Schnappschüsse aus der Gesamtschule

Und, wie war’s in der Schule?

Bildungsgerechtigkeit, Integration, Inklusion: Können deutsche Schulen angeblich alles nicht. Besuch an einer Gesamtschule, die versucht, Lösungen zu finden

Von Ann-Kristin Schöne
Thema: Bildung
24. März 2025

Leistungskurs Sozialwissenschaften, Q2 

Zwei Minuten vor acht, die ersten Schülerinnen und Schüler kommen angeschlurft. Ein Dienstagmorgen, Mitte Dezember. „Was war mit dir gestern? Verlängertes Wochenende oder was?“ Elias’ Frage klingt nicht nur cool, er ist es auch. Brilli im Ohr, Shirt in Weiß und knalleng, damit die Muskeln besser kommen. Beim Ranking im Abibuch hat er gute Chancen auf einen der begehrten vorderen Plätze. 

Elias, der wie alle Schülerinnen und Schüler in diesem Text in echt anders heißt, sitzt neben Azad, Taylor und Bojan in der letzten Reihe, wo auch sonst. Nur ist die letzte Reihe hier nicht nur Team cool, sondern auch Team engagiert. Elias hat eine Frage zum Abi. Das steht im Frühjahr an und beschäftigt alle in der Q2 der Kurt-Tucholsky-Gesamtschule (KTG) in Minden, Nordrhein-Westfalen. Müssen sie wirklich die ganzen globalen Institutionen kennen? Gibt es nicht Themen, die sich überschneiden? Lehrer Dennis Grab lächelt. „Ihr meint, ob ihr auf Lücke lernen könnt? Nein. Schaut euch lieber die alten Abiklausuren noch mal an.“ 

Es ist ein typischer Dennis-Grab-Satz: klar, fordernd, aber den Schülerinnen und Schülern zugewandt. Als Grab auf dem Bildschirm im Kursraum das nächste Thema, Umweltökonomie, einblendet und die ersten „OMGs“ zu hören sind, fängt der 30-Jährige sie direkt wieder ein: „Wir starten bei euch.“ Die Schülerinnen und Schüler sollen auf ihren Tablets notieren, was sie unter einem modernen Leben verstehen. 

Nach wenigen Minuten tauchen auf dem Bildschirm Stichworte auf: „der Westen“, „Technologien im Alltag“, „Fairness“. Aus denen entspinnen sich im Unterrichtsgespräch grundsätzliche Fragen: Gibt es ausreichend Ressourcen auf der Welt? Was bedeutet Nachhaltigkeit? Und was ist eigentlich mit Verzicht? „Eure Generation hat während Corona auf sehr viel verzichtet“, sagt Grab. „Seid ihr dazu weiter bereit?“ In der letzten Reihe gehen alle Hände hoch. 

   Azad: „Die Frage ist doch, wie sinnvoll die Menschen das finden.“ 

   Steffi: „In den sozialen Medien erzählen einem alle, dass man verzichten soll. Aber keiner fragt uns, was wir eigentlich wollen.“ 

   Bojan: „Wir haben ja immerhin den Luxus, überhaupt verzichten zu können.“ 

Bojan ist einer der Leistungsstärksten im Kurs. Während Taylor neben ihm auf dem Tablet durch Fotos von einem BMW-Coupé swipt und Elias schwärmt, dass er auch mal gerne einen „Quattro unterm Arsch hätte“, ist Bojans Hand schon wieder oben. 

Um 8.15 Uhr geht die Tür auf. Tom. Er ist zu spät, sagt aber nichts. Lehrer Grab auch nicht. Muss er auch nicht. Während der anschließenden Gruppenarbeit kommt Tom von allein und entschuldigt sich. 

Sein Job sei schon oft stressig, sagt Grab. Das liege aber selten an den Kindern und Jugendlichen, vielmehr an den Umständen. „Ich schreibe jeden Tag so viele E-Mails wie meine Freunde, die im Büro sitzen.“ Anträge, Orga, Konferenzen, Elterngespräche, der tägliche Unterricht wird da fast zur Nebentätigkeit. 

Als der Pausengong ertönt, klingelt Grabs Handy. Er seufzt. „Ja, ich komme.“ In der Mensa gibt es Sprachprobleme, seine Russischkenntnisse werden gebraucht. Das war’s für Grab mit der Pause. 

Schnappschüsse aus der Gesamtschule

Für diesen Text haben wir die Schülerinnen und Schüler gebeten, ihren Alltag an der KTG selbst zu fotografieren

Englisch, Klasse 6b 

„Es ist wichtig, dass die Kinder gefestigt werden, bevor die Pubertät richtig zuschlägt“, sagt Petra Mans. Was sie meint: Während es in den höheren Jahrgängen und der Oberstufe um Inhalte geht, zählen in den Jahrgängen 5 und 6 vor allem die emotionale und soziale Entwicklung. Mans ist Klassenlehrerin der 6b und die Koordinatorin für Inklusion an der Schule

Rund 1.200 Schülerinnen und Schüler besuchen die Gesamtschule, knapp zehn Prozent haben einen sogenannten Förderbedarf, das heißt: Sonderpädagogisches Personal unterstützt sie beim Lernen. Mit jeder neuen Klasse teilt die Bezirksregierung der Schule durchschnittlich drei Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf zu. „Im Laufe der ersten drei Schuljahre kommen häufig noch Kinder dazu. Aber wir bekommen nicht gleichzeitig mehr sonderpädagogische Lehrkräfte“, sagt Mans. 

In der 6b sitzen drei Kinder mit Förderbedarf. Mans wird sich vorrangig um sie kümmern. Eine Kollegin übernimmt währenddessen den Fachunterricht. Sie schreibt ans Whiteboard, was die Klasse heute erarbeiten soll. Ebenfalls am Whiteboard: die Namenskarten aller Schülerinnen und Schüler, angeordnet auf einem Spektrum von „fantastisch“ bis „Konsequenz“, je nach Verhalten und Beteiligung. 

„Flutra, Natalie, ihr nervt mich richtig.“ Runter auf „Verwarnung“. So deutlich sie kritisiert werden, werden die Schülerinnen und Schüler auch gelobt. Das System scheint zu funktionieren, zumindest für Hanna. Als es für sie runter- statt raufgeht, reißt sie sich zusammen, hört zu, meldet sich. „Ich bin richtig stolz auf dich, dass du jetzt mitmachst“, sagt die Lehrerin. 

„Alter, Theo, ich hasse dich“, schreit Dilara plötzlich ihren Sitznachbarn an. Das mit der Impulskontrolle haut bei Dilara nicht immer so hin, deshalb hat sie einen Förderbedarf. 

Petra Mans redet leise auf Dilara ein und geht schließlich mit ihr in den kleinen Raum, der vom Klassenzimmer durch eine Glasscheibe getrennt oder vielmehr mit dem restlichen Klassenzimmer verbunden ist. Bereits seit 2008 arbeitet die Unterstufe in solchen Räumen, die längst nicht Standard sind. 

Dilara und Mans haben ein hartes Jahr hinter sich. „Am Anfang hat Dilara mich nicht an sich rangelassen, ständig rumgeschrien und totale Ausfälle gehabt“, erzählt Mans. Solche Phasen dauern, sie sind hart, aber man müsse sie aushalten. Gerade Kinder mit Förderbedarf bräuchten eine stabile Begleitung, sagt Mans. „Oft mangelt es genau daran.“ 

Heute lässt sich Dilara auf Mans ein. Die nächsten 15 Minuten sitzt sie gemeinsam mit Lena, die das Downsyndrom hat, im angrenzenden Bereich. Eigentlich muss Lena in Englisch nicht mitmachen. Sie möchte aber. Also hat Mans auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Aufgaben dabei. „Unser Ziel“, sagt Mans, „ist so viel gemeinsamer Unterricht wie möglich.“ 

Schnappschüsse aus der Gesamtschule

Grundkurs Deutsch, Klasse 10 

„Hätte ich Lust gehabt, bis in die Nacht zu korrigieren, hättet ihr die Klausuren heute schon zurück.“ Hatte Dennis Grab aber nicht. Er unterrichtet Deutsch und Sozialwissenschaften, das Korrigieren ist so was wie ein Hintergrundrauschen in seinem Leben. Grab korrigiert morgens, abends, zwischendurch im Lehrerzimmer, an den Wochenenden, in den Ferien. 

Beim Grundkurs muss er nur noch zwei Klausuren korrigieren, Grab hat also schon einen Eindruck von den Ergebnissen. Wie manche darauf kämen, nur in Stichpunkten zu antworten, die teilweise nicht mal ein Verb enthalten, fragt er in die Klasse. „Jeder Satz im Deutschen hat ein Verb!“ 

Grab will, dass seine Schülerinnen und Schüler vorankommen, im Unterricht und im Leben. Er ist aus Überzeugung an einer Gesamtschule, wie die meisten hier. „Die Schule ist fortschrittlicher als die Gymnasien“, sagt Grab. Sie würden hier oft testen, wie Prüfungen aussehen können, die nicht einfach nur aus schriftlichen Klausuren bestehen. Es werde versucht, möglichst nah an den Kindern und Jugendlichen zu sein. „Hier bekommen wirklich alle eine Chance.“ 

Wenn es nach Grab ginge, würde er das mehrgliedrige Schulsystem, das schon im Kindesalter nach Leistung sortiert, abschaffen. „Die Schülerinnen und Schüler, die die meiste Unterstützung brauchen, kommen alle zu uns an die Gesamtschule. Zum Teil sind sie schon an Gymnasien und Realschulen und werden zu uns abgeschult.“ So gehe das Konzept Gesamtschule, die mal eine Schule für alle sein sollte, nicht auf.

Auch Schulleiterin Katharina Langner hält ihre Schülerschaft nicht für ein Abbild der Gesellschaft. „Wir haben sehr viele verschiedene kulturelle Hintergründe an der Schule. Aber nur zwei bis drei Prozent kommen nach der Grundschule mit einer Empfehlung fürs Gymnasium zu uns.“ Alle würden ständig von Integration reden, sagt Langner: „Aber in was genau sollen sie sich denn integrieren, wenn nicht alle Schülerinnen und Schüler zusammen sind?“ Manchen sei gar nicht klar, dass sie auch an der Gesamtschule das Abitur machen können. Und zwar genau das gleiche wie an Gymnasien. Seit 2007 bekommen alle in Nordrhein-Westfalen die gleichen Abituraufgaben. Langner hält das für einen großen Schritt zur Bildungsgleichheit

Auch nach der zehnten Klasse gibt es eine zentrale Abschlussprüfung. Die sei das Ziel, betont Lehrer Grab noch mal vor der Klasse, da müssten sie hin. Er kriegt ein lautes „Çüş“ zurück. Hört man sich bei den Jugendlichen um, was Schule für sie bedeutet, ist die häufigste Antwort: Stress. Ständig gebe es Prüfungen und Noten. Und überhaupt: Wofür brauchen sie den ganzen Kram später eigentlich? Englisch ist gut, „im Urlaub und so“, aber sonst? 

Die Frage stellen sich vermutlich einige in dieser Deutschstunde. Von der Zuckerrübenkönigin, die in einem der Klausurtexte vorkommt, ist es jedenfalls ein weiter Weg in ihren Alltag. 

„Herr Grab, was soll ein Spritzenhaus sein?“ „Hat das was mit Medikamenten zu tun?“ 

Grab erklärt alle Wörter in den Texten zum Thema „Heimat“, die dem Kurs unbekannt sind. Dann geht’s weiter zur Aufgabenstellung. Ist die nicht klar formuliert, können Grab ganze Stunden und Klausuren ziemlich schnell um die Ohren fliegen. „Viele von euch haben in der Klausur geschrieben, dass der Protagonist gerne Döner isst. In der Aufgabe steht aber nicht: Fasse den Text zusammen, sondern: Was verbinden die Menschen mit Heimat?“ 

„Na ja, Herr Grab, da steht schon auch, dass wir die Texte zusammenfassen sollen“, kommt es aus einer der vorderen Sitzreihen. 

Deutsch, Klasse 8c 

Fünf Minuten vergehen, bis es einigermaßen ruhig ist. Die Klasse arbeitet in Gruppen an ihrer eigenen Zeitung, das Ergebnis ersetzt eine Klausur. „Ich verteile euch gleich den Erwartungshorizont. Da könnt ihr nachlesen, wofür ihr Punkte bekommt. Bitte bewahrt den Zettel auf.“ Petra Mans erklärt es noch mal einzelnen Schülern, ihre Kollegin, die den Fachunterricht übernimmt, wiederholt es zur Sicherheit auch für den Rest. 

Die 8c, das sind 29 Schülerinnen und Schüler, vier haben einen Förderbedarf, „da sind die Verhaltensauffälligen nicht mitgerechnet“, betont Mans. Während die anderen an ihren Artikeln schreiben, nimmt sie Matteo mit nach nebenan, in einen Differenzierungsraum, und erklärt ihm seine Aufgaben. „Inhaltlich arbeiten alle am gleichen Thema, aber eben auf verschiedenen Niveaus.“ Matteo soll entlang der W-Fragen die wichtigen Informationen aus einem Zeitungsartikel herausarbeiten. Wer? Was? Wo? Wann? Warum? Die Tür bleibt offen. 

Nebenan ist es wieder laut geworden, die Gruppen haben sich gefunden. Lina, Omar, Sofie und Mohamed sind eine davon. Das Zeitungsprojekt finden sie „chillig“, weil sie nicht mit der ganzen Klasse lernen müssen: Die geht ihnen selbst schon auf die Nerven. „Nicht schlimmer als andere achte Klassen“, sagt Mans. „In der Pubertät sind sie mitunter richtig anstrengend. Aber ab der neunten Klasse fangen sie an zu verstehen, wofür sie hier sitzen.“ 

Lina muss ihre Texte zum Thema „Beauty“ überarbeiten: Sie seien mehr Werbung als Bericht, sagt die Lehrerin. Lina zückt ihr Handy, dreht sich verstohlen um, öffnet ChatGPT. „Kacke, das ist viel zu schlau. Da merken sie sofort, dass die KI das geschrieben hat.“ 

Omar braucht noch ein Foto für den Fahrradunfall, um den es in seinem Bericht geht. Schnell gemacht über die Google-Bildersuche, und genauso schnell muss Omar das Foto wieder löschen. Die Deutschlehrerin erklärt ihm, warum keine Verletzten gezeigt werden sollen. 

„Macht bitte selbst Bilder.“ „Wallah, was? Gar keine Bilder aus dem Internet?“ „Soll er selbst mit dem Fahrrad hinfallen oder was?“ Mohamed hat heute so gar keinen Bock, sich zu beteiligen. Lieber beschimpft er Sofie als „dumme Schlampe“. Die kontert: „Junge, halt die Fresse. Verpiss dich jetzt mal.“ 

Mans und ihre Kollegin bekommen viele der verbalen Attacken mit, gehen aber nicht auf jede ein: „Sonst würden wir hier zu gar nichts kommen. Manches musst du als Lehrerin einfach ausblenden und, ganz wichtig, nicht persönlich nehmen.“ Es gebe nichts Schlimmeres, als lustlos in der Klasse aufzuschlagen. „Das merken die sofort.“ 

Als um 13.15 Uhr die Stunde endet und alle ihre Sachen zusammenräumen, hält Lina den Zettel mit dem Erwartungshorizont in Omars und Sofies Richtung. „Was sollen wir damit noch mal machen?“ 

Schnappschüsse aus der Gesamtschule

Grundkurs Deutsch, Klasse 10 

„Ich korrigiere das für euch. Nicht für mich.“ Bevor er die Klausur zurückgibt, macht Dennis Grab noch eine Ansage: Es sei wichtig, dass sie sich seine Anmerkungen und die Verbesserungsvorschläge angucken. 

Musa hebt seine Hände zum Gebet, Arne legt den Kopf auf die Tischplatte. Unter seiner letzten Arbeit stand „Maschine“ neben dem Sticker einer Waschmaschine. „Herr Grab, warum haben wir dieses Mal keine Sticker bekommen?“ „Hatte nicht mehr so viele schlechte“, kontert Grab. „Alter, der saß“, murmelt Arne. 

Wie Schülerinnen und Schüler die Schule wahrnehmen, hängt vor allem von den Lehrkräften ab. Wie sie abschneiden, auch. Dabei scheint es ganz einfach zu sein: Wer die Schülerinnen und Schüler respektiert, den respektieren sie. Im Alltag gehört dazu eine Menge, allem voran der Glaube an die Kinder und Jugendlichen

Aaliyah hat eine Fünf plus, sie ist enttäuscht. Dabei ist sie erst vor einem Jahr aus Syrien nach Deutschland geflohen. Grab versucht ihr deutlich zu machen, wie unglaublich weit sie schon ist. „Wenn du so weitermachst, schaffst du deinen Abschluss nach der Zehnten.“ Noten sagen manchmal gar nichts aus. 

Lehrer Grab motiviert noch mal den ganzen Kurs, erinnert an die Charakterräume. In denen stellen die Schülerinnen und Schüler die Figur aus einem Buch visuell dar, mithilfe einer KI oder selbst gebastelt aus Pappe. „Ihr habt zur Gestaltung viele Möglichkeiten“, sagt Grab. „Und der Charakterraum zählt genauso viel wie die Klausur.“ 

Tjare hört gar nicht hin, er will jetzt einfach nur seine Note wissen. Endlich legt Grab den Klausurbogen auf seinen Tisch, Tjare dreht ihn um: „Ja, Mann! Eine Drei!“ High fives werden verteilt. „Ey, Herr Grab: Ich werde Deutschlehrer wie Sie!“ 

Cover des fluter-Hefts Schule
Dieser Artikel ist aus dem fluter „Schule“.
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