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„Drogengesetze sind keine Naturgesetze“

Die Historikerin Helena Barop erzählt im Interview, wie es zu den Verboten einzelner Drogen gekommen ist – und wie die Geschichte die Drogenpolitik bis heute beeinflusst

Heroin von Bayer

fluter.de: Frau Barop, warum sind Drogen in Deutschland verboten?

Helena Barop: Das ist eine ziemlich verwickelte Geschichte, die nicht in Deutschland, sondern in den USA beginnt. Und zwar im 19. Jahrhundert. Die Ursprünge liegen so weit zurück, dass wir heute oft fälschlich annehmen, Drogen seien verboten, weil sie gesundheitsschädlich sind. Wir gehen davon aus, dass sich mal jemand ganz systematisch Gedanken gemacht hat zu den Fragen: Was sind diese Stoffe genau, und wie gefährlich sind sie? Das dachte ich zumindest, als ich mit meiner Forschung begonnen habe.

Aber so war es nicht?

Nein, es ging viel mehr um geopolitische Interessen und koloniale Bestrebungen der USA, vermengt mit Rassismus gegenüber Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, und einem protestantischen Dogma von Nüchternheit, das moralisch aufgeladen war. Mit Gesundheitspolitik hatte das also relativ wenig zu tun.

Das sind harte Vorwürfe. Können Sie das genauer erklären?

Im 19. Jahrhundert waren Drogen zunächst dasselbe wie Medikamente. Man konnte in die Apotheke gehen und sich da alles Mögliche kaufen, Laudanum zum Beispiel, also Opiumtinktur, oder Morphium, ebenfalls ein Opiat, später auch Kokain und Heroin. Und natürlich Hanf. Im Grunde verlief die Entwicklung immer gleich: Die Substanzen, die heute als besonders gefährliche Drogen eingestuft sind, kamen ursprünglich als eine Art Wundermittel auf den Markt, von dem erst mal alle ganz begeistert waren. Erst später stellte man fest, dass der Konsum auch Nebenwirkungen hat. Das war eine Art kollektiver Lernprozess.

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Mrs. Winslow's Soothing Syrup (Foto: picture alliance / Glasshouse Images)
„Mrs. Winslow's Soothing Syrup“ war ein Medikament auf Morphium-Basis – und warb Anfang des 20. Jahrhunderts damit, dass es Kindern das Zahnen erleichtere (Foto: picture alliance / Glasshouse Images)

Aber der führte trotzdem nicht zu den Verboten?

Nein, zu Verboten kam es immer erst in dem Moment, in dem die Substanzen auf gesellschaftlicher Ebene mit etwas anderem Unerwünschten verknüpft wurden. Beim Opium waren das chinesische Migranten, überwiegend Männer, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die USA immigrierten und die Konsumtechnik des Opiumrauchens mitbrachten. Sie suchten an der Westküste nach Arbeit, entweder in den Goldminen oder im Eisenbahnbau. Aber sie wurden von den bereits einige Generationen zuvor in die USA ausgewanderten Migranten aus Europa abgelehnt und lebten segregiert in den bis heute bestehenden Chinatowns. Man sprach von der „Gelben Gefahr“, immer wieder kam es zu Gewalt und Pogromen. Diese Ablehnung übertrug sich auch auf die Substanz, die von dieser Gruppe in einer bis dahin unbekannten Weise konsumiert wurde.

Inwiefern?

Ein Sinnbild dafür ist der Mythos der sogenannten Opiumhöhle. Das ist ein finsterer Ort des Lasters, in dem angeblich verlotterte chinesische Männer im Keller auf der Matratze liegen und sowohl unschuldige weiße Frauen verführen als auch weiße tüchtige Männer ins Unheil stürzen. Dieses Bild ist größtenteils Fiktion. Trotzdem hat es die Opiumhöhle als Ort der Sünde und des Verfalls von Moral und guten Sitten in unsere Kriminalliteratur geschafft, bei Sherlock Holmes zum Beispiel oder auch im Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ des irischen Schriftstellers Oscar Wilde. Erst als diese rassistisch motivierten Ängste ins Spiel kamen, wurde das Opiumrauchen in den USA verboten, 1875 in San Francisco und dann 1909 auf nationaler Ebene.

Was führte zum Verbot von Kokain?

Das Verbot war ebenfalls rassistisch motiviert, denn es trat erst in Kraft, als der Konsum mit Gewaltdelikten von afroamerikanischen Männern in Verbindung gebracht wurde. Das gipfelte darin, dass die „New York Times“ Anfang des 20. Jahrhunderts einen Artikel veröffentlichte, in dem allen Ernstes zu lesen war, afroamerikanische Männer würden durch den Konsum von Kokain immun gegen Schusswaffen und dass sich die Polizei in den Südstaaten deshalb großkalibrigere Waffen habe zulegen müssen. Die Märchen, die da jeweils in Stellung gebracht wurden, klingen absurd. Wenn man aber auf die aktuellen Zahlen der Gefängnisinsassen in den USA blickt, wo nach wie vor überwiegend Schwarze Männer wegen Drogendelikten inhaftiert sind, dann weiß man: Solche Erzählungen hinterlassen tiefe Spuren.

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Opiumhöhle (Foto: Pictures From History/Universal Images Group via Getty Images)
Verlotterte chinesische Männer verführen unschuldige weiße Frauen? Die Darstellung einer „Opiumhöhle“ in San Francisco aus dem Jahr 1878 (Foto: Pictures From History/Universal Images Group via Getty Images)

Wie fanden die Verbote ihren Weg nach Deutschland?

Das hat vor allem mit der US-amerikanischen Außenpolitik zu tun – und mit den Philippinen. Die waren von 1898 bis 1946 US-amerikanische Kolonie. 1902 wurde dort ein Mann namens Charles Henry Brent Missionsbischof der Episkopalkirche. Und der hatte sich vorgenommen, das Opiumproblem zu lösen, das er auf den Philippinen ausgemacht hatte. Wie die allermeisten Religionen sah auch das Christentum im Rausch eine verurteilenswerte Ablenkung vom Glauben. Brent musste jedoch feststellen, dass ein Verbot von Opium auf nationaler Ebene nicht durchsetzbar war, solange alle anderen Länder drum herum weiter munter Opiumhandel betrieben. Also beriefen die USA auf Brents Initiative hin 1909 die erste Internationale Opiumkommission in Schanghai ein.

Wie war damals die deutsche Haltung?

Die deutschen Diplomaten waren nicht sehr begeistert von der Idee, Opiate mit Regeln zu belegen. Deutsche Pharmaunternehmen importierten im großen Stil Opium aus der Türkei, um es in Deutschland zu Morphium und Heroin weiterzuverarbeiten. Deutschland hat die internationalen Drogenkonventionen, die im Verlauf weiterer internationaler Konferenzen zustande kamen, erst unterzeichnet, als das Kaiserreich den Ersten Weltkrieg verlor und im Zuge des Versailler Vertrages dazu gezwungen wurde, auch diese neuen Drogengesetze zu unterschreiben.

Warum wurde Cannabis in die internationalen Drogenkonventionen aufgenommen?

Bei der Internationalen Opiumkonferenz im Jahr 1925 kam mit Ägypten, das erst ein paar Jahre zuvor unabhängig geworden war, ein neuer Akteur ins Spiel. Der ägyptische Delegierte sprach über ein Haschischproblem in seinem Land – und bezeichnete den Haschischkonsum als soziales Übel, das die Menschen in den „Wahnsinn“ stürze. In den USA war das Thema Cannabis in den Südstaaten bereits mit mexikanischen Einwanderern verknüpft, die seit der mexikanischen Revolution verstärkt ins Land kamen und wieder eine bis dato relativ unbekannte Konsumtechnik mitbrachten. Die USA unterstützten also Ägypten in dem Vorhaben, Haschisch zu verbieten, und weil sich Deutschland 1919 verpflichtet hatte, die internationalen Drogenkonventionen zu ratifizieren, fand Cannabis Eingang in den Vorgänger des deutschen Betäubungsmittelgesetzes. Bis die Substanz auch in Deutschland verfolgt wurde, vergingen trotzdem noch ein paar Jahrzehnte.

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Hippie raucht einen Joint (Foto: Nobby Clark/Popperfoto via Getty Images)
Die wollen doch nur provozieren: Ein junger Mann raucht 1970 im New Yorker Hyde Park einen Joint (Foto: Nobby Clark/Popperfoto via Getty Images)

Wann ist das passiert?

Unter den Nazis wurden Menschen mit Abhängigkeiten erstmals in Deutschland stark verfolgt. Sie galten als „Schädlinge des Volkskörpers“ und wurden in „Heilanstalten“ – die Anführungsstriche sind hier sehr wichtig – zwangseingewiesen. Später wurden sie in Konzentrationslager deportiert und dort umgebracht. Andere fielen den Krankenmorden zum Opfer. Nach meinem Dafürhalten ist das auch für die spätere Sicht auf Drogenkonsum in der frühen Bundesrepublik wichtig. Der Gedanke, dass Drogenkonsum etwas Böses und Bestrafenswertes sei, wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht wirklich reflektiert. Das erste deutsche Prohibitionsgesetz, das eine ernst zu nehmende Strafverfolgung mit sich brachte, kam dann aber erst 1972 – und zwar als Reaktion auf die 68er-Bewegung. In dieser Debatte wurden Drogen zu einem wichtigen Symbol – sowohl in den USA als auch in Deutschland.

Inwiefern?

Die Hippies hier wie dort haben ihren Protest oftmals gar nicht so sehr mit Worten formuliert, sondern einfach durch eine Lebensweise, die sich sehr stark von der der Elterngeneration unterschied und die zum Ausdruck brachte: Es ist mir egal, wie ihr das findet, Mama und Papa. Ich mache jetzt, was ich will. Ich trage meine Haare lang, schlafe, mit wem ich will, weigere mich, in den Krieg zu ziehen, und ich rauche Joints und nehme LSD. Der Backlash folgte auf dem Fuße. Erst wurden LSD und Psilocybin, der psychoaktive Wirkstoff von Magic Mushrooms, verboten, dann erklärte US-Präsident Richard Nixon den Drogen den Krieg. Obwohl es damals eine Menge wissenschaftlicher Studien zur positiven Wirkung psychedelischer Substanzen bei psychischen Erkrankungen gab, die erst seit Mitte der 90er-Jahre wieder aufgenommen wurden. Das Verbot war also politisch motiviert und ignorierte relevante Forschungsergebnisse. Diese Verbote wurden wenig später auch in Deutschland umgesetzt.

Warum übernahm Deutschland die Verbote einfach so?

Wenn man sich die Protokolle der 1972 geführten Debatten im Deutschen Bundestag dazu durchliest, dann stellt man fest, dass vor allem konservative Politiker die US-amerikanischen Argumente eins zu eins übernahmen. Das Argument war: So schlimm wie in den USA darf es bei uns nicht werden. Den Moment, in dem sich die deutsche Politik ernsthaft fragte: Haben wir eigentlich dieselbe Ausgangslage wie in den USA, und was sind angemessene Reaktionen auf unsere Situation?, gab es nie. Das erste eigene Drogenproblem bekam Deutschland eigentlich erst Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre. Da gab es auch in Deutschland eine Heroinwelle. Aber auch die war deutlich schwächer als in den USA.

Man denkt sofort an das Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, das 1978 veröffentlicht wurde. Darin erzählt ein Mädchen namens Christiane F. ihre Geschichte.

Das ist ein Buch, das für ein extrem verzerrtes Bild in den Köpfen der Menschen gesorgt hat, was Drogenkonsum und Abhängigkeit betrifft, und aus dem Mythen stammen, die bis heute in der Legalisierungsdebatte nicht totzukriegen sind, obwohl sie seit Jahrzehnten widerlegt sind.

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Natja Brunckhorst als Christiane F (Foto: picture alliance/United Archives)
Die Geschichte von Christiane F. wurde auch mehrfach verfilmt: Hier Natja Brunckhorst in der Version von 1981 (Foto: picture alliance/United Archives)

Was stimmt denn nicht an der Erzählung?

Da wäre zum einen der Mythos der Einstiegsdroge. Christiane F. konsumiert Cannabis, gerät auf die sogenannte „schiefe Bahn“ und kommt da nicht wieder raus. Cannabis wird so als eine Droge dargestellt, deren Konsum in der Heroinabhängigkeit endet. Das ist widerlegt. Ganz generell ist es so, dass laut wissenschaftlichen Untersuchungen etwa 70 bis 90 Prozent aller Menschen, die illegale Drogen konsumieren, kein Problem mit ihrem Konsum haben, also weder eine Abhängigkeit entwickeln noch andere negative Auswirkungen erleben. Nur zwischen 10 und 30 Prozent entwickeln laut diesen Untersuchungen Abhängigkeiten oder erleiden Drogenunfälle. Und um die muss man sich kümmern. Auch stimmt es nicht, dass man mit dem ersten Zug – und im Übrigen auch nicht mit dem ersten Schuss – sofort abhängig wird. Dazu bedarf es bestimmter Voraussetzungen. Die hatte Christiane F. Aber die werden im Buch nicht als entscheidend problematisiert.

Welche Voraussetzungen sind das?

Es gab ganz offensichtlich Probleme im Leben dieses Mädchens, die dazu geführt haben, dass eine solche „Drogenkarriere“ für sie eine Option war. Grundsätzlich können das psychische Probleme sein, ebenso wie soziale. Eigentlich müsste man sich also um diese Probleme kümmern, wenn man solche Schicksale verhindern will – also um Themen wie Armut, familiäre Konflikte oder Rassismus, oder um die adäquate Behandlung von Traumata und psychischen Erkrankungen. Aber das würde viel Geld kosten und wäre mit sehr viel Aufwand verbunden, denn solche Probleme sind meist komplex. Also ist es leichter zu sagen: Du bist selbst schuld. Du hättest ja keine Drogen nehmen müssen. Und jetzt, wo du das gemacht hast, bist du sowieso verloren, und wir können leider gar nichts mehr für dich tun. Thema erledigt.

Das klingt so, als seien Drogen harmlos. Aber das stimmt doch nicht.

Nein, Drogen sind nicht harmlos. Und das will ich damit auch nicht sagen. Aber mir fehlt der Punkt in der Geschichte, an dem sich kompetente Menschen faktenbasiert und auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhend zusammensetzen und überlegen: Was bringt unsere aktuelle Drogenpolitik, und erreichen wir damit die von uns gesteckten Ziele? Und wem schadet die aktuelle Drogenpolitik und warum? Dass die aktuelle Bundesregierung darüber nachdenkt, wie sie die Cannabisentkriminalisierung – trotz der geltenden internationalen Drogenkonventionen – auf den Weg bringen kann, ist das erste Mal in der deutschen Geschichte, dass das überhaupt jemand macht.

Was fordern Sie denn?

Die internationalen Drogengesetze, deren Entstehen ich skizziert habe, sind keine Naturgesetze. Solche Verabredungen kann man ändern. Und ich finde, darüber sollten wir nachdenken. Was in dieser Debatte nach meinem Dafürhalten nichts mehr zu suchen hat, sind die moralischen Grundprämissen, unter denen diese Gesetze vor sehr langer Zeit entstanden sind – also die klar rassistischen Bewegründe, die zur Kriminalisierung geführt haben, genauso wie der streng protestantische Gedanke, nur ein nüchterner Mensch sei ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft, und die daraus folgende Stigmatisierung, die mit Rausch und Sucht einhergeht. So könnten wir am Ende zu einer Drogenpolitik gelangen, die sowohl wirkungsvoller ist als auch humaner mit den Menschen umgeht, die tatsächlich unter einer Abhängigkeitserkrankung leiden.

Helena Barops „Der große Rausch. Warum Drogen kriminalisiert werden. Eine globale Geschichte vom 19. Jahrhundert bis heute“ ist im Siedler Verlag erschienen.

Helena Barop, geboren 1986, studierte in Freiburg und Rom Geschichte und Philosophie. Ihre Doktorarbeit „Mohnblumenkriege. Die globale Drogenpolitik der USA 1950–1979“ wurde mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt in Freiburg und arbeitet seit 2021 als freie Autorin.

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