Thema – Political Planet

Suchen Newsletter ABO Mediathek

Welche Rolle spielt Ägypten im Nahostkonflikt?

Als erstes arabisches Land erkannte Ägypten 1979 den Staat Israel an. Heute ist es mit seiner direkten Grenze zum Gazastreifen und zu Israel unmittelbar vom Krieg betroffen

Rafah Grenzübergang

Ägypten kommt im Nahostkonflikt, der am 7. Oktober 2023 mit dem Terrorangriff der Hamas und Israels militärischer Gegenreaktion in einen Krieg mündete, eine Schlüsselposition zu. Das hat historische, geo- und sicherheitspolitische sowie wirtschaftliche Gründe.

1948 gehörte das damalige Königreich Ägypten zu jenen arabischen Ländern, die dem neuen jüdischen Staat in ihrer Nachbarschaft nach der Ausrufung seiner Unabhängigkeit den Krieg erklärten. Gleichzeitig flohen rund 700.000 Palästinenser vor der Gewalt aus dem bis dato von Großbritannien regierten Mandatsgebiet Palästina oder wurden vertrieben – ein traumatisches Ereignis, an das in der palästinensischen und arabischen Geschichtsschreibung als „Nakba“, Katastrophe, erinnert wird.

20 Jahre lang war der Gazastreifen ägyptisch besetzt

Im Gegensatz zu Ländern wie dem Libanon oder Transjordanien suchte nur ein geringer Teil der Nakba-Flüchtlinge Zuflucht in Ägypten. Allerdings nahm Ägypten im Zuge des Krieges den Gazastreifen ein, in den rund 200.000 Palästinenser flüchteten. Die ägyptische Kontrolle des Küstenstreifens überdauerte das Kriegsende von 1949 und hielt – mit kurzer Unterbrechung während der Suezkrise 1956/1957 – bis 1967 an.

In der Zwischenzeit wurde innerhalb Ägyptens das Klima gegenüber den dort lebenden 80.000 Juden und Jüdinnen feindseliger. Angesichts zunehmender staatlicher Repressionen, die vor allem nach der Suezkrise zunahmen und etwa Verhaftungen und die Konfiszierung jüdischer Unternehmen beinhalteten, verließen Tausende das Land oder wurden ausgewiesen. Heute besteht die jüdische Gemeinde in Ägypten offiziell nur noch aus weniger als einem Dutzend Personen.

1967 kam es zum Sechstagekrieg zwischen Israel und Ägypten, Jordanien und Syrien, an dessen Ende Israel sein Territorium verdreifacht hatte. Im Verlauf des Krieges erlangte Israel die Kontrolle über den Gazastreifen, die Sinaihalbinsel, die Golanhöhen, das Westjordanland und Ostjerusalem. Der Schock der arabischen Staaten war groß. Ägyptens damaliger Präsident Gamal Abdel Nasser verlor innen- und außenpolitisch massiv an Ansehen. Als Reaktion auf den Krieg verabschiedete die Arabische Liga im September 1967 ihre Resolution der „Drei Neins“ von Khartum: Kein Frieden mit, keine Anerkennung von und keine Verhandlungen mit Israel.

17.14047604.jpg

Museum in Kairo (Foto: Shawn Baldwin/NYT/Redux/laif)
Dieser Krieg ist Geschichte: 1973 kämpften Israel und Ägypten gegeneinander, heute werden Bilder davon in Kairo im Museum gezeigt (Foto: Shawn Baldwin/NYT/Redux/laif)

Am 6. Oktober 1973 kam es zum Jom-Kippur-Krieg. Ägypten, unter der Führung seines damaligen Präsidenten Anwar as-Sadat, griff zeitgleich mit Syrien und unterstützt von anderen arabischen Staaten Israel an. Die ägyptischen Truppen schafften es nicht, den Sinai wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Trotzdem ist der 6. Oktober bis heute in Ägypten ein nationaler Feiertag.

Der nach dem höchsten jüdischen Feiertag Jom-Kippur benannte Krieg läutete einen Wandel in den ägyptisch-israelischen Beziehungen ein. Unter Vermittlung der USA näherten sich beide Staaten vorsichtig an und unterzeichneten 1979 schließlich den Camp-David-Friedensvertrag. Dieser sah unter anderem die vollständige Räumung der israelischen Siedlungen auf dem Sinai vor. Im Gegenzug erkannte Ägypten Israel als erster arabischer Staat an.

Ein Frieden, der nicht allen schmeckt

Sadat und der damalige Ministerpräsident Israels, Menachem Begin, erhielten für ihre Bemühungen schon 1978 den Friedensnobelpreis. Aus arabischer Sicht stand der Vertrag hingegen im klaren Gegensatz zu den „Drei Neins“ von Khartum. Ägypten wurde aus der Arabischen Liga ausgeschlossen, und auch innenpolitisch war Sadats Frieden mit Israel, der von den USA mit steigenden Finanzhilfen belohnt wurde, umstritten. 1981 verübte ein ägyptischer Offizier während einer Parade zu Ehren des 6. Oktobers ein tödliches Attentat auf Sadat.

Die Regierung seines Nachfolgers Husni Mubarak hielt den Friedensvertrag aufrecht, auch wenn sich Mubarak in den ersten Jahren bemühte, öffentlich Abstand zu Israel zu halten und die abgekühlten Beziehungen zu den Palästinensern aufzuwärmen. Als etwa die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) 1988 auf dem Höhepunkt der ersten Intifada ein unabhängiges Palästina proklamierte, drückte Ägypten seine Unterstützung aus.

Wegen seiner strategischen Zweigleisigkeit konnte Ägypten in den darauffolgenden Jahren immer mehr die Rolle des Vermittlers einnehmen. Das Land unterstützte Friedensbemühungen wie den Oslo-Prozess, dessen zweites Abkommen 1995 im ägyptischen Taba unterzeichnet wurde.

Anfang der 2000er-Jahre näherten sich Ägypten und Israel an, obwohl sich weite Teile der ägyptischen Bevölkerung mit der zweiten Intifada solidarisierten. Israel und Ägypten schlossen 2005 einen Deal, dem zufolge Ägypten Israel mit Gas beliefern sollte. Sicherheitspolitisch rückten beide Staaten vor dem Hintergrund der Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen 2007 weiter zusammen, auch weil die Terrororganisation ein ernst zu nehmender politischer Gegner für den diktatorisch regierenden Mubarak schien. Ägypten beteiligte sich an der israelischen Blockade des Gazastreifens und riegelte den Grenzübergang Rafah ab.

Als Mubarak 2011 schließlich im Arabischen Frühling gestürzt wurde, war Israel um das Friedensabkommen besorgt. Vor allem, nachdem Ägypten den Grenzübergang zu Rafah lockerte und bei den ersten freien Präsidentschaftswahlen 2012 der Muslimbruder Mohammed Mursi gewann. Gegen Mursi, der den Friedensvertrag und Ägyptens Vermittlerrolle im Nahostkonflikt wider Erwarten aufrechterhielt, putschte bereits ein Jahr später das Militär unter der Führung des heutigen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi.

Eine löchrige Grenze wird dichtgemacht

Dieser ging nach Mursis Absetzung rigoros gegen die Muslimbrüder vor, was sich zunächst auf Ägyptens Beziehungen zur Hamas im benachbarten Gazastreifen auswirkte. Tausende Tunnel wurden laut ägyptischen Behörden zerstört, über die etwa Lebensmittel oder Baustoffe, aber wohl auch Waffen von Ägypten in den Gazastreifen geschmuggelt worden waren.

Zudem vermutete die Regierung al-Sisis, dass die Tunnel von militanten Islamisten im Nordsinai genutzt wurden, die dem selbst erklärten Islamischen Staat die Treue geschworen hatten. Angesichts des gemeinsamen Feindes kooperierten Ägypten und die Hamas bei der Bekämpfung des IS. Gleichzeitig hielt al-Sisi an gemeinsamen Sicherheits- und wirtschaftlichen Kooperationen mit Israel fest, stärkte die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Länder vor allem im Energiesektor und unterstützte die von den USA initiierten Abraham-Abkommen, die Israels Beziehungen zu anderen arabischen Staaten verbessern sollten.

Rafah

Rafah (Foto: Samar Abu Elouf/NYT/Redux/laif)
Über den Grenzübergang Rafah kommen viele Waren in den Gazastreifen – aber nur wenige Palästinenser nach Ägypten (Foto: Samar Abu Elouf/NYT/Redux/laif)

Seine weitreichenden Beziehungen setzt Ägypten auch seit dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 und dem Krieg im Gazastreifen ein. Zum Beispiel bei den von ihm und Katar vermittelten Verhandlungen um Feuerpausen und die israelischen Geiseln. Dabei hat Ägypten seine eigenen roten Linien von Kriegsbeginn an klargemacht: An einer Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen – einer „zweiten Nakba“, wie sie viele Palästinenser fürchten – wolle sich Kairo nicht beteiligen. Um eine Massenflucht von Palästinensern auf den nach wie vor sicherheitspolitisch angespannten Sinai zu vermeiden, hat Ägypten seine Grenzanlage zu Gaza in den letzten Monaten ausgebaut.

Über die Grenze und den Übergang Rafah gelangte zudem ein großer Teil der humanitären Hilfsgüter nach Gaza, in der entgegengesetzten Richtung wurden Verletzte ins Ausland evakuiert. Auch zahlungsfähige Palästinenser konnten Gaza über den Grenzübergang Rafah verlassen. Dafür mussten sie sich auf das bereits zuvor existierende System einer selbst erklärten ägyptischen Reiseagentur einlassen, mit dem sie sich in ihrer Verzweiflung und gegen Barzahlung mehrerer Tausend US-Dollar die Ausreise in Richtung Ägypten erkaufen konnten – wahrscheinlich im vollen Wissen der ägyptischen Behörden. Mit Israels Einnahme der palästinensischen Seite des Grenzübergangs Anfang Mai kam dieses System jedoch zum Erliegen.

An einer Konfrontation hat Ägypten kein Interesse

Noch vor der Offensive soll Ägypten Israel davor gewarnt haben, im Falle eines Einmarschs in Rafah den Friedensvertrag von 1979 aufzukündigen. Passiert ist das bislang nicht. Vielmehr sollte die Drohung wohl als ein Zeichen nach innen verstanden werden: Ägyptens Wirtschaft hat aktuell einen erneuten Tiefpunkt erreicht, und die Anteilnahme der ägyptischen Bevölkerung gilt klar den Palästinensern. Al-Sisi hat laut ägyptischen Menschenrechtsorganisationen mehrere Aktivisten verhaften lassen, die sich an propalästinensischen Demonstrationen im Land beteiligt und von ihrer Führung eine klare Position gefordert hatten.

Auch außenpolitisch hat Ägypten kein echtes politisches Interesse daran, dass es zur Konfrontation mit Israel kommt: Neben arabischen Staaten wie den Vereinigten Arabischen Emiraten ist Kairo von westlichen Finanzhilfen aus den USA und Europa abhängig. Erst im März stellte die EU Ägypten 7,4 Milliarden Euro in Aussicht. Der Deal beinhaltet neben Wirtschaftshilfen unter anderem Investitionen in die Grenzsicherung, da Ägypten ein wichtiges Transit- und Herkunftsland für viele Migranten und Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa ist und Europa daher ein starkes Interesse an der Stabilität Ägyptens hat.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.