Gehen oder bleiben – oder beides? Als am 24. Februar Russland die Ukraine angriff, mussten Tausende westliche Unternehmen überdenken, ob sie künftig noch am Geschäft in Russland verdienen wollen. Welche Maßnahmen haben sie ergriffen? Wie konsequent? Und wie schmerzhaft war es für die Unternehmen, sich vom Markt zurückzuziehen?
Diese Fragen stellten sich auch Forscherinnen und Forscher der US-Universität Yale, die gleich auf die ersten Unternehmensrückzüge reagierten: Seit Ende Februar listen sie fast tagesaktuell auf, wie Tausende westliche Unternehmen sich in Russland organisieren – indem sie Schulnoten vergeben: Je konsequenter der Rückzug, desto besser die Note: von A wie „Absolut keine Geschäfte in Russland mehr“ bis F wie „Frag besser nicht“.
Ob Spenden an die Ukraine fließen oder die ukrainische Flagge auf der Homepage weht, fließt nicht in die Benotung ein: Es geht ums konkrete Geschäftsgebaren. Weil die Situation jedes einzelnen Unternehmens anders (und komplex) ist, folgen hier die fünf Yale-Typen mit Beispielen und einer kurzen Erläuterung. (Ja, fünf Kategorien: Das Buchstaben-Benotungssystem der USA verzichtet auf die Note E: Auf D, gerade noch bestanden, folgt F, durchgefallen.)
Note A: Rückzug und Punkt
Das Team aus Yale vergibt aktuell gut 300 Firmen die Bestnote A, darunter McDonald’s. Gut 30 Jahre nach der Eröffnung der ersten Moskauer Filiale verkaufte das Unternehmen 847 Restaurants in Russland an Alexander Govor, einen sibirischen Geschäftsmann und ehemaligen Franchisepartner. Über den Kaufpreis schweigen sich beide Parteien aus, Govor spricht von einem „symbolischen Kaufpreis weit unter Marktpreis“. Der Preis wird ihm nicht nur aus Freundschaft gemacht worden sein: Der Kreml droht Auslandsfirmen, die ihre Geschäfte in Russland komplett einstellen, mit der Enteignung.
Hier findet ihr die komplette Yale-Liste. Dazu lohnt sich der Sanktionstracker von Correctiv, der auch zeigt, welche Personen und Unternehmen in Russland sanktioniert werden.
Der neue Besitzer jedenfalls will noch dieses Jahr 126 Millionen Dollar in seine Fastfoodkette investieren, die er fortan unter dem Namen „Wkusno i Totschka“ führt, was man mit „Köstlich und Punkt“ übersetzen könnte. McDonald’s machte bislang knapp ein Zehntel seines weltweiten Umsatzes in Russland und der Ukraine. Das sind etwa zwei Milliarden Dollar pro Jahr. Der Firmenleitung scheinen Vertrauen und Ansehen im Rest der Welt wichtiger zu sein. Zumindest vorerst: Laut russischen Behörden hat sich der Konzern das Recht vorbehalten, seine Restaurants in den kommenden 15 Jahren zurückzukaufen.
Note B: Offene Hintertür
Langsamer geht es beim Konkurrenten Burger King. Der will sich angeblich auch von den 800 Filialen vor Ort trennen, die Vertragslage biete da aber keinen Spielraum, heißt es von der Firmenleitung. Sie versprach, alle Profite aus Russland an die Vereinten Nationen zu spenden. Trotzdem reichte es in Yale nur für Note B.
Neben knapp 500 weiteren Firmen erhielt die auch DHL. Die Lage beim deutschen Logistiker ist etwas unübersichtlich: Zwar verkündet das Unternehmen groß auf seiner Webseite, dass die Transportdienstleistungen in und nach Russland und Belarus eingestellt worden seien, doch das betrifft offensichtlich nur den Luftverkehr. Briefe, Päckchen und Pakete per Standardversand sind nach wie vor in beide Richtungen möglich. Wenn auch mit längeren Lieferzeiten.
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Auch Adidas bekommt die zweitbeste Note. Laut Eigenaussage seien die eigenen Läden geschlossen und der Onlinehandel eingestellt – „bis auf Weiteres“. Diesem zögerlichen Zusatz ist wohl der Notenabzug geschuldet. Auch dürfte es keine Extrapunkte dafür gegeben haben, dass der fränkische Sportartikelhersteller erst reagierte, nachdem sich die Konkurrenten Nike (Note A) und Puma (Note B) schon aus Russland zurückgezogen hatten. Bis dahin hatte man in Herzogenaurach vielleicht gehofft, dass es mit einem gekündigten Sponsoringvertrag mit dem russischen Fußballverband getan wäre.
Wie groß der wirtschaftliche Schaden ist, teilt das Unternehmen nicht mit. Vor dem Krieg lag immerhin ein Viertel aller Adidas-Läden in Russland und den ehemaligen Ländern der Sowjetunion. Klingt gewaltig, 2020 erwirtschaftete der Konzern dort aber nur knapp drei Prozent des Gesamtumsatzes. Kosten wird der Ladenschluss trotzdem: Adidas will seinen Angestellten in Russland weiter die Löhne zahlen.
Note C: Rückbau
Note C vergibt Yale an Firmen, die signifikante Teile ihres Russlandgeschäfts reduziert haben, andere aber aufrechterhalten. Fürs Ranking unerheblich, aber zu beachten wäre dabei, warum ein bestimmter Geschäftsbereich weitergeführt wird. Schließlich schadet man der Zivilbevölkerung nur begrenzt, wenn die sich das neue MacBook Air von Apple (Note B) auf dem Schwarzmarkt besorgen muss. Würde hingegen Bayer (Note D, siehe unten) die Geschäftsbereiche streichen, die das Land mit lebensnotwendigen Produkten versorgen, träfe das weniger den Kreml als vielmehr die russische Bevölkerung.
Übrigens decken deutsche Firmen in der Yale-Liste das gesamte Notenspektrum ab. Im Ländervergleich erhalten sie etwas häufiger die Noten C und D. Die Bestnote A geht aktuell an 24 deutsche Unternehmen.
Unter den knapp 170 Firmen mit Note C sind etwa Adobe (Grafiksoftware) oder Activision Blizzard (Games), die in Russland keine neuen Produkte verkaufen, Dienste für bereits gekaufte Artikel aber weiter anbieten. Auch der Google-Mutterkonzern Alphabet hat alle bezahlten Dienstleistungen und sein Hauptgeschäft eingestellt: Russische Unternehmen dürfen keine Werbung mehr auf Google schalten. Kostenlose Dienste wie Google, Gmail oder YouTube sind weiter erreichbar.
Der russische Alphabet-Ableger musste Konkurs anmelden, nachdem die Regierung dessen Konten eingefroren hatte: Der US-Mutterkonzern hatte sich geweigert, Inhalte zu löschen und Daten herauszugeben. Trotzdem dürfte der finanzielle Schaden überschaubar bleiben. Der Russland-Umsatz im Vorkriegsjahr 2021 lag bei nur einem Prozent der weltweiten Einnahmen.
Note D: Spiel auf Zeit
Diese 160 Firmen der Yale-Liste geben an, keine neuen Geschäfte in Russland zu erschließen, betreiben ihre bisherigen aber ohne bedeutende Einschränkungen weiter. Die Erklärungen reichen auch hier von Gier bis hin zu humanitären Gründen.
Wie lebensnotwendig es etwa ist, dass die Campari Group ihre Aperitifs weiter in Russland verkauft, ist nicht erschöpfend erforscht. Der Mailänder Konzern reduzierte seine Werbung und „sonstige Geschäfte“ in Russland „aufs absolute Mindestmaß“, um zumindest die Gehälter seiner 122 russischen Angestellten (intern „Camparistas“ genannt) zahlen zu können. Was das genau bedeutet, bleibt aber unklar.
Klarer scheint, dass die Gehälter der 122 russischen Camparistas wohl auch von den 535 Millionen Euro hätten bestritten werden können, die der Konzern allein im ersten Quartal 2022 weltweit einnahm. Neben dem Angestelltenwohl zählt also vermutlich auch, dass Russland 2021 zu den wichtigsten Märkten von Campari zählte mit einem jährlichen Umsatzwachstum von 25 Prozent.
Die Note D teilt sich die Campari Group mit dem Leverkusener Chemie- und Pharmakonzern Bayer. Der hat seine Werbemaßnahmen und neue Investitionen in Russland zwar ebenfalls gestoppt, hält aber an den Geschäftsbereichen Gesundheit und Landwirtschaft fest. Der Konzern ließ wissen, er habe die ethische Verpflichtung, der Bevölkerung keine „wesentlichen Gesundheits- und Landwirtschaftsprodukte vorzuenthalten“.
Note F: Business as usual
Zu Höchstzeiten fand alle zwei Sekunden irgendwo auf der Welt eine Tupperparty statt. Diese Zeiten mögen vorbei sein, aber sein Russlandgeschäft hält der kalifornische Konzern nach wie vor frisch – und sucht dort sogar nach neuem Personal. Aus Yale gibt es dafür ein glattes Durchgefallen (F).
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Bei den Heimwerkermärkten hat der Krieg gar die Branche gespalten. Tengelmann, der Mutterkonzern von Obi (Bestnote A), ordnete im März an, alle russischen Filialen zu schließen. Als sich die lokalen Manager darüber hinwegsetzen wollten, trennte der Konzern kurzerhand die russischen Baumarktkassen vom Server. Im April verschenkte Tengelmann schließlich alle 27 russischen Filialen an einen anonymen Investor, der die knapp 5.000 Angestellten übernehmen soll. Damit sei Tengelmann der Enteignung durch den russischen Staat zuvorgekommen, heißt es. Mit dem Rückzug verzichtet Obi auf rund fünf Prozent seines Jahresumsatzes.
Auf der anderen Seite stehen Heimwerkerkonzerne wie der französische Leroy Merlin (Note F) oder die saarländische Globus-Gruppe (ebenfalls F). Beide halten an ihren Geschäften in Russland fest. Russland trägt mit zwei Milliarden Euro etwa ein Viertel zu den weltweiten Umsätzen der Globus-Kette bei. Firmenchef Thomas Bruch, der das Unternehmen in sechster Generation führt und zuletzt dem Kuratorium des Deutsch-Russischen Forums vorsaß, hat neue Investitionen in Russland vorerst gestoppt, möchte die dortigen Filialen aber mit Blick auf die Angestellten nicht schließen: Für Globus arbeiten rund 10.000 Menschen an 19 Standorten in Russland.
Titelbild: ALEXANDER NEMENOV/AFP via Getty Images