fluter.de: Wenn es darum geht, dass Frauen in den meisten wissenschaftlichen Bereichen unterrepräsentiert sind, heißt es oft klischeehaft: Sie haben eben weniger geleistet. Einspruch?
Ruth Hagengruber: Sie haben nicht weniger geleistet als Männer. Wir wissen von ihren Leistungen nur weniger bis gar nichts. Und das war nicht immer so. Émilie du Châtelet zum Beispiel, die von 1706 bis 1749 lebte, war zu ihrer Zeit berühmt. Auch der junge Immanuel Kant musste sich mit ihr beschäftigen, seine erste Dissertation hat ihren Text als Grundlage. Im 19. und auch im 20. Jahrhundert wurden Frauen jedoch aktiv aus der Geschichte ausgeschlossen.
Wie ist das passiert?
Das war ein allmählicher, willentlicher Ausschluss. Nach einer Epoche, in der Frauen in der Öffentlichkeit sichtbar waren, kam mit der Ermordung von Olympe de Gouges der Anfang des Ausschlusses. Die Französin forderte 1791 in ihrer „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ eine Gleichstellung von Frauen. Weil der Staat aus Frauen und Männern bestünde, müssten beide zu gleichen Teilen repräsentiert werden. Die Revolutionäre gingen gegen die Frauen vor, und de Gouges landete unter der Guillotine. Und es wäre falsch zu denken, dass Frauen wie sie Einzelfälle gewesen wären: Institutionen wie Universitäten, Parlamente, Schulen haben Frauen ausgeschlossen und ihre Leistungen verschwiegen. Wir haben deswegen heute eine westliche Wissenschafts- und Philosophiegeschichte, die nahezu nur von Männern handelt. Natürlich ist es in anderen Kulturen nicht anders.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Das lässt sich schön zeigen an Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“: Der hat eine Vorlage, nämlich die „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“ von Sophie von La Roche. Das war der erste deutschsprachige Briefroman. Goethe aber begründete mit dem „Werther“ seinen Weltruhm. In dieser Zeit ging in Deutschland diese große systematische Verdrängung der Frauen los, ganz Europa erlebte einen politischen Shift. Es kamen mehrere Faktoren zusammen: die Industrialisierung und Kapitalisierung der Gesellschaften, Napoleon und nach ihm die Restauration – die Herstellung der alten Ordnung in Europa. In der Philosophie kam mit Kant, Hegel und Fichte der Deutsche Idealismus auf, der sich frauenfeindlich zeigte. In Hegel und Fichte finden sich zahlreiche Strategien der Unterwerfung der Frauen. Fichte behauptete, die Frauen würden sich „aus Liebe“ unterwerfen. Frauen wurden aus Bildungsinstitutionen und öffentlichen Institutionen ausgeschlossen, die in dieser Epoche entstanden.
Wir reden immer noch vor allem von weißen, europäischen Philosophinnen. Nichtweiße Philosophinnen wurden noch öfter unter den Tisch gekehrt.
Wir wissen mittlerweile, dass es einen Austausch gab zwischen Frauen aus Europa, Lateinamerika und Indien. Wir sind gerade dabei, diese Texte wiederzuentdecken, stehen aber noch am Anfang.
In der Schule war Ethik mein Lieblingsfach, und wir haben über viele Philosophen gesprochen. Ich kann mich nicht erinnern, dass außer Hannah Arendt jemals eine Frau erwähnt wurde. Was geht dadurch verloren?
Wir lernen eine Verdrängungsgeschichte als einzige Wahrheit. Deshalb wachsen wir in einer frauenlosen Kulturgeschichte auf. Wenn Newton nur jeden zweiten Planeten vermessen hätte, um deren Dynamik zu erklären, dann hätten wir heute ein falsches Verständnis vom Sonnensystem. Nicht anders ist es in der Philosophie: Wir lehren eine falsche Beschreibung der Wirklichkeit und der Geschichte.
Wie würden wir die Wirklichkeit sehen, wenn wir uns auf Frauen beziehen würden?
In mancher Hinsicht wäre diese Wissenschaft inhaltlich anders, in mancher inhaltlich gleich. Nehmen wir das Beispiel Hildegard von Bingen im 12. Jahrhundert: Sie hat eine ausgeklügelte und differenzierte Auffassung von der Verschiedenheit der Körper von Mann und Frau formuliert. Diese Einsicht und alle Erkenntnisse daraus, zum Beispiel, dass für Männer und Frauen dadurch unterschiedliche medizinische Betreuung notwendig ist, gingen verloren, weil sie nicht Teil der Lehre in den Universitäten wurden. Noch heute wird überwiegend an männlichen Mäusen geforscht, weil es einfacher und der weibliche Körper komplexer ist. Heute wissen wir, dieses medizinische Defizit ist eklatant. Andererseits, was bleibt gleich? In der Forschung ist bestätigt, dass Kopernikus die Kommentare der Hypatia las, als er in Florenz war. Sie gehörte zu den antiken Denkerinnen, die das heliozentrische Weltbild vertraten. Im 18. und 19. Jahrhundert haben Frauen wichtige Beiträge geleistet um die Gesellschaft und die Wirtschaft neu zu strukturieren. Es war eine Frau, die die Idee der nachhaltigen Verwertung von Rohstoffen und ihre Rückkehr in den Wirtschaftskreislauf entwickelte. Hier lassen sich zahlreiche Beispiele anführen und eine ganz neue Art der Ökonomie denken.
Es geht Ihnen also gar nicht nur um Geschlechtergerechtigkeit, sondern vor allem darum, dass vieles faktisch nicht stimmt, was wir lernen. Ist das Thema in Ihrem Hörsaal?
Als ich, damals noch an der Universität zu Köln, begann, die Geschichte dieser Frauen zu lehren, stieß ich damit auf Widerstand. Professoren für antike Philosophie hatten sich nie mit der Frage beschäftigt, warum Platon forderte, dass in seinem idealen Staat Männer und Frauen gleich erzogen werden. So entsteht eine falsche Geschichtsschreibung. Um diesem Mangel zu begegnen, habe ich das Zentrum zur Erforschung der Geschichte der Philosophinnen gegründet, als ich meine Professur an der Universität in Paderborn antrat.
Angenommen, Sie könnten jetzt sofort eine Sache an den Lehrplänen bundesweit ändern …
Ich würde antike Philosophinnen einbeziehen – wie etwa Diotima, die vielleicht die erste bekannte Philosophin überhaupt war. Sie wurde als Lehrerin von Sokrates zum Vorbild aller Philosophinnen. Damit wird die abendländische Geschichte neu gerahmt. Hildegard von Bingen, die von 1098 bis 1179 lebte, ist eine großartige Philosophin und Naturwissenschaftlerin. Wäre sie Teil in unserem Lehrplan, würden die jungen Menschen sofort ein neues Verständnis für den Menschen und seinen Umgang mit der Natur lernen. Wir wissen heute wieder, dass Platons Mutter Periktione selbst als Philosophin angesehen wurde. Wir wissen von Theano, die den Goldenen Schnitt gefunden haben soll. Der französische Philologe Gilles Ménage schrieb schon 1690 ein Buch, in dem er 65 antike Philosophinnen mit Werken und Quellen zusammenstellte. Faktisch ist dieses Wissen also nicht verschwunden. Nur in der Lehre wird es bis heute ignoriert.
Sind wir heute auf einem guten Weg?
Mein früherer Prof hat immer gesagt: Frau Hagengruber, wir leben im Mittelalter. Je mehr ich über die Vergangenheit lerne, sehe ich, was er damit meinte. Frauenhass ist immer noch ein Teil aller Gesellschaften. Aber ich bin trotzdem optimistisch. Man muss bedenken: Es wurde auch 900 Jahre kein Platon gelesen. Die Rückkehr der platonischen Philosophie in den Westen zeigt, es ist schon einmal gelungen, den Kanon zu verändern. Das hat zu einer erheblichen wissenschaftlichen Erneuerung in der Renaissance geführt. Wir brauchen eine solche zweite Renaissance.
Ruth Hagengruber ist Professorin und Inhaberin des Lehrstuhls für Philosophie sowie Leiterin des Center for the History of Women Philosophers an der Universität Paderborn. Ihr Buch „Teaching Women Philosophers. Ideas and Concepts from Women Philosophers’ Writings Over 2000 Years“ ist 2024 erschienen. Ihre Vorlesung zur Geschichte der Philosophinnen kann man auf YouTube anschauen.
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