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„Schlager hat sich stark modernisiert“

Die Musikwissenschaftlerin Marina Forell erklärt, wie sich Schlager in den vergangenen Jahren verändert hat und warum Helene Fischer so erfolgreich ist

  • 7 Min.
Fans auf einem Helene Fischer Konzert

fluter.de: Frau Forell, wie kann ich mir heute einen typischen Schlagerfan vorstellen?

Marina Forell: Der typische Helene-Fischer-Fan ist im Schnitt 31 Jahre alt, weiblich, Single und hat einen mittleren Bildungsabschluss. Das hat die Hochschule Hannover herausgefunden. Zu den Schlagerhörern und -hörerinnen insgesamt gibt es ansonsten wenig valide Zahlen. Verschiedene Daten zeigen aber, dass Schlager zu den beliebtesten Musikgenres in Deutschland gehört – und zwar längst nicht nur bei älteren Menschen.

Was macht Schlager für jüngere Menschen interessant?

Schlager hat sich stark modernisiert. Es gibt plötzlich coole Beats und sogar Musikvideos, die im Schlager lange keine Rolle gespielt haben. Vieles ist professioneller produziert als noch vor einigen Jahren. Auch die Texte sind für eine jüngere Zielgruppe ansprechend: Es geht um Hedonismus, Partykultur, Verliebtsein. Das übliche, als verstaubt geltende Familienleben, das man aus dem volkstümlichen Schlager kennt, ist in den Hintergrund gerückt. Und es treten neue Akteurinnen auf, die cool und selbstbewusst wirken, zum Beispiel Beatrice Egli oder Vanessa Mai.

Sind die beiden gewissermaßen auf den Helene-Fischer-Zug aufgesprungen?

Helene Fischer hat auf jeden Fall neue Maßstäbe gesetzt, an denen sich auch andere orientiert haben. Man sieht das vor allem an Andrea Berg: Sie hat Fischer keinesfalls kopiert, ihre Inszenierungen und Bühnenshows haben sich aber deutlich professionalisiert. Schlagersängerinnen kamen immer etwas uncool und altbacken daher. Aber Berg sieht mittlerweile eher wie eine Popsängerin aus.

„Queere Schlagerstars wie Ross Antony oder Kerstin Ott treten ganz selbstverständlich in den großen ARD-Shows auf, das ist bemerkenswert“

Hat sich das Frauenbild im Schlager dadurch verändert?

Was die Akteurinnen betrifft, auf jeden Fall. Im Gegensatz dazu stehen aber die Texte, in denen noch immer häufig das ultimative Lebensglück in der heterosexuellen Paarbeziehung gesucht und besungen wird. Allerdings fällt auf, dass der Schlager in den letzten Jahren queerer geworden ist. Queere Schlagerstars wie Ross Antony oder Kerstin Ott treten ganz selbstverständlich in den großen ARD-Shows auf, das ist bemerkenswert. Die queere Schlager-Fanbase, die sich von der Ästhetik angesprochen fühlt, existiert schon länger, wie man zum Beispiel auch beim Eurovision Song Contest sehen kann. Das spiegelt sich langsam auch in den auftretenden Künstlerinnen und Künstlern wider.

Schlager nähert sich der Popmusik also an. Welche Elemente an Fischer und Co. entsprechen denn noch dem typischen Schlager?

Ein Merkmal von Schlager ist, dass er vor allem Sprachrohr der Hörerinnen und Hörer ist. Das heißt, er soll deren Lebenswelt bewusst abbilden. Auch wenn Liebe das vorherrschende Motiv ist, kommen auch andere Themen wie Freundschaft oder Tod vor. Der klassische Pop hingegen ist inhaltlich stark bezogen auf den Künstler oder die Künstlerin und damit eher eine Art Ego-Show. Auch Fischers klare Stimmfarbe und ihre deutliche Artikulation sind Schlager, während Pop – gerade Deutschpop – oft etwas genuschelt daherkommt.

Helene Fischer (Foto: Imago / Fred Gasch)
Die deutsche Beyoncé? Helene Fischer 2022 bei einem Konzert in München (Foto: Imago / Fred Gasch)

Im Deutschpop wären wohl auch die akrobatischen Elemente kaum denkbar.

Was das angeht, ist Helene Fischer die deutsche Beyoncé. Auch bei ihren Outfits und Inszenierungen sieht man sehr klare Parallelen zwischen den beiden Künstlerinnen. Und natürlich, was ihre Perfektion betrifft: Es wird eine öffentliche Persona konstruiert, die vordergründig authentisch ist, aber eigentlich sehr geplant und durchgestylt agiert.

Welche Rolle spielen Sexualität und Erotik? Fischers Lieder scheinen ja voll mit sexuellen Chiffren und Metaphern.

Diese Themen sollen im „Konzept Helene Fischer“ auf jeden Fall existieren und dargestellt werden – allerdings wirkt auch das wieder sehr kalkuliert. Erotik lebt für viele Menschen vom Imperfekten, vom Zufall. Das findet bei Fischer eben nicht statt. Sie verkörpert eine sehr cleane Ästhetik, die passend ist für die heutige Zeit. Sie hat einen perfekten, trainierten Körper und stellt diesen bewusst zur Schau. Und ihr Gesicht entspricht dem klassischen Schönheitsideal, dazu die langen blonden Haare – im Prinzip genau, wie ein Popstar auszusehen hat.

Wieso ist diese Makellosigkeit für jüngere Frauen so ansprechend?

Makellosigkeit hat in unserer Gesellschaft und Medienkultur noch immer einen festen Platz – und prägt damit vor allem das Leben und die Wünsche junger Frauen. Das sieht man auch an TikTok-Trends wie #thatgirl, bei dem es darum geht zu zeigen: Ich lebe ein durchorganisiertes und ästhetisches Leben, stehe früh auf, kümmere mich um meinen Körper, bin – überspitzt gesagt – sehr selbstzentriert und strebe nach der perfekten Version meiner selbst. Und das spiegelt auch Helene Fischer sehr gut wider.

„Der Schlager ist kein Protestsong.Es geht immer noch um den hedonistischen Aspekt, der Spaß steht eindeutig im Vordergrund“

Ist eine Kooperation wie die mit der Rapperin und Influencerin Shirin David für die Neuauflage von „Atemlos“ für Helene Fischer also nur konsequent?

Absolut. Fischer kann damit noch mal eine jüngere Zielgruppe abholen und sich – passend zum Zeitgeist – feministisch positionieren. Was das angeht, war schon ihr Lied „Die Erste deiner Art“ von ihrem Album „Rausch“ ein großer Ausreißer: eine feministische Hymne, die deutlich emanzipatorische Ziele thematisiert. Im Chorus heißt es etwa: „Es zählt nicht, dass dich jeder mag / Lass dir nicht sagen, du wärst schwach“. In der Doku zu dem Album hat Fischer gesagt, dass sie das Lied auch Frauen widmet, die sie kennt, ihren Freundinnen praktisch. Das lässt vermuten, dass sie selbst wirklich hinter der Botschaft steht. Wie feministisch sie persönlich letztendlich ist, werden wir aber wohl nie erfahren.

Der Feminismus ist im Schlager aber wohl noch nicht komplett angekommen, wie man etwa an der „Layla“-Debatte sieht, oder?

Der Ballermann-Schlager ist noch mal eine ganz eigene Welt. Es werden dort kaum Alben, sondern fast nur Singles produziert. Die sind nach einem sehr spezifischen Muster gestrickt und auf Stimmung, Mitmachen und Saufen ausgelegt. Es herrscht eine sehr etablierte Livekultur, die in ganz bestimmten Clubs ausgelebt wird. Dieses Gefühl von „Alles ist so woke geworden, aber wir hauen jetzt noch mal so richtig auf die Kacke“ haben nun mal einige in unserer Gesellschaft, und die fühlen sich dann von solchen Liedern abgeholt. Die vielfältigen gesellschaftlichen Strömungen, die es gibt, halten also auch in den Schlager Einzug.

Ist durch diese Entwicklungen der Schlager insgesamt politischer geworden?

Wenn, dann eher auf zurückgestellte, dezente Art und Weise. Der Schlager ist kein Protestsong und muss diese Funktion auch nicht erfüllen. Es geht immer noch um den hedonistischen Aspekt, der Spaß steht eindeutig im Vordergrund. Aber dass man sich für andere Publikumsschichten und neue Themenfelder öffnet – das ist gegeben, ja.

Wie wird sich der Schlager in Zukunft entwickeln?

Ich glaube, dass sich die Entwicklung in Richtung Pop fortführen wird, dass die beiden Genres immer mehr verschwimmen. Eine große Spotify-Playlist heißt zum Beispiel „Popland“ und beinhaltet beides. Dann gibt es so jemanden wie Andreas Gabalier, bei dem das Traditionelle und Heimatverbundene immer noch vorkommt. Hier kann es sein, dass es weiter zu einer Retraditionalisierung kommt und sogar rechte Tendenzen Einzug halten. Insgesamt wird sich der Schlager weiter ausdifferenzieren – bis auf den klassischen volkstümlichen Schlager: Der hat seine Nische bei den Alten und mittlerweile keine großen Marktanteile mehr.

Marina Forell, Jahrgang 1995, ist Musikwissenschaftlerin und hat ihre Dissertation über „Gender, Frauenbild und Entwicklungstendenzen im deutschen Schlager“ geschrieben.

Titelbild: IMAGO / osnapix

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