Thema: Bildung

Extraklasse

Es gibt immer mehr Privatschulen. Bereichern sie das Schulsystem? Oder spalten sie die Gesellschaft?

Von Julia Lauter
24. März 2025
Illustrierter Rucksack

Was, wenn die Schule ein Ort wäre, an dem Schülerinnen und Schüler mit Freude lernen? Wenn jede Schule die Mittel hätte, ihre Neugier auf die Welt zu wecken? 

Kurz vor acht. Der Unterricht im Angell-Schulzentrum beginnt erst in zwei Stunden, aber in den Gängen, Klassenzimmern und auf den Treppen sitzen schon jetzt Kinder und Jugendliche, in ihre Hefte und iPads versunken. Sie warten nicht, bis eine Lehrerin oder ein Lehrer den Unterricht eröffnet. Sie fangen einfach an, ihre Wochenaufgaben zu erledigen. 

Alexander Hochsprung schlängelt sich durch die ruhig arbeitenden Grüppchen. Der pädagogische Leiter des Angell führt über den Campus, den sich Grund-, Realschule und das Gymnasium teilen: durch Räume mit bodentiefen Fenstern, angenehmer Akustik, zeitgemäßer digitaler Ausstattung. Durch eine Lounge, in der sich Lehrkräfte mit dem psychologisch-pädagogischen Beratungsteam besprechen. Über den Hof mit Sportangeboten, durch die Bibliothek, den Probenkeller und Aufenthaltsräume, in denen die Schülerinnen und Schüler nachmittags kochen oder Nachhilfe nehmen können. 

Die Schule im Herzen von Freiburg hat alles, was man sich für eine gute Schule wünscht. Aber nicht jedes Kind kann sie besuchen. Zwischen 315 und 430 Euro monatlich zahlen die Eltern hier für die Bildung ihres Kindes. Das Zentrum Angell ist eine Montessori-Schule, heißt: Hier soll jedes Kind in seiner individuellen Entwicklung unterstützt werden. Und die Schule ist ein Unternehmen. Ein gemeinnütziges zwar, das keine Gewinne machen darf, aber eine Einrichtung, die sich ihre Schülerinnen und Schüler aussuchen kann. 

„Die Eltern, die ihre Kinder zu uns schicken, legen mehr Wert auf Bildung als auf ein teures Auto“

Alexander Hochsprung, Leiter des privaten Angell-Schulzentrums in Freiburg

Mittlerweile wird jede achte allgemeinbildende Schule nicht vom Staat betrieben, sondern von privaten Trägern. Von Kirchen, Vereinen oder reformpädagogischen Stiftungen wie hier in Freiburg. Jedes Jahr eröffnen mehr Privatschulen, die Anzahl der Privatschülerinnen und -schüler ist aber seit zehn Jahren konstant. Heißt: Privatschulen werden tendenziell kleiner, während öffentliche Schulen durch Zusammenlegungen immer größer werden. 

Vielleicht ein Grund, warum immer mehr Eltern Tausende Euro für etwas zahlen, das es auch kostenlos gibt? 

Geld und Bildung, das ist ein weites Feld. Vor allem, weil das Geld an allen Ecken fehlt: Schulgebäude und Turnhallen sind marode, die Ausstattung ist oft ungenügend, und den zuständigen Kommunen fehlen Milliarden, um all das zu beheben. 2024 flossen in Deutschland 4,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Bildungseinrichtungen. Das ist weniger als der OECD-Durchschnitt und deutlich weniger als in Nachbarländern wie Frankreich oder den Niederlanden. 

Das hat auch mit der Schuldenbremse zu tun: Die Bundesländer tragen rund 70 Prozent der Bildungsausgaben, durften aber bis zur Reform der Schuldenbremse im März 2025 bis auf wenige Ausnahmen keine neuen Schulden machen. Viele Fachleute und Gewerkschaften forderten deshalb, dass die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse gelockert oder ein Sondervermögen aufgelegt werden soll. 

Weil das lange nicht absehbar war und auch jetzt die konkreten Folgen unklar sind, investierten und investieren immer mehr Eltern selbst in die Bildung ihres Nachwuchses. 13 Jahre Schulbesuch kosten an der Angell mehr als 58.000 Euro. „Die Eltern, die ihre Kinder zu uns schicken, legen mehr Wert auf Bildung als auf ein teures Auto“, sagt Alexander Hochsprung. Die meisten Kinder auf seiner Schule kämen aus der Mittelschicht. „Wir sind keine elitäre Schule und wollen auch keine sein“, sagt Hochsprung. „Wir wollen hier einfach gute Arbeit machen.“ 

Das scheint zu gelingen: 2022 wurde das Zentrum Angell als eine der besten Schulen des Landes mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Aber funktioniert das nur, weil hier eben nicht alle lernen können?

„Mehr Privatschulen führen langfristig zu noch mehr sozialer Spaltung“

Anja Bensinger-Stolze, Schulexpertin der Bildungsgewerkschaft GEW

So sieht es die Schulexpertin Anja Bensinger-Stolze von der Bildungsgewerkschaft GEW: „Dass es immer mehr Privatschulen gibt, liegt auch daran, dass die öffentlichen Schulen nicht so ausgestattet sind, dass sie ihre Herausforderungen bewältigen können.“

Mit steigender Beliebtheit der Privatschulen sinke aber der Druck, das öffentliche Schulsystem zu reformieren und mit mehr Geld auszustatten, sagt Bensinger-Stolze. Das mache den Trend so gefährlich. „Mehr Privatschulen führen langfristig zu noch mehr sozialer Spaltung.“ Dabei ist gerade das durch das Grundgesetz verboten. 

Wird eine freie Schule vom Staat genehmigt, hat sie Anspruch auf Förderung. Wie hoch die ausfällt, entscheiden die Bundesländer selbst. In den meisten decken Privatschulen mindestens 85 Prozent der Kosten, die sie pro Schülerin oder Schüler haben, mit öffentlichen Geldern. Oder, wie Kritikerinnen und Kritiker sagen: Der Staat spart mit Privatschulen Geld. 

Den Rest ihres Budgets müssen die Privatschulen selbst erwirtschaften, meist über ein Schulgeld. Im Artikel 7 des Grundgesetzes steht, dass es an Privatschulen keine „Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern“ geben darf. Heißt: Alle Kinder müssen Zugang zu Privatschulen haben. Wie soll das gehen bei Hunderten Euro Schulgeld im Monat? 

In Baden-Württemberg, wo das Angell-Schulzentrum liegt, erklärt das Regierungspräsidium die Sache so: Verlangt die Schule mehr als 200 Euro Schuldgeld monatlich, muss sie den Eltern Alternativen anbieten. Etwa dass sie sich auf Stipendien bewerben oder beantragen können, nur fünf Prozent ihres Haushaltsnettoeinkommens als Schulgeld zu zahlen. Ob Privatschulen Kindern mit kleinerem Budget mit entsprechenden Alternativen den Besuch ermöglichen, überprüfen die Schulaufsichtsbehörden. Bildungsforschende sagen, dass diese Kontrollen unzureichend sind und nicht dem Anspruch des Grundgesetzes genügen. 

Am Schulzentrum in Freiburg nutzen nur sehr wenige Eltern diese „Rabatte“: Die Zahl der geförderten Schülerinnen und Schüler liegt im unteren einstelligen Prozentbereich. 

Auch wenn der Zugang theoretisch möglich wäre: Kinder aus armen oder migrantischen Haushalten sind an Privatschulen viel seltener zu finden. Eben das sei auch ein Grund für den Privatschultrend, erklärt Karen Lillie vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln: „Viele Eltern der Mittelschicht suchen mit Blick auf die Polykrisen unserer Gesellschaft die Abgrenzung zu ärmeren Gesellschaftsschichten“, sagt die Soziologin, die zum Thema Elitenbildung forscht. Sie dächten dabei nicht an die wachsende Ungleichheit, sondern daran, wie sie ihrem Kind in unsicheren Zeiten die beste Zukunft ermöglichen. „Denen sitzt die Klassenangst im Nacken“, sagt Lillie. 

„Die Idee, dass nicht der Staat, sondern die Eltern für die Bildung der Kinder zuständig sind, drängt aus den USA und Großbritannien hierher“

Karen Lillie, Soziologin

Zum Trend trage außerdem bei, dass Privatschulen im Ausland etabliert seien. „Die Idee, dass nicht der Staat, sondern die Eltern für die Bildung der Kinder zuständig sind, drängt aus den USA und Großbritannien hierher“, sagt Lillie. In Großbritannien besucht die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler unabhängige oder freie Schulen. Berüchtigt sind Eliteeinrichtungen wie das Internat Eton, das rund 75.000 Euro im Jahr kostet und 21 von 27 britischen Premierministerinnen und Premierministern hervorbrachte. 

Aber es geht auch anders. Etwa in den Niederlanden, wo 70 Prozent der Schüler und Schülerinnen auf Privatschulen gehen, die aber zu 100 Prozent staatlich finanziert werden. Und dennoch deutlich mehr Chancengleichheit bieten als deutsche Schulen. Ein Vorbild, findet Alexander Hochsprung: „Das sind vielfältige und inklusive Schulkonzepte, die bewusst vom Staat gefördert werden.“ Das Ergebnis seien Einrichtungen, in denen Gelder schneller fließen und Entscheidungen nicht von unzähligen Stellen mitgetragen werden müssen. „So entwickelt man Lösungen, die dann auch öffentliche Schulen übernehmen können“, sagt Hochsprung. 

Das können pädagogische Ansätze sein: Es waren vor allem Privatschulen, die die Kapazitäten hatten, um Ganztagskonzepte zu entwickeln, Hausaufgaben und Noten abzuschaffen, die Schülerschaft mehr mitentscheiden oder altersübergreifend lernen zu lassen. Das kann aber auch Fragen der Schulausstattung betreffen: Die kann sich das Angell selbst aussuchen, ganz im Gegensatz zu einer öffentlichen Schule. Hochsprung deutet auf einen der großen Fernseher, die hier statt der speziell für Schulen entwickelten interaktiven Tafeln im Unterricht eingesetzt werden. Laut Hochsprung spart das Angell pro Stück rund 4.000 Euro. Tatsächlich liegt der Investitionsrahmen – also das, was die Schule für Ausstattung, Um- und Ausbauten ausgeben kann – nach Angaben des Angell mit 250 Euro pro Kopf im Jahr deutlich unter den 900 Euro, die öffentliche Schulen im Schnitt ausgeben. 

„Wir erreichen hier mit weniger Geld mehr“, so sieht es Hochsprung. Kritikerinnen wie Bensinger-Stolze sagen: Bei einer so homogenen Schülerschaft sei das kein Wunder. „Öffentliche Schulen nehmen alle Schülerinnen und Schüler auf, auch die, die aus benachteiligten Familien kommen und oft besonders viel Unterstützung brauchen“, sagt Bensinger-Stolze. Denen sei mit der Förderung schicker Privatschulen nicht geholfen. 

Schulen wie das Angell profitieren von den Problemen im öffentlichen Bildungssystem, verursacht haben sie sie aber nicht. „Auch öffentliche Schulen können exklusiv sein, wenn sie in reichen Nachbarschaften stehen“, sagt die Soziologin Lillie. 

Wer sich für eine „Schule für alle“ starkmache, müsse über die „Stadt für alle“ nachdenken. Darüber, dass Eltern umziehen, um ihre Kinder in besseren Gegenden zur Schule zu schicken. Dass sich Kinder aus unterschiedlichen Milieus weder auf der Straße noch in der Schule begegnen. 

Anm. der Redaktion: Aufgrund der Reform der Schuldenbremse, die unmittelbar nach Druckschluss des Heftes verabschiedet wurde, haben wir die entsprechende Stelle im Text im Vergleich zur gedruckten Fassung im fluter-Heft Schule leicht angepasst.

Cover des fluter-Hefts Schule
Dieser Artikel ist aus dem fluter „Schule“.
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Illustration: Animationseries2000