Haben Sie schon mal Schlammkuchen gegessen, Monsieur Ziegler? 

Ja, leider. Auf Haiti, denn dort ist es bei vielen eine Hauptmahlzeit, »biscuit dure« genannt, also »harter biscuit « mit der typisch haitianischen Ironie. Die Frauen vermischen dafür Schlamm mit Gemüse und Obstresten oder Algen und lassen das in der Sonne trocknen. Dann wird der Fladen zerschnitten und verkauft – an all die, die sich wegen der explodierenden Mehl- und Maispreise nichts anderes leisten können. Es gibt die Illusion des Essens, blockiert den Magen und stillt das größte Hungergefühl.

Wen trifft der Hunger am schlimmsten? 

Die Babys und Kleinkinder. Die kritische Phase ist von minus neun Monaten bis plus 24 Monate. Also die Zeit der prä- und postnatalen Ernährung, in der sich im Gehirn verstärkt die Neuronen bilden. Selbst wenn ein Kind später adoptiert wird oder der Vater Arbeit bekommt und zu einem normalen Leben zurückkehrt, ist es dauerhaft geschädigt. Das sind Gekreuzigte von Geburt an, Krüppel auf Lebenszeit.

Laut World Food Report stirbt alle fünf Sekunden ein Kind unter fünf Jahren an Hunger und damit verbundenen Krankheiten. Alle vier Minuten verliert jemand das Augenlicht wegen Vitamin-A-Mangel. Seit April 2009 sind zum ersten Mal über eine Milliarde Menschen weltweit schwerst unterernährt, obwohl die Welt reich wie nie zuvor ist. Wie kommt es zu diesem Widerspruch?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Am 12.10.2008 kamen die Staatschefs der EU in Paris zusammen und verkündeten, dass es zur Bekämpfung der Finanzkrise 1.700 Milliarden Euro neue Bankenkredite und Bürgschaften geben wird. In den zwei Monaten danach wurden die Beträge für die Nahrungssoforthilfe um 41 Prozent gekürzt, weil kein Geld mehr für das World-Food-Programme der UN da war, dessen Budget von sechs Milliarden Dollar Ende 2008 auf unter vier Milliarden fiel.

Wollen Sie damit sagen, dass die Bankenkrise die Situation der Ärmsten verschlimmert hat?

Das kann man durchaus so sehen. In Bangladesch hat es dadurch von einem Tag auf den anderen für eine Million Kinder keine Schulspeisungen mehr gegeben, dabei ist das Essen in der Schule für diese Kinder die einzige anständige Mahlzeit am Tag. 

Die UN haben errechnet, dass die Weltlandwirtschaft zwölf Milliarden Menschen ernähren kann, das ist fast doppelt so viel wie es derzeit gibt.Warum hungern dann trotzdem so viele Menschen?

Eigentlich müsste niemand verhungern. Es gibt zum Beginn dieses Jahrtausends keine Fatalität wie früher, als es Hungerflüchtlinge aus Baden- Württemberg gab oder aus dem Tessin. Ein Kind, das heute am Hunger stirbt, wird ermordet. Der Hunger ist menschengemacht. Es gibt den sogenannten »strukturellen Hunger« durch die unterentwickelten Produktionsstrukturen in den armen Ländern. Ein Hektar in der Sahelzone ergibt in normalen Zeiten 600 kg Getreide, in Bayern oder Brandenburg erwirtschaftet man auf derselben Größe Land zehn Tonnen – nicht weil der Bauer in Burkina Faso oder Mali weniger klug oder kompetent ist, sondern weil die Bauern in Deutschland Dünger haben, Traktoren, bessere Samen. Der Bauer in Schwarzafrika hat gar nichts, weil sein Land zu verschuldet ist, um zu investieren. Von den 53 Staaten in Afrika sind 37 reine Agrarländer, die gerade mal vier Prozent ihres Haushalts in die Landwirtschaft stecken. Sie brauchen alle Devisen für den Schuldendienst. 

Das heißt, die Schulden der Länder verschlimmern die Lage?

Die Schulden der 122 Entwicklungsländer betragen zusammengenommen 2.100 Milliarden Dollar. Es ist die Politik des Weltwährungsfonds, die Länder zu zwingen, die Gläubigerbanken zu bezahlen. Dafür benötigt man Kolonialgüter, also zum Beispiel Erdnüsse aus dem Senegal für die Speiseölindustrie oder Baumwolle für die Textilbranche. Überall wo der Weltwährungsfonds Strukturmaßnahmen durchführt, steigen die Agrarflächen für den Export. Wo aber Baumwolle wächst, da wächst keine Hirse mehr. Mali hat im vergangenen Jahr 380.000 Tonnen Baumwolle exportiert, aber etwa 70 Prozent seiner Nahrungsmittel importiert, zum Beispiel Reis aus Thailand, der nach der Ernte drei Monate auf dem Meer unterwegs ist. 

Welche Gründe spielen Naturkatastrophen und Kriege? 

Das nennt man den »konjunkturellen Hunger«, der entsteht, wenn eine Ökonomie plötzlich zusammenbricht wie bei einem Krieg oder bei einer Naturkatastrophe. Davon sind derzeit 71 Millionen Menschen betroffen. Die Massaker in Darfur haben dazu geführt, dass mehr als zwei Millionen Menschen auf der Flucht sind – alles Menschen, die vom World-Food-Programme der UN abhängig sind. In Somalia und Darfur verteilen die UN Tagesrationen für Erwachsene mit 1.500 Kalorien. Dieselben UN sagen, dass das absolute Minimum für einen Menschen 2.200 Kalorien sind. Mit anderen Worten: Wegen fehlender Mittel organisiert die UNO die Unterernährung, die zur Agonie führt. 

Hat die Entwicklungshilfe versagt?

Es geht darum, den armen Länder weniger wegzunehmen, dann macht auch irgendwann das Geben wieder mehr Sinn.

Welche Rolle spielen die Subventionen für die europäische Landwirtschaft?

Das sogenannte Agrardumping ist mörderisch. Im letzten Jahr haben die Industrienationen 349 Milliarden Dollar an Produktions- und Exportsubventionen für Bauern ausgegeben. Die Überproduktion, die so entsteht, wird nach Afrika exportiert. Sie können auf jedem afrikanischen Markt deutsches oder französisches Obst, Gemüs oder Geflügel kaufen – für die Hälfte des Preises der afrikanischen Produkte. Der Bauer, der unter sengender Sonne mit seiner Frau und den Kindern den Acker bestellt, hat keine Chance gegen die Subventionen. Und dann wundern wir uns, wenn die Überlebenden auf morsche Kähne gehen und über das Mittelmeer oder den Atlantik nach Europa zu flüchten versuchen.

Nach dem Zusammenbruch des Immobiliensektors stürzen sich die Banken nun auf den Agrarsektor. Welche Folgen hat das? 

Mit der Finanzkrise sind die Hedgefonds auf die Agrarmärkte ausgewichen und haben dort mit Spekulationen und Termingeschäften astronomische Gewinne erzielt. In fast jeder Schweizer Bank liegen Prospekte für sogenannte »Exchange-Zertifikate « für Reis aus. Das ist eine Art Wette auf den Reispreis. Je mehr mitmachen, desto höher klettern die Reispreise. Große Teile der urbanen Bevölkerung, also die Menschen in den Slums dieser Welt – egal ob in Rio, Karatschi oder Mexico-City –, können sich kaum noch ernähren, weil selbst die Brotpreise explodieren.

Sie kritisieren auch die Herstellung von Biodiesel – dabei ist das einigen Studien zufolge ja eins der wenigen wirksamen Mittel gegen die Erderwärmung.

Im vorletzten Jahr haben die USA 138 Millionen Tonnen Mais verbrannt und Hunderte Millionen Tonnen Getreide, u. a. weil sich die USA von den arabischen Öllieferanten unabhängig machen wollen. 12 Millionen Barrel pro Tag des in den USA verbrauchten Erdöls kommen aus dem Ausland, genauer aus politisch sehr fragilen Weltregionen. 

Zumal es noch mehr Flüchtlinge geben wird, wenn wir die Klimakatastrophe nicht aufhalten.

Dennoch: Solange auf diesem Planeten alle fünf Sekunden ein Kind verhungert, ist das Verbrennen von Nahrungsmitteln ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Für 50 Liter Biotreibstoff müssen sie 120 Kilogramm Mais verbrennen, damit kann ein Kind in Sambia oder Mexiko ein Jahr lang leben. Punkt.

Wie kann man den Hunger in der Welt wirksam bekämpfen? 

Die Gründe für die Katastrophe sind menschengemacht und können alle vom Menschen revidiert werden. Jean-Paul Sartre hat gesagt, wer die Menschen lieben will, muss sehr stark hassen, was sie unterdrückt – in diesem Fall die kannibalistische Weltordnung, die Diktatur des globalisierten Finanzkapitals, das eine Macht hat, die ein König oder ein Kaiser nie hatte. Man kann alle Kausalitäten des Hungers nehmen und alle können in einem demokratischen Staat umgestoßen werden. Man kann zum Beispiel die Börsenspekulation mit Agrarprodukten per Gesetz verbieten, man kann gegen das Verbrennen von Nahrungsmitteln ein Moratorium verhängen und man sollte das Agrardumping verbieten. Die Bürger der westlichen Länder könnten verlangen, dass sich ihre Finanzminister beim Weltwährungsfonds für eine Totalentschuldung der ärmsten Länder einsetzen, anstatt für die Interessen der Gläubigerbanken. 

Aber kann ich als Verbraucher etwas ausrichten? 

Ein junger Mensch darf nie die Idee haben, dass er ohnmächtig ist, dass man nichts tun kann. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Vor zwei Jahren war ich beim G8-Gipfel in Heiligendamm und habe Zehntausende demonstrieren sehen. Das ist eine neue Zivilgesellschaft, die nach dem kategorischem Imperativ handelt. Die Unmenschlichkeit, die einem andern angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir. 

Ist das nicht arg moralisierend?

Ist es nicht, es geht um knallharte politische Interessen: Wenn Parteien in Zukunft Wahlen gewinnen wollen, müssen sie die Forderungen der Zivilgesellschaft übernehmen. Und auch Konzerne müssen den Druck der Verbraucher spüren. 

Warum erscheint die Politik eigentlich so machtlos gegenüber den Konzern- und Bankeninteressen? Es ist doch langfristig so, dass das Elend immer größere Flüchtlingsströme hervorbringt, den Hass auf den Westen schürt und den Terror sät, der einen immensen volkswirtschaftlichen Schaden anrichtet. 

Das ist dem unbedingten Glauben an den Markt geschuldet und dass ökonomische Gesetze wie Naturgesetze seien. Diese metasoziale Sichtweise hat die Parteien vergiftet und verhindert eine analytische Weltsicht. An deren Stelle ist die neoliberale Wahnidee getreten. Die Refeudalisierung der Welt durch Konzerne schafft Abhängigkeiten. Bei Politikern, aber auch bei den Bauern, die für ihr genmanipuliertes Saatgut jährlich Lizenzgebühren zahlen. 

Aber kann die Gentechnik nicht dazu beitragen, den Welthunger zu lindern? 

Das ist die große Lüge der Saatgutkonzerne. Es stimmt zwar, dass die Gentechnik auf der Produktionsseite unglaublich viel leistet. Ich habe in Indien Reissorten mit doppelt so langen Ähren gesehen, wetter- und pestizidbeständig. Die genmanipulierten Auberginen sind zehnmal größer als normale. Aber es gibt zwei Probleme: das Gesundheitsrisiko, das heute noch keiner kennt, und zweitens eine neue Art der Schuldknechtschaft. Die gentechnischen Produkte sind durch Patente abgesichert, da gibt es Lizenzen und Gebühren. Seit Jahrtausenden hat nicht nur in Afrika jeder Bauer einen Teil seiner Ernte als Saat für das nächste Jahr genommen. Wenn sie das in Zukunft tun, kommen die Anwälte der Konzerne und fordern Lizenzgebühren. 

Rund 40 Prozent des EU-Haushalts werden als Agrarsubventionen eingesetzt. Muss man die abschaffen? 

Die Subventionen sind so lange vertretbar, wie es um die Multifunktionalität geht. Die Unterstützung für den Landschaftsschutz muss bleiben. Die Bergbauern im Engadin etwa müssen die Landschaft pflegen, sonst kommt die nächste Lawine und dann ist Schluss. Aber die Exportsubventionen müssen weg, oder wir müssen zumindest Hungerflüchtlingen Asyl gewähren in Europa. Man stirbt ja nicht nur an einer Polizeikugel, man stirbt viel mehr am Hunger. Das muss ein Grund für Asyl sein. 

Kann die Besinnung auf Biolandwirtschaft zu einer gerechteren Verteilung beitragen? 

Nein, kann sie nicht. Ich kann als Konsument für mich und die Umwelt viel tun, aber die Gewaltstrukturen lösen sich dadurch nicht auf. Oder nur ein bisschen: Wenn ich keine gentechnisch veränderte Nahrung esse und Gemüse und Obst nur aus der Region, treffe ich zumindest die großen Nahrungsmittelkonzerne. Außerdem ist Bioanbau gesünder und nachhaltiger für den Boden. Es erhält ihn und erlaubt den Fortbestand einer Landwirtschaft, die nicht der Industrialisierung unterworfen ist.  

Jean Ziegler ist spätestens seit seinem Auftritt in dem Dokumentarfilm »We feed the world« der bekannteste Experte für das Hungerproblem. Er ist Mitglied des Menschenrechtsrats der UN und war deren Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Zuletzt schrieb er das Buch »Der Hass auf den Westen« (C. Bertelsmann, 2009, 286 S.)