Kamel/Artistinnen bereiten sich vor

Auf Achse

Erst Mathe, dann Manege: Liana ist beim Zirkus. Deshalb kommt die Schule auch zu ihr

Text: Lara Voelter und Fotos: Marc Krause
Thema: Bildung
24. März 2025

Mit einem Pinsel trägt Liana großzügig Glitzerlidschatten auf. Sie schaut in den Spiegel in ihrem Wohnwagen, zieht einen Lidstrich, klebt sich künstliche Wimpern, schaut noch mal, nickt. Fehlen nur noch die Lippen und die Haare. In einer halben Stunde wird sie Hula-Hoop-Reifen um ihre Hüfte, Arme und Beine kreisen lassen, ihren Körper zum Halbkreis biegen und auf einem Tuch in der Luft schweben.

Den Circus Rolina führen die Ortmanns, Lianas Familie, in siebter Generation. 15 Menschen und rund viermal so viele Tiere: Pferde, Esel, Zebras, Rinder, Antilopen, Kamele, Lamas und Hunde. Etwa 300 solcher Zirkusse sollen heute noch in Deutschland unterwegs sein.

Liana schminkt sich vor einem Spiegel

Was willst du nach der Schule werden? Liana weiß schon jetzt die Antwort: Artistin 

Liana ist 16 und geht in die zehnte Klasse, denn: Die Schulpflicht gilt auch für die Kinder „beruflich Reisender“, wie es im Amtsdeutsch heißt. Laut Schätzungen gibt es bundesweit 3.000 solcher Kinder und Jugendlicher. Ihre Eltern arbeiten als Schaustellerinnen, Puppenspielerinnen oder Binnenschiffer, sie schleifen Scheren und Messer, betreiben Hüpfburgen oder arbeiten im Zirkus.

Wer darf zu Hause unterrichtet werden und warum?

Hausunterricht war in Deutschland vor allem in der Oberschicht lange üblich. Seit 1919 ist der Schulbesuch Pflicht. Es gibt aber zeitlich begrenzte Ausnahmen, etwa wenn eine Schülerin ein Kind kriegt oder sich im Freiheitsentzug befindet, wenn ein Schüler schwer erkrankt ist oder musikalisch so begabt, dass er Konzerte an wechselnden Orten gibt.

Schulisch ist diese Lebensform herausfordernd, für Kinder, Eltern und Lehrkräfte: Die Bundesländer weisen Kinder beruflich Reisender bestimmten Schulen, sogenannten Stützpunktschulen, zu – je nachdem, wohin sie ihre Arbeit oder die ihrer Eltern führt. Heißt: Wenn es schlecht läuft, alle paar Wochen komplett anderer Lernstoff, andere Lehrkräfte, andere Mitschülerinnen und Mitschüler. Manche besuchen mehr als 30 Schulen im Jahr.

Auch Liana hat diese ständigen Schulwechsel durch. In der dritten Klasse konnte sie weder lesen noch schreiben. Ihre damaligen Lehrerinnen und Lehrer habe das kaum interessiert. „Das Einzige, was ich im Unterricht machen durfte, war malen.“

Zwei Tage Unterricht in Präsenz, drei in Eigenregie

Liana öffnet den Schrank in ihrem Wohnwagen. Sie holt einen rosafarbenen Zweiteiler heraus, mit goldenen Aufnähern. Eines der Outfits für den Abend. Ihr letzter Besuch an einer regulären Schule ist einige Jahre her. Aber das Gefühl von damals ist geblieben. Sie sagt: „Ich habe mich oft einsam und ausgegrenzt gefühlt.“ Manche Kinder hätten sie als „Tierquälerin“ beschimpft und sie ausgelacht, weil sie nicht verstand, was die Lehrerin an die Tafel schrieb.

Seit der vierten Klasse besucht Liana die Schule für Kinder beruflich Reisender in Hessen, eine von zweien ihrer Art in ganz Deutschland. Zwölf Lehrkräfte reisen ihren Schülerinnen und Schülern hinterher, in Kleinbussen, umgebaut zu Klassenzimmern. Sie unterrichten nach regulären Lehrplänen, konzipieren Tests, schreiben Zeugnisse. Jeder betreut im Schnitt acht Stammschülerinnen und Stammschüler, die fest an der Schule sind. Dazu teilen sie sich auf rund 30 durchreisende Kinder aus anderen Bundesländern auf.

Liana und die anderen kriegen zwei Tage Präsenzunterricht in der Woche, und einen Lernplan für die restlichen drei Tage. Sie lösen Matheaufgaben, schreiben Aufsätze, füllen englische Lückentexte aus und schicken ein Foto der Ergebnisse an ihre Klassenlehrkraft. Am nächsten Präsenztag werden die dann besprochen. Wer Fragen hat, loggt sich in eine Onlinesprechstunde ein. Reisen sie in ein anderes Bundesland, bekommen Liana, ihr Bruder Sonny, ihre Schwester Eleyna und ihr Cousin Tiano Onlineunterricht. In den vergangenen Jahren kam das aber selten vor: Der Circus Rolina trat vor allem in Hessen auf.

All das verlangt den Kindern Disziplin ab. Aber wenn Kinder, die im Zirkus groß werden, eines haben, dann: Disziplin.

Liana macht eine Brücke in der Manege

Wer ein Leben als Akrobatin und einen Schulabschluss unter einen Hut kriegen will, muss ganz schön flexibel sein

Liana lernt in einem Schulwagen

Die mobile Schule in Hessen gibt es seit 25 Jahren, inzwischen rollt auch eine Kita zu den Familien

Ein paar Stunden vor der Vorstellung lenkt Johannes Bühler, 45, seinen Kleinbus auf einen Reiterhof in Darmstadt. Hier hat Familie Ortmann gerade ihre königsblauen Zirkuszelte aufgeschlagen. Bühler parkt im Schlamm neben mehreren Wohnwagen, Lkw, einem Rindergatter. Er steigt aus, verbindet den Stromanschluss des Busses mit einem Generator, damit Heizung und Licht im Klassenzimmer funktionieren. 

Liana, Sonny, Eleyna und Tiano steigen die vier Stufen zum Lernmobil hoch, setzen sich an Tische, die an die Wand montiert sind, kramen Hefte und Stifte aus ihren Schultaschen. 

Eleyna ist sieben und geht in die erste Klasse. Sie wippt mit den Füßen, turnt auf den Stuhllehnen herum. „So, jetzt bitte konzentrieren“, sagt Bühler und setzt sich neben sie. „Wir lesen zusammen.“ Sie beugt sich über ihr Heft, liest drei Wörter, fügt dann ein viertes hinzu. „Genau hinschauen, was da steht, Eleyna, nichts erfinden.“ 

Ausgrenzung ist ein Problem

Seit elf Jahren unterrichtet Bühler Kinder wie Liana und Eleyna. Eine lückenlose Betreuung sei wichtig, sagt er, vor allem in der Grundschule, wenn die Grundlagen vermittelt und die Lernmotivation gestärkt werden müssen. „Die mobile Schule ist die einzige Schulform, die das für diese Kinder kontinuierlich leisten kann.“ An den Stützpunktschulen dagegen komme es sehr darauf an, wie engagiert die einzelnen Lehrkräfte seien: Wer ist bereit, sich mit Kindern zu beschäftigen, die vielleicht in wenigen Tagen wieder weg sind? Und wer hat überhaupt die Ressourcen dafür? 

Auch Ausgrenzung sei ein Problem, sagt Bühler. „Diese Kinder haben einen Exotenstatus. Wenn sie den Clown spielen oder Kunststücke machen, sind sie die Außenseiter, die bestaunt werden. Wenn sie diese Rolle nicht spielen, kommt es schnell zu Hänseleien.“ 

Derzeit hat die Schule knapp 100 Stammschülerinnen und Stammschüler, von Klasse eins bis zehn. Bühler sagt, mit der mobilen Schule sei die Zahl der Haupt- und Realschulabschlüsse unter reisenden Schülerinnen und Schülern deutlich gestiegen: Mit ständigen Schulwechseln sei ein Abschluss eher die Ausnahme. Wer Abitur machen will, dem hilft die Schule sogar, eine passende Einrichtung zu finden, etwa ein Internat. 

Zirkuszelte auf einer Wiese

Etwa 300 Zirkusse wie der von Liana sollen heute noch in Deutschland unterwegs sein

„Meist bleiben die Jugendlichen aber in ihren Familien“, sagt Schulleiter Torsten Rudloff. Bei vielen seiner Schülerinnen und Schüler gehe es darum, dass sie ihren Familien als Arbeitskräfte erhalten bleiben. Im Zirkus übernehmen die Kinder von klein auf Verantwortung: Tiere füttern, die Manege sauber halten, am Programm feilen, dann der Auftritt, am Wochenende oft zweimal am Tag.

Mit einer Mitarbeiterin verwaltet Rudloff die Schule aus einem kleinen Büro in Wiesbaden. Regelmäßig informiert er das Kultusministerium über Unterrichtsinhalte, organisiert Teamsitzungen. Rudloff ist stolz darauf, was sie als Schule schaffen. „Es sollte nicht nur im Fokus stehen, was die Kinder vielleicht aufholen müssen, sondern auch, wo ihre besonderen Fähigkeiten und Interessen liegen. Und die fördern wir auch.“ 

Am hintersten Platz im Lernmobil streicht Liana in einem Text herum. Es geht um Tierpflege und um das Veterinäramt. Ihre Aufgabe: das Wichtigste in eigenen Worten zusammenfassen. Noch ein paar Monate Schule, vor allem Berufsorientierung, dann ist sie durch. Dabei ist schon lange klar, dass sie im Zirkus bleibt. Artistin sein, ihre Choreografien in der Luft perfektionieren, das ist ihr Traum. Aber sie kennt auch nur den Zirkuskosmos. Liana tritt auf, seit sie sieben Jahre alt ist. 

Im Bus klappen alle ihre Hefte zu. Genug für heute, jetzt noch ein bisschen kicken auf dem Gelände, Fangen spielen und seilhüpfen. Kind sein, bevor die nächste Vorstellung beginnt. 

Cover des fluter-Hefts Schule
Dieser Artikel ist aus dem fluter „Schule“.
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