fluter: In Familien hängt der Haussegen gern mal schief. Wann kracht’s zwischen euch?
Anja (50): Wir sind beide sehr emotionale Menschen, die ihre Rückzugsräume brauchen. Marie ist in der Ganztagsschule, ich arbeite den ganzen Tag: Wenn wir nach Hause kommen, geht jede erst mal in ihren Bereich. Machen wir das nicht, kann es knallen.
Marie (16): Genau, wenn wir gestresst sind, schreien wir auch mal rum. Aber wir beruhigen uns auch schnell wieder. Wir können ehrlich miteinander sein. Das lockert das ganze Erziehungszeug auf.
Anja: Maries Meinung zählt genauso wie meine, auch wenn ich die Aufsichtspflicht habe. Wir haben keine Dauerkonflikte, aber unsere Triggerthemen im Alltag.
Zum Beispiel?
Anja: Ich muss Marie erinnern, im Haushalt zu helfen. Wir sind beide oft nicht zu Hause, trotzdem bleibt viel an mir hängen. Und beim Weggehen hatte sie die Angewohnheit, mir erst Bescheid zu sagen, wenn sie schon in der Tür stand. Ich möchte vorher gefragt werden. Aber nicht, weil ich die Macht will, sondern weil ich für sie verantwortlich bin.
„Beim Streiten zeigt man dem anderen, wer man ist. Es ist wichtig, um zu wissen: Was sind meine Werte, Bedürfnisse und Grenzen?“
Marie: Ich weiß ja, wo ich hingehe, und vergesse halt manchmal, dass sie das nicht weiß. Ich fand das also nicht so wichtig. Aber ich bemühe mich. Es gab auch eine Situation, da habe ich heimlich bei einer Person übernachtet, die meine Mutter noch nicht kannte. Ich hatte Megaschiss vor Mamas Reaktion und habe das zunächst nicht erzählt. Im Endeffekt haben wir dann drüber geredet.
Anja: Ich habe ihr erklärt, dass es besser ist, wenn ich die Wahrheit weiß, weil ich ihr als Mutter dann beistehen kann.
Marie: Danach war ich sehr erleichtert.
Was habt ihr durch das Streiten über euch selber und die andere gelernt?
Marie: Ich gehe manchmal aus Prinzip in den Widerstand: Ich fühle mich angegriffen, bin unsicher und will mich schützen. Das hat oft gar nichts mit dem Thema des Streits zu tun. Mittlerweile merke ich das aber schneller.
Anja: Wenn sie blockt, lass ich sie. Man lernt beim Streiten seine Verletzlichkeit kennen und die des anderen. Streiten ist wichtig, um zu wissen: Was sind meine Werte, Bedürfnisse und Grenzen? Man zeigt dem anderen, wer man ist.
Apropos wer man ist: Was sind Vorteile an eurer Rolle als Tochter beziehungsweise Mutter, und wo liegen die Herausforderungen?
Marie: Schwer zu sagen, weil ich uns auf Augenhöhe sehe. Ich kenne aber andere Familien, in denen mehr auf das Kind herabgeschaut wird, weil es ja noch ein Kind ist. Was ich mir erlauben kann, sie aber nicht: Wenn wir streiten, ist mir manchmal egal, was aus meinem Mund kommt.
Anja: Mein Vorteil als Mutter ist, dass ich aus mehr Erfahrungen schöpfen kann. Gleichzeitig habe ich eine große Verantwortung, die kann schon mal stressen: Ich will meine Sache gut machen, auch im Streit. Manchmal ist da aber eine Hilflosigkeit, bei der du denkst: Scheiße, was mach ich jetzt?
„Den Stolz überwinden und nicht das Ego reden lassen. Und wirklich versuchen, eine Lösung zu finden. Das sollte immer das Ziel sein“
Was braucht es für einen konstruktiven Streit?
Anja: Erst mal zulassen, was ist, manchmal braucht man Zeit für sich. Sich entschuldigen, wenn es angebracht ist. Das verlangt manchmal Überwindung. Wenn danach noch was schiefhängt: aufeinander zugehen. Und dann bitte auch die Eier in der Hose haben und aushalten, was der andere einem sagt. Wenn man einander gar nicht versteht: Erklär’s mir bitte anders, vielleicht anhand von einem Film?
Marie: Augenhöhe. Ehrlichkeit. Den Stolz überwinden und nicht das Ego reden lassen. Und wirklich versuchen, eine Lösung zu finden. Das sollte immer das Ziel sein.
Dieser Text ist im fluter Nr. 91 „Streiten“ erschienen
Anja: Humor ist auch wichtig. Wie oft sagen wir: Weißt du noch, wie du da so und so reagiert hast? Und lachen dann zusammen.
Was wünscht ihr euch von der anderen für kommende Streits?
Marie: Manchmal fragst du nach meiner Meinung und schießt direkt dagegen, wenn ich nicht antworte, was du hören willst. (Anja lacht ertappt) Obwohl du mir vertrauen kannst, dass ich es gut meine.
Anja: Ich würde mir wünschen, dass du weißt, dass ich dich never ever für schuldig halte. Wenn ich etwas kritisiere, geht es mir nie um Schuld. Mir geht es um Verantwortung. Jeder darf Fehler machen. Wenn man das versteht, ist alles halb so schlimm.