
Wir treffen uns um 7 Uhr, und Chip bringt das Blut
Achtung, Achtung: Das ist eine Übung. Denn in den USA rüsten sich die Schulen gegen Amokläufe
Knapp drei Stunden, bevor es losgeht, braucht er nur noch eins: Blut. Wie ein Chemiker beugt sich John „Chip“ Bancroft, Anfang 60, Basecap, Poloshirt, über einen Klapptisch und rührt in einer breiigen Masse. Vor ihm Tupperdosen, eine Anderthalb-Liter-Flasche Schokoladensirup, Spülmittel und zerdrückte Eierschalen, die wie echte Knochensplitter aussehen. Denn darum geht es. Alles soll möglichst realistisch wirken beim Horrorszenario, das Chip an diesem vorletzten Wochenende der Sommerferien geplant hat: einem Amoklauf an einer Schule.
Wenn die Rettungskräfte und Polizisten am Tatort eintreffen, soll Chips Szenario sie überwältigen. Logistisch. Psychologisch. „Ich will den ‚Ach du Scheiße, was ist hier los?‘-Ausdruck auf ihren Gesichtern sehen“, sagt Chip.
Es ist einer der größten Albträume: Amokläufe. Besonders an Schulen. Politik, Polizeibehörden und Eltern in den USA nehmen immer größere Anstrengungen auf sich, geben Milliarden US-Dollar für Sicherheitsmaßnahmen aus. Aber die Zahl der Vorfälle nahm in den vergangenen Jahren dramatisch zu. 2024 kam es laut der Datenbank K-12 School Shooting zu 331 Vorfällen mit Schusswaffen an US-Schulen, darunter auch Selbstmorde und Auseinandersetzungen mit Waffengewalt.
Schusswaffen sind allgegenwärtig
Das Recht auf Waffenbesitz ist in der US-amerikanischen Verfassung festgehalten und für viele Landsleute ein unveräußerliches Freiheitsrecht. In vielen Bundesstaaten darf man mit 18 Jahren eine Waffe kaufen. In lediglich sechs ist das offene Tragen von Waffen verboten, in 38 Bundesstaaten braucht man für eine Handfeuerwaffe nicht mal eine Lizenz oder eine Registrierung. Und so vollziehen sich nach Amokläufen mittlerweile eingeübte Rituale: Hinterbliebene trauern und fordern schärfere Waffengesetze, Politiker senden „thoughts and prayers“, und alles bleibt, wie es ist.
„All die Diskussionen helfen nicht“, sagt Chip. „Ich kann mich nicht um Politik kümmern, aber um die Sicherheit unserer Kinder.“ Während er in seinem Blutbrei rührt, steigen die ersten Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Übung aus den Autos ihrer Eltern.

Die Fotos zu diesem Beitrag zeigen ein Amoktraining in Greenport, New York, einem Nachbarort von Mattituck
An der Mattituck High School auf Long Island, New York, wollen sie an diesem Augustmorgen folgendes Szenario simulieren: Während eines Spiels auf dem Softballfeld gibt es nacheinander zwei Explosionen. Ein fiktiver Attentäter eröffnet das Feuer, verletzt Spieler und Zuschauende und verschanzt sich im Schulgebäude. Während die Polizei in einem Nebengebäude die Verfolgung des Attentäters übt, konzentriert sich Chips „Operation Local Tragedy“ auf die Opfer. An ihnen sollen heute Behörden und Rettungskräfte geschult werden. Wer muss zuerst versorgt werden? Wen müssen sie wegen einer lebensgefährlichen Verletzung sterben lassen, um andere Leben zu retten?
Chip weiß: Wie in so vielen kleinen Gemeinden in den USA reichen die Behandlungskapazitäten in Mattituck und Umgebung bei einem Amoklauf nicht aus, es gibt zu wenig Operationssäle und zu wenig Blutkonserven. Alle Kräfte müssen zusammenarbeiten, die Abläufe automatisch sitzen, unter Zeitdruck und potenziell traumatisierenden Bedingungen. Das geht nur mit Training.
Seine erste Amokübung plante Chip während seiner Zeit als Kommandant der freiwilligen Feuerwehr, 2013 war das, kurz nach dem Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School. In Newtown, einer Kleinstadt 80 Kilometer nördlich, war ein 20-Jähriger mit dem Sturmgewehr seiner Mutter in seine ehemalige Grundschule eingedrungen und hatte 20 Schulkinder und sechs Schulangestellte erschossen. Chip bekam eine Anfrage aus Greenport, einer Nachbargemeinde von Mattituck: Ob er ein Übungsszenario für den Amoklauf an einer Schule entwickeln könne?
Plötzlich ein dumpfer Knall, dann: Schreie
Nachdem Chip den Helfern das Blut zum Schminken gebracht hat, verteilt er Sonnencreme und Wasserflaschen und erinnert die Helfenden, die Opfer mit den schwersten Verletzungen am Zugang zum Sportfeld zu platzieren. Er blickt über die weite Rasenfläche. Plötzlich ein dumpfer Knall. Dann noch einer, wie von Silvesterböllern, und Schreie. Chip schaut auf die Uhr. 9.45 Uhr. Er wählt die 911.
Am Rand des Innenfeldes liegt ein Teenager auf dem Rücken, die Beine ausgestreckt, seine Nase wirkt wie in Ketchup getaucht. Nur die Nasenlöcher sind noch zu erkennen. „Helft mir, wo bleibt ihr, es tut so weh“, schreit er. Laut, aber nicht zu oft, so wie es ihm die laminierte Karte auf seiner Brust vorgibt. Zwischen seinen Schreien hört er eine andere Stimme, die über das Feld kommt und geht wie eine Brandung. Im Geplärre der Walkie-Talkies, den Rufen und Wehklagen der anderen Verwundeten sticht sie heraus: „Come on, ihr seid verletzt, schreit, ruft, macht es so realistisch wie möglich!“
Und wieder schreit Wyatt Nicholas Race, 17 Jahre, mit zusammengekniffenen Augen den tiefblauen Himmel an. Seine Mutter hat ihn und einen Freund an diesem Morgen aus dem Örtchen Water Mill nach Mattituck gefahren. 40 Minuten im Auto, um einen Schwerverletzten zu spielen, der um sein Leben bangt. Aus dem gesamten Norden von Long Island sind sie gekommen, ein paar Kinder von sieben, acht Jahren, aber vor allem Highschool-Schüler wie Wyatt. Er gehöre zu den Besten seiner Schule, sagt Wyatt, er sei ein Anführer. Als die Leiterin einer lokalen Jugendorganisation vor Wochen in einem Zoom-Call von der Übung erzählte, habe er gleich zugesagt. Ihn trieb die Neugierde, der Nervenkitzel, aber nicht nur. Wyatt will seine Erfahrungen aus Mattituck nach den Ferien weitergeben.

Laut dem Gun Violence Archive starben 2024 in den USA rund 17.000 Menschen durch Schusswaffen (ohne Suizide). Unter Jugendlichen sind sie bis heute die häufigste Todesursache vor Krankheiten und Verkehrsunfällen
Er setzt sich unter eines der Pavillonzelte. Zwischen Kaffeebechern und Donut-Tüten blühen Schusswunden. Eine Helferin tunkt einen Schwamm in das Kunstblut. Wyatt wundert sich über den Schokoladengeruch und das darin getränkte Toilettenpapier, das die Wunden matschig aussehen lässt. „Eklig, oder?“
Innerhalb von Minuten werden Kinder und Teenager zu Schwerstverletzten. Sie legen sich auf die Sitzbänke der kleinen Zuschauertribüne, kauern sich unter die Metallgerüste, Wyatt streckt sich auf das Grün des Sportfeldes. Dann knallt es auf dem Softballfeld, einmal, zweimal, und 53 junge Menschen beginnen, wie verrückt zu brüllen.
„Die Explosionen haben in mir einen Schalter umgelegt“, sagt Wyatt drei Tage später. „In der einen Minute machen wir Witze darüber, wie wir aussehen. In der nächsten liegst du auf dem Boden und schreist um dein Leben.“ Wyatt ist groß gewachsen, ein junger Mann mit kupferrotem Haar, die Gesichtszüge noch kindlich. Das kommende ist sein letztes Jahr auf der Highschool, danach geht er auf ein College. „Wir alle haben von Amokläufen gehört“, sagt er. „Welche Angst die Leute dabei haben müssen. Da hat mir die Übung die Augen geöffnet.“ Natürlich, zu Anfang habe er vor allem an sich gedacht. Wann werde ich gerettet? „Aber die Masse an Verletzten hat mir klargemacht: Es geht hier nicht um mich allein.“
Es ist auch ein Milliardenmarkt
Landesweit rüsten sich Schulen gegen die Bedrohung eines Amoklaufs. Der Markt für Schul- und Campussicherheit ist weitgehend unreguliert: Anerkannte Zertifizierungen gibt es ebenso wenig wie landesweite Standards. Aber die Nachfrage steigt. 2021 setzten Sicherheitsfirmen, die sonst vor allem Banken und Arenen ausstatten, mit US-amerikanischen Bildungseinrichtungen erstmals über drei Milliarden US-Dollar um. Laut Daten des National Center for Education Statistics haben 96 Prozent der Schulen im Land einen schriftlichen Plan, wie sie im Fall eines Angriffs vorgehen. Auch Wyatts Schule. Seit er sich erinnern kann, führt sie sogenannte Lockdown Drills durch.
Manchmal wissen sie, dass so eine Übung ansteht. Anderntags scheppert aus dem Nichts die Stimme des Rektors aus den Lautsprechern: „Lockdown, lockdown!“ Die Klassenzimmertür verriegelt sich automatisch, Lehrkräfte schließen die Fenster, ziehen Jalousien zu und schicken ihre Klassen in die toten Winkel des Raumes. Dort verharren sie bei gelöschtem Licht und stumm geschalteten Handys. Bis ein Polizist die Tür öffnet und sagt: Alles okay, ihr könnt rauskommen.
„Irre. Surreal“, nennt Wyatt diese Minuten. Laut Sicherheitsbehörden sind sie unerlässlich, um Schülerinnen und Schüler zu schützen. Fachleute halten die Übungen für potenziell traumatisierend, gerade für Kinder im Grundschulalter. Eine große Studie von 2023 bemängelt, dass sowohl fundierte Anleitungen für die Durchführung als auch Daten zur Wirksamkeit und damit die Sinnhaftigkeit solcher Lockdown Drills fehlen.

Alles soll so realistisch wie möglich sein, auch die aufgeklebten Wunden. In vielen Bundesstaaten sind solche Übungen Standard, in manchen sogar gesetzlich vorgeschrieben
Nach dem Amoklauf von Sandy Hook 2012 hatte die National Rifle Association (NRA), eine der mächtigsten Lobbygruppen der USA, vorgeschlagen, an allen Schulen des Landes bewaffnete Wachleute einzusetzen. Der damalige Präsident Barack Obama wollte lieber die Kontrollmaßnahmen für den Waffenbesitz verschärfen. Aber das gelang ihm nicht. In den folgenden Jahren stieg die Zahl der öffentlichen Schulen mit Wachpersonal auf zwischenzeitlich 65 Prozent. In jeder zweiten Einrichtung sind zusätzlich bewaffnete Polizeibeamte präsent. Dabei belegen Studien nicht eindeutig, dass Polizeipräsenz schweren Gewalttaten an Schulen vorbeugt. Was sie belegen: In Anwesenheit von Polizistinnen und Polizisten vervielfachen sich Schulverweise und Verhaftungen, die insbesondere bei Schwarzen und lateinamerikanischen Jugendlichen zu einer Frühkriminalisierung führen.
Die Schule als Festung? Nicht, wenn es nach Wyatt geht. Er hofft, dass seine Highschool ein Ort des Lernens bleibt. Er erzählt von Forderungen, die Lehrkräfte verdeckt Schusswaffen tragen zu lassen. Das ist in vielen Bundesstaaten bereits erlaubt – und eine der Lieblingsforderungen des alten neuen US-Präsidenten Donald Trump. Wyatt beunruhigt die Vorstellung, sein Mathelehrer könnte eine Handfeuerwaffe unter dem Jackett tragen. „Ganz ehrlich“, sagt er, „das würde mir das Gefühl von Sicherheit eher nehmen.“
Mit jedem Opfer, dass die Rettungskräfte vom Rasen zu den Rettungsfahrzeugen bringen, entspannt sich John „Chip“ Bancrofts Gesicht. Es gab ein paar Ungereimtheiten bei der Nutzung der Funkfrequenzen, sonst läuft die „Operation Local Tragedy“ reibungslos.
In wenigen Wochen wird er die nächste Übung vorbereiten: die Erlaubnisse der lokalen Behörden einholen, die Nachbarschaft aufklären, Freiwillige suchen, Helfer-T-Shirts, Kaffee, Donuts und täuschend echtes Blut aus Schokoladensirup besorgen. Rund 3.000 US-Dollar zahlt Chip dafür aus eigener Tasche, er verdient mit alldem keinen Cent: Die Übungen seien ein Dienst an seiner Community. „Wir wollen einfach, dass unsere Kinder sicher sind.“
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