Man müsste schon in der Wildnis leben, ohne Internet und Strom für ein Transistorradio, um die Debatten über die Klimakrise verpasst zu haben. Gerade die jungen Klimaaktivistinnen um Greta Thunberg führen uns vor Augen, was wir längst wissen: Um den Planeten bewohnbar zu halten, müssen wir unseren Lebensstil und unser Wirtschaftswachstum wieder mit der Natur in Einklang bringen. In Ecuador und Bolivien ist dieser Einklang seit Jahren in der Verfassung geregelt: „Buen Vivir“, das gute Leben.
Das Ziel beider Länder ist demnach nicht ein Leben in Wohlstand („bienestar“), sondern eines in Nachhaltigkeit – durch Achtsamkeit gegenüber sich selbst, der Gemeinschaft und der Natur. Mutter Erde, die „Pachamama“, ist in beiden Verfassungen gar als eigenes Rechtssubjekt anerkannt. „Die Natur hat das Recht, sich zu regenerieren“, lautet ein Artikel. Wer dagegen verstößt, handelt verfassungswidrig. Haben die beiden Staaten schon vor einem Jahrzehnt erreicht, was heute viele in Deutschland fordern?
Plurinationalismus bedeutet, dass ein Staat die Unterschiedlichkeit seiner Bevölkerung ernst nimmt – und sie in seinen Entscheidungen und Institutionen abzubilden. Zum Beispiel kann er dafür sorgt, dass Indigene (wieder) frei entscheiden dürfen, wie und wo sie leben, dass die Behörden mehrere Sprachen sprechen, dass die Bevölkerung bei Ressourcenkonflikten mitsprechen oder die (oft koloniale) Geschichtsschreibung ihres Landes ändern kann.
Buen Vivir ist keine Idee der politischen Eliten. Indigene wie die Quechua in Ecuador oder die Aymara in Bolivien leben die Idee seit Jahrhunderten auf ihre Weise. In beiden Ländern machen Indigene einen großen Teil der Bevölkerung aus. Als 2006 Evo Morales in Bolivien und 2007 Rafael Correa in Ecuador ihre Präsidentschaften antraten, wollten sie den Perspektiven der indigenen Bevölkerung mehr Gewicht verleihen. Beide waren linksgerichtet, beide genossen in der indigenen Bevölkerung starken Rückhalt, der Koka-Bauer Evo Morales ist selbst indigener Abstammung. Als in beiden Ländern verfassunggebende Versammlungen einberufen wurden, wurde auch das Buen Vivir diskutiert – und prominent in beide Verfassungen aufgenommen. Teile der indigenen Bevölkerung interpretierten das als klares Zeichen der Regierung: Wir sehen euch und eure Belange, wir schaffen einen plurinationalen Staat!
Das Buen Vivir war damals auch ein Gegengewicht zur „Religion Wirtschaftswachstum“, schrieb Alberto Acosta zehn Jahre danach. Er war unter Correa Ecuadors Energieminister und saß der verfassunggebenden Versammlung vor. Die wollte sich 2007 vom Wirtschaftsmodell emanzipieren, das in den USA und Europa – also auch von den ehemaligen Eroberern – „erfunden“ worden war: der neoliberalen Marktwirtschaft.
Der Deal: Das Erdöl bleibt im Boden, wenn Ecuador dafür von anderen Staaten entschädigt wird
Politisch bekannt und auf die Probe gestellt wurde die Reform zum guten Leben gleich ab Beginn der Amtszeit Correas, und zwar im Osten Ecuadors: Dort liegt der Nationalpark Yasuní, ein Amazonasregenwald, der bekannt ist für seinen Artenreichtum und die indigenen Gemeinschaften, die dort seit Jahrhunderten leben. Unter ihren Füßen: Öl, riesige Vorkommen – etwa 40 Prozent der Reserven des Landes. Um Buen Vivir zu beherzigen, forderte Correa 2007 eine Kompensation von der Weltgemeinschaft. Der Deal: Ecuador lässt das Erdöl im Boden des Yasuní, wenn andere Staaten über Jahre die Hälfte der potenziellen Einnahmen ersetzen. 3,6 Milliarden Dollar gegen Millionen Barrel Öl und somit Hunderte Millionen Tonnen CO2, die nicht gefördert oder emittiert würden.
Politisch bewegte sich dieses Tauschgeschäft für den Umweltschutz auf Neuland. Es hätte weltweit Impulse für den Umgang mit Ressourcen und der Natur geben können. „Wir haben nicht um Almosen gebeten. Es ging um die gemeinsame Verantwortung im Kampf gegen den Klimawandel“, sagte Correa später. Ecuador avancierte in wachstumskritischen Kreisen zum Ideal, Buen Vivir und Pachamama wurden von manchen fast zu Religionen stilisiert.
Aber wurden sie auch den wirtschaftlichen Realitäten eines Landes gerecht, das in den internationalen Wettbewerb eingebunden ist? Kann man traditionelle indigene Lebensweisen gegen eine globalisierte Welt verteidigen? Letztlich standen Correa und Acosta nicht als Anwälte der Indigenen in der Öffentlichkeit, sondern als Politiker, die Armut bekämpfen, Krankenhäuser renovieren, Schulen eröffnen und Straßen ausbauen mussten. Dafür braucht ein Land Geld, das Erdöl zuverlässig einbringt. Öl macht bis heute rund ein Drittel des Exportvolumens Ecuadors aus.
„Wir können doch keine Bettler sein, die auf einem Sack Gold sitzen.“
Solche Abwägungen zwischen wirtschaftlicher Realität und Umweltschutz blieben der Regierung Correa aber erspart: Für die Yasuní-Initiative kamen nur 0,37 Prozent der angestrebten Summe zusammen. Auch der deutsche Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) zog den zugesagten Beitrag Deutschlands zurück: Er habe keinen Präzedenzfall schaffen wollen, anhand dessen später andere Länder Kompensationszahlungen verlangen könnten. Im August 2013 erklärte Correa das Yasuní-Projekt für gescheitert, noch im selben Jahr erschloss die Regierung neue Ölfelder im Regenwald. „Wir können doch keine Bettler sein, die auf einem Sack Gold sitzen“, rechtfertigte sich Correa in einem Interview.
Doch schon vor der Ölförderung befand sich Ecuador wirtschaftlich im Aufwind. Das BIP ist seit 2008 um 74 Prozent gestiegen, die Einkommen waren mit jedem Jahr gleichmäßiger verteilt, die Armutsquote sank. Im „Latinobarómetro“, einer jährlich durchgeführten Umfrage, gaben 2017 fast drei Viertel der Befragten an, mit ihrem Leben zufrieden oder sehr zufrieden zu sein. Im Jahr 2000 waren es lediglich 21 Prozent gewesen.
Fasten für die Nachhaltigkeit: Unsere Autorin wollte ein Jahr lang nichts mehr kaufen – und konnte dann gar nicht mehr damit aufhören
Dieser Aufschwung ist teuer erkauft, meint Philipp Altmann, Professor für Soziologie an der Universität Quito. „Man kann Ressourcen fördern und Armut beheben. Oder die Ressourcen schonen und Armut akzeptieren.“ Auch Indigene kritisieren ihren früheren Hoffnungsträger Correa und seinen Nachfolger Lenin Moreno, der seit 2017 im Amt ist. Sie fühlen sich betrogen: Man erklärte ihre Lebensweise zum Staatsziel, um fortan mit den Grundsätzen zu brechen. Die Regierung habe „die Interessen des transnationalen Kapitals und der nationalen Machtgruppen verteidigt, die die Natur zerstören und das Ende all unserer Rechte bedeutet haben“, fasste die Indigenenbewegung CONAIE bereits 2010 in einer Erklärung zusammen.
Mittlerweile wird auch in Gebieten nach Öl gebohrt, die als besondere Schutzzonen des Yasuní deklariert sind. Dort leben zwei indigene Völker in selbst gewählter Isolation, die Artenvielfalt ist besonders hoch. In den vergangenen Jahren häuften sich Berichte von NGOs über Repressionen, zum Beispiel gegenüber ortsansässigen indigenen Vereinen.
Buen Vivir heißt eben auch: Ohne Rohstoffausbeutung im Süden kein ungebremstes Wachstum im Norden
Auch in Bolivien werden die Rechte der indigenen Bevölkerung trotz der neuen Verfassung nur unzureichend geschützt, wenn sie mit dem wirtschaftlichen Fortschritt kollidieren. Auf dem Boden indigener Völker wurden zum Beispiel zwei Staudämme gebaut, ohne die Bewohner vorher zu befragen. Bolivien ist heute der viertgrößte Waldvernichter der Welt. Die Waldflächen müssen Sojapflanzen weichen. Sie sollen sicherstellen, dass sich das Land selbst mit Nahrungsmitteln versorgen kann. Die Bevölkerung kann wenig tun: Obwohl das Buen Vivir in der Verfassung steht, lässt sich die Umsetzung nicht einklagen. „Buen Vivir als politisches Konzept ist gescheitert“, resümiert auch Philipp Altmann.
Würde die Idee des Buen Vivir, die die Fantasien von Linken, Postkolonialisten und Postwachstumstheoretikern bis heute beflügelt, immer wieder an unserer globalisierten Realität scheitern?
Für die Industrienationen lohnt der Blick auf Buen Vivir heute vielleicht mehr denn je, während unser unbedingter Wille zum Wirtschaftswachstum die Erde an ihre ökologische Grenze jagt. In Ecuador oder Bolivien haben sich kleine Länder an großen Ideen versucht. Sie haben ein radikales Umdenken gewagt, lange bevor Schulstreiks stattfanden und Klimanotstände diskutiert wurden. Das Projekt Yasuní war ein Appell an die weltweite Solidarität – eine Solidarität, die für das globale Projekt Klimaschutz unverzichtbar ist.
Das Titelbild von Lou Dematteis (Spectral Q/Redux/laif) zeigt einen Protest der Indios für den Erhalt des Nationalpark Yasuní im Jahr 2007.