Die App schließt viele aus
findet Ann Esswein
Ich habe ein Horrorszenario im Kopf. Es liegt in der Zukunft: Juli 2021. Eine gute Freundin hat Geburtstag. Sie feiert in einem Restaurant. Ein Türsteher steht mit verschränkten Armen vor dem Eingang: „QR-Code?“ Er wedelt mit seinem iPhone vor meiner Nase herum. Ich schüttele den Kopf. Die Corona-App habe ich nicht, will ich auch nicht. „Pech gehabt“, sagt er und macht von seinem Hausrecht Gebrauch. Draußen ich, drinnen meine Freunde, die alle die Corona-Warn-App installiert haben.
Die Corona-App trennt die Gesellschaft in „mit“ und „ohne“
Nach Monaten ist die viel diskutierte Corona-App jetzt also da. Sie soll die Ansteckungsketten durchbrechen, Leben retten, mithelfen, die Normalität wiederherzustellen. Man könnte sagen: endlich. Was die Befürworter*innen übersehen: Die Corona-App zieht eine scharfe Trennlinie durch die Gesellschaft.
Ähnlich dem diskutierten Immunitätsausweis teilt die App die Menschen in „mit“ und „ohne“ ein – und verteilt damit im schlimmsten Fall Privilegien. Die freiwillige Nutzung könnte schnell zum indirekten Zwang werden. Hast du die App? Herzlich willkommen im Schwimmbad oder Club! Der Einlass in bestimmte gesellschaftliche Räume wäre dann daran geknüpft, ob jemand die App installiert hat. Noch ist das ein Horrorszenario – aber eines, über das wir reden müssen.
Was jetzt schon ein ganz reales Problem ist: Die App ist nicht für jede*n die Rettung. Was ist zum Beispiel mit dem türkischen älteren Fahrradschrauber um die Ecke, der Schwierigkeiten hätte, die App zu verstehen? Bis die App in Türkisch erscheint, wird es noch dauern. Was ist mit den Zehntausenden in Deutschland lebenden Geflüchteten, von denen viele weder Deutsch noch Englisch sprechen und Bett an Bett in Sammelunterkünften leben? Was ist mit denen, die sich das neueste Smartphone nicht leisten können? Nutzer*innen berichten, dass sie die App mit ihrem fünf Jahre alten Modell nicht laden können. Was ist mit Leuten wie meinen Eltern: notorische Technologieverweigerer, Smartphone-Analphabeten, die zugleich aber auch zur Risikogruppe gehören?
Wir brauchen keine Corona-App, sondern flächendeckende Tests
Unter denen, die am gefährdetsten sind, wird die Corona-App wohl nicht genug genutzt werden. Egal, ob 15 Prozent der deutschen Bevölkerung die App installieren – ab diesem Wert zeigt sich laut Expert*innen ein Effekt – oder die angepeilten 60 Prozent: Ganze Bevölkerungsschichten sind ausgeschlossen. Schön und gut, dass Apps das Leben der Privilegierten optimieren: gesündere Ernährung, bessere Fitness, organisiertere To-dos. Für eine Pandemie ist das Smartphone aber nicht das richtige Tool.
Die App zeichnet zwar auf, ob sich Personen für 15 Minuten in weniger als zwei Metern Abstand befanden. Nicht aber: ob sie mit dem Rücken zueinander standen, ob sie Mundschutz trugen oder an der frischen Luft waren. Weil die Bluetooth-Daten zu ungenau sind, werden die Nutzer*innen tendenziell häufiger benachrichtigt als zu selten. Das führt im besten Fall dazu, dass man die App nicht mehr ernst nimmt, im schlechtesten: zu noch mehr Verunsicherung.
Abgesehen davon, dass der Effekt der App eher ein kosmetischer sein wird, kaschiert sie, was wir eigentlich brauchen: flächendeckende Tests. Hätten wir dafür bereits Kapazitäten, bräuchten wir keine App. Und den besten Umgang mit der Pandemie haben wir doch in den vergangenen Monaten gelernt: Vorsicht. Die beste Tracing-Methode ist das eigene Gedächtnis. Statt einer App, die fragwürdige Daten aus meiner Umgebung zieht, möchte ich mich lieber selbst fragen: Mit wem war ich wann in näherem Kontakt, und was bedeutet das für mein Umfeld?
Ann Esswein arbeitet als freischaffende Journalistin, Autorin und Filmemacherin. Sie recherchiert seit Wochen zur App – was ihre Meinung nur gefestigt hat.
Die App kann nur helfen
entgegnet Eike Kühl
Wenn man an der Corona-Warn-App der Bundesregierung etwas kritisieren muss, dann, dass sie zwei Monate zu spät kommt. Jetzt, da immer mehr Krisenmaßnahmen gelockert werden und die Zahl der Neuinfektionen trotzdem tendenziell sinkt, könnten viele denken: Also jetzt muss ich die App auch nicht mehr installieren.
Datenschützer*innen haben fast nichts an der App auszusetzen
Dass die Pandemie langsam vorbeigeht, ist ein gefährlicher Fehlschluss. Noch immer infizieren sich täglich Hunderte Menschen, manche kämpfen später um ihr Leben. Umso wichtiger ist es, jetzt die offizielle Warn-App zu installieren. Weil sie neben den persönlichen Schutzvorkehrungen (Abstand, Händewaschen, Mundschutz) ein weiteres Mittel sein kann, um die Pandemie einzudämmen.
Dass die Nachverfolgung und die Warnung von Kontakten eines oder einer Infizierten wichtig sind, um Infektionsketten zu durchbrechen, ist unbestritten. Gerade in der jetzigen Phase: Je mehr Normalität einkehrt, desto mehr Menschen trifft man, desto schwieriger wird es, im Infektionsfall möglichst viele Kontakte nachzuverfolgen. Oder wisst ihr noch, wer vergangene Woche in der S-Bahn neben euch saß?
Die Corona-App könnte es wissen – ohne es wirklich zu wissen: Weil nur anonyme IDs zwischen Smartphones ausgetauscht werden, die allenfalls im Fall eines positiven Tests mit anderen geteilt werden (und auch das nur, wenn der oder die Infizierte das möchte), eignet sich die App nicht für die Überwachungsfantasien, die manche Kritiker*innen derzeit gern ausmalen.
Tatsächlich haben Datenschützer*innen fast nichts an der App zu bemängeln. Und wer trotzdem fürchtet, Hacker könnten in einem extrem theoretischen Angriffsszenario an Daten kommen, sollte seine Smartphone-Nutzung generell hinterfragen: Google, Facebook, Tinder und anderen Diensten teilen die meisten völlig bedenkenlos mit, wo sie sich aufhalten, was sie mögen und mit wem sie Sex haben (wollen).
Auch das Argument der Kritiker*innen, dass die App vor allem die Menschen verfehlt, die besonders gefährdet sind, geht zu kurz. Was stimmt: Nicht jede*r wird die App nutzen können, weil nicht jede*r ein aktuelles oder überhaupt ein Smartphone besitzt. Das ist ärgerlich, die Warn-App ist deshalb aber noch lange kein Tool ausschließlich für privilegierte junge Menschen.
Die App nutzt auch denen, die sie nicht installieren
Ein Beispiel: Meine Mutter gehört sowohl zur Risikogruppe als auch zu den Menschen, die die App rein technisch nicht installieren können. Trotzdem kann ich sie schützen, indem ich selbst die App nutze: Werde ich benachrichtigt, dass jemand in meiner Nähe erkrankt ist, sage ich den geplanten Kaffeekranz zu Hause ab und begebe mich stattdessen in Selbstquarantäne. Die Gefahr, dass ich meine Mutter unwissentlich anstecke, ist somit gebannt. Die Liste lässt sich fortführen: von der Sozialarbeiterin, die mit Flüchtlingen arbeitet, über den Verkäufer, der jeden Tag Hunderte Menschen bedient, hin zur Pflegekraft im Seniorenheim.
Das ist der entscheidende Punkt: Je mehr von uns die Corona-Warn-App installieren, desto mehr Menschen werden geschützt – direkt, aber eben auch indirekt. Deshalb sollte sie jede*r nutzen, der oder die sie nutzen kann. Und nicht schon jetzt mit vorauseilender Paranoia warnen, dass die App eines Tages zur Eintrittskarte für den Club oder das Fitnessstudio werden könnte.
Bis es so weit kommen kann, muss die App nämlich erst mal beweisen, dass sie hält, was sie verspricht. Sollte sie sich bewähren, rettet sie Leben – wodurch die Argumente gegen die Nutzung noch schwächer werden, als sie ohnehin schon sind. Sollte die App floppen, können wir sie immer noch vom Handy werfen. Aber sie von Anfang an abzulehnen ist wie im Lockdown vor einem Krankenhaus raven: ziemlich egoistisch.
Eike Kühl schreibt seit gut zehn Jahren über Digitales. Er wollte eigentlich warten, bis die Warn-App für PC erscheint, hat sie dann aber doch gleich auf seinem Smartphone installiert.
Was kann die Corona-Warn-App eigentlich genau? Die App erfasst mit Bluetooth den Abstand und die Begegnungsdauer zwischen zwei Personen, die die App installiert haben. Und informiert die Nutzer*innen, wenn sie sich längere Zeit in der Nähe einer Person aufgehalten haben, bei der später eine Corona-Infektion festgestellt wurde. So können Nutzer*innen schneller reagieren und laufen nicht Gefahr, das Virus unbewusst weiterzuverbreiten. Die App speichert andere Smartphones in der Nähe mit zufälligen Bluetooth-IDs und für begrenzte Zeit. Diese verschlüsselten IDs erlauben also keine Rückschlüsse auf die Nutzer*innen. Außerdem kann man die Funktionen jederzeit pausieren oder sämtliche Daten löschen. Selbst nach einem positiven Test obliegt es jeder*m, ob das Ergebnis und die ID übermittelt werden sollen. Die App ist freiwillig. Und die Bundesregierung versichert, dass das auch so bleiben soll: Weder sollen Menschen gezwungen noch durch Geld oder andere Vorteile von der App überzeugt werden.
Collagen: Renke Brandt