auch Regenwürmer können ein Wirtschaftsfaktor sein. Unermüdlich buddeln sie sich durch den ukrainischen Untergrund und helfen so dabei, dass es jedes Jahr frische Schwarzerde gibt. Und die ist so etwas wie der Porsche unter den Ackerböden: viel Humus, schön krümelig, gut durchlüftet, nährstoffreich. Entstehen kann sie nur, wo die richtigen Bedingungen herrschen. In Deutschland ist das nur in ein paar Landstrichen der Fall, etwa in der Magdeburger Börde. Die Ukraine hingegen ist zu 56 Prozent mit Schwarzerde bedeckt. Das entspricht ca. 30 Prozent der weltweiten Fläche.
Die Flagge der Ukraine – oben blau, unten gelb – wird gern als Weizenfeld unter einem strahlenden Himmel interpretiert, denn die guten Böden sorgen für fantastische Ernten. Knapp 50 Millionen Tonnen Getreide hat das Land 2021 exportiert, Gerste, Mais und Weizen, das deckt den Bedarf von rund 400 Millionen Menschen. Zudem ist die Ukraine der weltgrößte Exporteur von Sonnenblumenöl sowie Sonnenblumenkuchen, ein Nebenprodukt, das für Tierfutter genutzt wird. Auch beim Rapsanbau ist sie vorne mit dabei.
Weil auf ukrainischem Boden Krieg geführt wird, drohen in Afrika Hungersnöte
Diese Rolle als „Kornkammer der Welt“ führte unmittelbar nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 zu einem spürbaren Anstieg der Getreidepreise auf dem Weltmarkt. Denn seitdem blockiert die russische Marine eine der wichtigsten ukrainischen Handelsrouten: den Seeweg über das Schwarze Meer, der die Ukraine mit dem Mittelmeer und dem Rest der Welt verbindet. Zusätzlich sind die ukrainischen Häfen – der größte befindet sich in Odesa – ein bevorzugtes Ziel russischer Angriffe.
Es dauerte nicht lange, da warnte die Welternährungsorganisation FAO vor Hungersnöten in Nordafrika, dem Nahen und dem Mittleren Osten infolge des Krieges. Unter anderem Indonesien, Bangladesch und Pakistan importieren viel Getreide aus der Ukraine. Mehrere Länder in Afrika beziehen fast ihren gesamten Weizen aus der Ukraine und Russland. Die Sorge um die globale Ernährungssicherung war von so weitreichender Bedeutung, dass sich die beiden Länder in diesem einen Punkt tatsächlich zu Verhandlungen trafen und schließlich einen Kompromiss fanden. Seit August 2022 verkehren wieder Getreidefrachter zu und von den ukrainischen Häfen – unter Aufsicht der Türkei, die den Bosporus, die Meerenge zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer, kontrolliert, und anderen UN-Staaten, die die Ladung der Frachter inspizieren.
Lebensmittel sind das eine große Exportgut der Ukraine. Das andere ist Metall, vor allem in Form von Eisenerz, Eisen und Stahl, aber auch weiterverarbeiteten Produkten wie Kabeln. Der Bergbau hat eine lange Tradition, schon seit dem 19. Jahrhundert wird in der zentral gelegenen Krywbas-Region Eisenerz gefördert. Aus dem Donbas, im Osten des Landes, kam die Kohle, mit der die Hochöfen der Metallproduktion befeuert werden. Auch seltene Mineralien befinden sich im ukrainischen Boden, so soll es im Donbas große unerschlossene Lithiumvorkommen geben. Wie viel von der ukrainischen Metallindustrie nach dem Krieg noch übrig sein wird, ist kaum abzusehen. Der Donbas liegt direkt an der Kriegsfront, größtenteils sogar im von Russland besetzten Gebiet. So war eines der größten Stahlwerke des Landes in Mariupol zwischen März und Mai 2022 Schauplatz erbitterter Kämpfe und wurde größtenteils zerstört.
Im Jahr verdient man in der Ukraine durchschnittlich so viel wie in Deutschland in einem Monat
Dabei stand der Osten der Ukraine dank seiner Industrie vor dem Krieg wirtschaftlich am besten da. Die durchschnittlichen Monatslöhne im Land waren hier, von der Hauptstadt Kyjiw einmal abgesehen, höher als im Rest des Landes – das allerdings auf einem insgesamt ziemlich niedrigen Niveau. Im europäischen Vergleich landet die Ukraine auf dem letzten Platz. Das Bruttonationaleinkommen pro Kopf (BNE) lag 2021 durchschnittlich bei weniger als 350 US-Dollar im Monat. Das sind 4.120 US-Dollar im Jahr – weniger als der deutsche Durchschnittsbürger im Monat verdient. Und auch in Nachbarländern wie Polen, Rumänien, ja sogar in Belarus lag das BNE deutlich höher. Dabei hatten diese Staaten 1992 – als auch sie nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa vor einem riesigen wirtschaftlichen Umbruch standen – noch beinahe die gleichen Werte.
In der Ukraine führte diese ungeordnete Zeit der 1990er-Jahre so wie in Russland zum Aufstieg der sogenannten Oligarchen. Diese Männer bauten mit mehr oder weniger dubiosen Methoden große Firmenimperien auf, sie kauften sich Medien und Fußballvereine und wurden zu Milliardären mit viel Einfluss in der ukrainischen Politik und Gesellschaft.
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Durch den Krieg sind die Weizenpreise weltweit gestiegen. Aber wie entstehen Preise überhaupt? Warum steigen oder fallen sie? Das erklären wir hier.
Zu ihnen gehören unter anderem: Rinat Achmetow, Sohn eines Bergmanns und ehemaliger Profiboxer aus dem Donbas, der vor allem mit Kohle und Stahl sein Vermögen verdiente. Wiktor Pintschuk, der Schwiegersohn des zweiten ukrainischen Präsidenten, dessen Vermögen auf dem Bau von Pipelines und Stahlrohrleitungen beruht. Dann Ihor Kolomojskyj, Gründer der ehemals größten ukrainischen Bank, außerdem aktiv in der Stahl-, Öl-, Chemie-, Energie- und Nahrungsmittelindustrie und Besitzer diverser Medien – auf einem seiner Fernsehsender lief übrigens die Serie „Diener des Volkes“, in der Wolodymyr Selenskyj den ukrainischen Präsidenten schon vor seinem Wahlsieg 2019 spielte. Und auch Selenskyjs Vorgänger Petro Poroschenko ist Milliardär. Er machte sein Vermögen vor allem mit Süßwaren.
Durch den Krieg haben die Oligarchen viel von ihrem Vermögen verloren, sind aber weiterhin die reichsten Männer des Landes. Ihr Einfluss könnte noch weiter abnehmen, wenn es der ukrainischen Regierung gelingt, die Korruption im Land besser zu bekämpfen. Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International liegt die Ukraine für das Jahr 2022 auf Platz 116 von 180 – allein schon, damit der ukrainische Traum einer EU-Mitgliedschaft möglich werden kann, müsste sich das ändern.
Doch dafür muss wohl erst der Krieg beendet werden, und der setzt der ukrainischen Wirtschaft sehr zu. 2022 ist das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine um ein Drittel gesunken. Im Juni soll die Arbeitslosenquote bei 35 Prozent gelegen haben. Schon jetzt bekommt das Land mehrere Milliarden Euro pro Monat aus der EU und den USA zur Stabilisierung. Die Kosten für den Wiederaufbau des Landes werden auf einen dreistelligen Milliardenbetrag geschätzt, in welchem Umfang sich daran andere Staaten beteiligen, ist offen.
Sicher scheint nur, dass sich die Ukraine in Zukunft auch wirtschaftlich noch mehr in Richtung Westen öffnen wird. Schon jetzt ist die Europäische Union mit einem Anteil von mehr als 40 Prozent der wichtigste Handelspartner, und innerhalb der EU sind es vor allem Deutschland und Polen. Auch China und die Türkei spielen eine wichtige Rolle. Die wirtschaftliche Bedeutung Russlands war hingegen schon vor dem Krieg deutlich gesunken. Ging 2010 noch ein Viertel der Exporte nach Russland, lag der Wert 2019 nur noch im einstelligen Prozentbereich.
Ausgerechnet Erdgas könnte die Hoffnung für die ukrainische Wirtschaft nach dem Krieg sein
Seit dem vergangenen Jahr versucht Deutschland, von russischem Gas unabhängig zu werden durch Einsparungen, Alternativen und Importe aus anderen Ländern. Eines davon könnte auch die Ukraine sein, wenn auch nicht sofort. Denn tatsächlich gibt es im Land große bekannte Erdgasvorkommen, die zwar im Vergleich zu den russischen überschaubar sind – aber wesentlich größer als das, was zum Beispiel im deutschen Boden liegt. In Europa hat nur Norwegen mehr. Allerdings wird ukrainisches Gas bisher kaum gefördert, stattdessen hat die Ukraine sogar Erdgas importiert.
Die Kombination aus Gasvorkommen und -speichern, unterstützt von europäischen Ländern, die nach neuen Gashandelspartnern suchen, könnte für die Ukraine eine Chance sein, nach dem Krieg ökonomisch schneller wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Denn ob Regenwurm, Schwarzerde, Eisenerz oder Erdgas – das wirtschaftliche Glück der Ukraine liegt unter der Erde.