
Und oben der Krieg
Weil Russland die Stadt bombardiert, ziehen Charkiws Schulen in U-Bahn-Stationen. Wie lernt man sechs Meter unter der Erde?
„Wenn die Bomben kommen, rennen wir in den Bunker“, sagt Yaroslav und nimmt einen Schluck heiße Schokolade. Er sitzt in einem Café in der Innenstadt von Charkiw und erzählt vom Krieg, genauer: vom Schulunterricht im Krieg. Der 13-Jährige besucht eine Privatschule, die versucht, Normalität in einen Alltag zu bringen, der schon lange keiner mehr ist.
2014 besetzte Russland Teile der Ostukraine. Vor drei Jahren begann die russische Armee dann den Krieg gegen die gesamte Ukraine. Seitdem ist Charkiw im Nordosten, 30 Kilometer vor der Grenze zu Russland, extrem umkämpft. Erst kamen Bodentruppen, dann Drohnen, Raketen und Gleitbomben, zwischenzeitlich drängten ukrainische Truppen die russischen zurück, bevor die wieder zum Großangriff ansetzten. Bis zum Frühjahr 2025 hat weder die eine noch die andere Seite an der Front große Geländegewinne gemacht. Fast täglich gibt es Angriffe.
Yaroslav ist eines der wenigen Kinder in der Stadt, die noch eine überirdische Schule besuchen können: Die staatlichen Schulen unterrichten nur noch online oder unter der Erde, in Metrostationen und eigens errichteten Bunkeranlagen.

Schüler wie Yaroslav machen sich großen Druck: In weiten Teilen der Ukraine ist es ein Privileg, überhaupt in Präsenz unterrichtet zu werden. Dem wollen sie gerecht werden
Neben Yaroslav sitzt Hanna Svietlova, seine Mutter. „Eigentlich sollte mein Sohn seit einer Stunde beim Fußballtraining sein“, sagt sie. Aber das wurde abgesagt, Bombenalarm. Dreimal die Woche geht Yaroslav auf eine Privatschule in der Innenstadt, zwei Tage lernt er zu Hause im Onlineunterricht, damit andere in Präsenz lernen können: Der Bunker der Schule bietet im Ernstfall zu wenig Platz für alle. „Der überirdische Unterricht ist gefährlich“, sagt Svietlova. Sie wolle aber nicht mitten im Krieg eine neue Schule für ihn suchen, mit neuen Kindern und neuen Lehrkräften.
Durch den Krieg, sagt Yaroslav, habe er viele Freunde verloren. Einige sind ins Ausland geflohen, andere sind geblieben, dürfen aber nur noch selten raus. Sich immer nur online zu sehen zermürbe, sagt Yaroslav, es verändert Menschen, auch ihn: „Als der Krieg ausbrach, war ich noch ein Kind.“ Heute begreife er, was hier passiere. Das Heulen der Sirenen, das Maschinengewehrfeuer der Flugabwehr, die Explosionen. Yaroslav sagt, er habe keine Angst mehr. „Ich habe mich daran gewöhnt.“

Sicherheit statt Tageslicht: Fünf Schulen in U-Bahn-Stationen gibt es in Charkiw bereits
Eine schnelle Gehminute von Yaroslav und dem Café entfernt, in der U-Bahn-Station der Universität, liegt die erste unterirdische Metroschule Charkiws. Die Stadt unterhält fünf solcher U-Bahn-Schulen und hat eine eigene Bunkerschule gebaut. Zwölf weitere sind geplant. Von den ehemals rund 100.000 schulpflichtigen Kindern leben laut der Charkiwer Schulbehörde noch 53.000 in der Stadt, gut 6.300 besuchen eine Untergrundschule.
Hinter Türen, vor denen Sicherheitskräfte stehen, läuft der Matheunterricht. Hanna ist acht Jahre alt, hat große Augen, einen Zopf, der ihre dunklen Haare zusammenhält, und Stecker aus roten Herzen an beiden Ohren. Sie spricht schnell, sie hat große Pläne, also viel zu erzählen. Wenn sie älter ist, wolle sie Gymnastiktrainerin werden. Hanna übt drei Stunden lang an vier, manchmal fünf Tagen die Woche, damit sie Gymnastikchampion werden und Olympia gewinnen kann.
Erst kam die Pandemie, dann der Krieg
Einen normalen Schulalltag hat sie nie erlebt: Erst kam die Pandemie, dann der Krieg. Sie mag die Metroschule, weil es hier sicher sei und andere Kinder neben ihr sitzen. Herumrennen würde sie schon gerne in den Pausen, aber wie soll das gehen: Die Schule hat keinen Pausenhof. Nur einen langen Gang mit sieben schmalen Klassenräumen auf der einen und abgeklebten Fensterscheiben auf der anderen Seite. Unterhalb der Scheiben warten Menschen auf ihre U-Bahn. Der Boden vibriert, wenn ein Zug einfährt.
Neben Hanna lernt Kataryna. Sie sitzt aufrecht auf ihrem kleinen Stuhl und schaut streng. In den Malunterricht gehe sie besonders gerne, sagt Kataryna, denn dabei dürfe sie Musik hören. Die Musik und das Malen beruhigen sie. Am liebsten pinselt sie Bilder vom Meer und von Seen mit Bäumen an den Ufern und Blättern an den Zweigen. Wenn sie groß ist, sagt Kataryna, möchte sie ans Meer ziehen oder an einem See wohnen. „Dann kann ich das Fenster aufmachen, es ist still draußen, und ich werde die Bäume und das Wasser malen.“

Wenn sie groß ist, will Kataryna ans Meer ziehen oder an einen See. Hauptsache, Stille
Angst habe sie vor großen Höhen und vor den „boom booms“, wie sie die Raketen und Drohnen nennt. Eines Nachts, sagt Kataryna, im Frühjahr, sei sie aufgewacht, als die Sirenen heulten. Durchs Fenster habe sie einen hellen Lichtschein gesehen, der vom Himmel stürzte. Dann krachte es laut, die Luft zitterte. Kataryna rannte zu ihrem Vater, der sie in die Arme nahm. Ein „boom boom“, sagte sie, sei vor ihrem Haus eingeschlagen. „Papa meinte, es wird alles gut.“
Vor Hanna und Kataryna, an einem großen Bildschirm, der als Tafel dient, steht Svitlana Povarchuk, die Klassenlehrerin. Zweimal die Woche trifft sie ihre Klasse in der Metroschule, an den restlichen Tagen gibt sie Mathe, Geschichte oder Geografie im Onlineunterricht. An dem nehmen auch ukrainische Kinder teil, die ins Ausland geflohen sind.
Zum Toben fehlt der Platz
Der Krieg habe die Kinder verändert, „sie benehmen sich älter, als sie sind“, sagt Povarchuk. Sie erzählt von Kataryna, die morgens pünktlich zur Schule erschien, trotz der Rakete, die nachts um drei im Nachbarhaus eingeschlagen war, und erklärte, der Krieg werde sie nicht hindern, der Unterricht sei wichtig für sie. „Das sind Drittklässler“, ruft Povarchuk. „Die sollten spielen, toben, Kinder sein, sorgenlos. Der Krieg raubt ihnen diese unbeschwerte Zeit.“
Povarchuk merkt, dass es den Kindern zunehmend schwerfällt, sich über längere Zeit zu konzentrieren. Sie sitzen zu viel: zu Hause, im Bus, in der Schule. „Es gibt kaum noch Möglichkeiten, sich in oder nach der Schule auszutoben, dem Hirn eine Pause zu gönnen, um den Unterrichtsstoff zu verarbeiten.“ Povarchuk versucht zu helfen. Sie lässt die Kinder zwischen zwei Aufgaben Hampelmänner machen, gibt in den Ferien online Nachhilfe.

Enge Gänge: Für Sportunterricht ist unterirdisch kein Platz, er findet nicht statt
Russisch und Sport sind seit dem russischen Überfall gestrichen. Unterirdisch ist kein Platz für Sportunterricht, und die Sprache des Angreifers will hier niemand lernen. Povarchuk bespricht regelmäßig mit den Kindern, wie sie sich bei Angriffen schützen können, wo sie Deckung finden und dass man nicht zu lange an der Bushaltestelle warten sollte. Sonst sei vieles wie vor dem Krieg, sagt Povarchuk, derselbe Stoff, dieselben Tests, sie benote auch nicht weniger streng.
Am Ende des Gangs sitzt Liudmyla. Hinter ihr ein Schrank mit Medikamenten in Glasfläschchen und ein Verbandskasten. Ihren Nachnamen möchte Liudmyla nicht verraten: Ihr Sohn diene im Militär, und sie wolle ihn nicht gefährden. Seit zehn Jahren arbeitet die 68-Jährige als Schulkrankenschwester. Aber seit drei Jahren kommen kaum noch Kinder.
Vor dem Krieg, sagt Liudmyla, seien die Kinder durch die Schulgänge und den Garten gerannt. Fiel eines hin, schnitt sich jemand, half Liudmyla: Sie tupfte Desinfektionsmittel auf abgeschürfte Haut, verband Knöchel, klebte Pflaster. Inzwischen, sagt sie, seien die Kinder verschlossener, nur noch vereinzelt renne einer durch den Gang, niemand fällt mehr hin.
Mehrmals die Woche besucht Liudmyla ihre alte Schule, die an einer Straßenkreuzung liegt, einsam zwischen den Panzersperren aus Beton und Sandsäcken, die zu Mauern aufgetürmt sind. Liudmyla schneidet die Büsche im Schulgarten, putzt die Fenster und wischt den Boden im Schulhaus. Am Chaos draußen kann sie nichts ändern, aber hier drin soll alles sauber bleiben. „Stell dir vor, morgen ist der Krieg vorbei, die Kinder kommen, und die Fenster sind dreckig.“ Das, sagt sie, dürfe auf keinen Fall passieren.
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