
Ni Hao Fine Shyt
Ein drohendes TikTok-Verbot hat Millionen US-amerikanische User auf die eigentlich exklusiv chinesische App RedNote geschwemmt. Statt Kommentarspaltenkrieg kommt es zu regem Austausch – und jede Menge neue Memes entstehen
Selten so nett empfangen worden wie neulich bei RedNote. Eine Nutzerin namens Scarlett heißt in ihrem Video neue Mitglieder herzlich willkommen. Sie wolle vorwegschicken, es gebe drei Regeln: Behandle andere mit Respekt. Kein Rassismus. Und wenn es geht, versehe alle deine Inhalte mit chinesischem Untertitel. Damit dich auch alle verstehen.
Im Januar waren die Nachrichten voll mit RedNote. Aus aller Welt hätten sich Leute auf der chinesischen Plattform registriert. In den USA und auch in Deutschland ist sie kurzzeitig auf Platz eins der am häufigsten installierten Apps. Und auf Duolingo lernten plötzlich mehr als dreimal so viele US-Amerikaner Mandarin als vorher.
„Ni hao … ni hao“, spricht Userin Selina langsam, denn alle Neuen sollen mitsprechen können und die Sprache lernen. Eine US-amerikanische Nutzerin klagt über ihr Gesundheitssystem: Sie habe es so satt, 400 Dollar im Monat für die Krankenversicherung zu zahlen. Und eine chinesische Nutzerin schreibt bemitleidend: „I thought the 400 dollars was for a year!!“ Es gibt gemeinsame Running Gags, zum Beispiel zu chinesischen Spionen, die persönlich jeweils einen amerikanischen User überwachen würden – weshalb chinesische Nutzer sich scherzhaft als diese ausgeben.
Man witzelt, fragt und zeigt unvoreingenommenes Interesse an Sprache, Kultur und Politik des jeweils anderen. Auf einmal ist da ein Ort im Netz, auf dem scheinbar echte Völkerverständigung stattfindet. Was ist da los?
Lieber nach China als zu Elon Musk
RedNote gibt es schon seit 2013 und ist so was wie eine Mischung aus Instagram, TikTok und Pinterest. In China heißt die App Xiaohongshu, das Internet hat dann RedNote daraus gemacht, weil es so viel bedeutet wie kleines rotes Büchlein. Dass sich dort seit kurzem gefühlt die Welt in den Armen liegt, hat ausgerechnet mit einem geopolitischen Konflikt zu tun, dem zwischen China und den USA. Genauer gesagt geht es um das drohende TikTok-Verbot.
Die US-Regierung hat seit langem den Verdacht, Peking könnte über TikTok US-Bürger beeinflussen. Sie hatte mit dem Verbot in den USA zum 19. Januar gedroht, sollte TikTok bis dahin nicht an ausländische Investoren verkauft werden. US-Präsident Donald Trump ließ dann noch mal Gnade walten und verlängerte die Frist – erst im Januar, dann ein zweites Mal im April. Doch da hatten sich schon Hunderttausende aus Protest zu RedNote geflüchtet. Lieber seine Daten einem chinesischen Konzern geben als an Elon Musk oder Mark Zuckerberg, so die Botschaft.
Von TikTok gibt es zwei Versionen, eine für die Volksrepublik und eine für den internationalen Markt, daher ist es quasi ausgeschlossen, dass chinesische Nutzende darüber in Kontakt mit der internationalen Community treten. Andere Plattformen wie Instagram oder Reddit sind blockiert. Bei RedNote ist das anders, da gibt es eine Version für alle. So sind chinesische und westliche User das erste Mal überhaupt auf einer Plattform vereint.
Vorsicht, Zensor liest mit!
Eine kleine Revolution. Nur ein bisschen gruselig wegen der staatlichen Zensur, der man sich mutmaßlich unterwirft. Chinesische NutzerInnen warnen davor, sich zu politisch sensiblen Themen zu äußern. Beiträge können gelöscht und Profile gesperrt werden. Berichten zufolge beklagen etwa chinesische FeministInnen und queere UserInnen die Zensur ihrer Inhalte.
Ich bin Stammgast beim Hashtag #TIKTOKRefugee, wo sich die internationale TikTok-Diaspora tummelt. Neben jeder Menge Family-Guy-Ausschnitten und Clips von Kendrick Lamar gibt es dort Nutzerinnen wie Weiwei13. Sie lächelt hinter zwei großen Brillengläsern hervor und macht den Neumitgliedern allerlei Komplimente: „Ihr Amerikaner seid so energiegeladen – sogar zwei Opas haben noch um das Präsidentenamt kandidiert.“ Im nächsten Video gibt sie Dating-Tipps, falls man auf eine chinesische Person treffen sollte, die einem gefällt. Die Rechnung übernehmen, die Frau respektieren und bitte nicht zu hart flexen.
Dann gibt es noch nett anzusehende Videos mit Luftaufnahmen chinesischer Metropolen, Shanghai, Shenzhen, Guangzhou. Hochgeschwindigkeitszüge rasen, auch Berge sind zu sehen, die Menschen mit Aufzügen erklimmen. Eine Stimme erzählt, es sei noch gar nicht lange her, da sei China rückständig gewesen. Und jetzt seht her.
Auf RedNote kommen die politischen Verhältnisse in der Volksrepublik verdächtig gut weg. Kein Wort zu Überwachung oder zur Verfolgung von Uiguren. Ich glaube trotzdem, einiges über China zu lernen – auch wenn es nur das ist, von dem China will, dass ich es lerne. Was dagegen okay ist: wettern gegen die USA, meistens von den US-Amerikanern selbst. Auch hier gibt es das allgegenwärtige JD-Vance-Meme, bei dem sein Gesicht jedes Mal etwas anders entstellt wird. Dieses Mal hat er die Fratze von Chucky, der Mörderpuppe. Xi Jinping als Winnie the Pooh – ein in China schon seit vielen Jahren gebräuchliches Meme, das von der Staatsführung soweit wie möglich unterbunden wird – findet man hingegen nicht. Das ist Völkerverständigung, wie sie dem chinesischen Regime gefallen dürfte.
Zuletzt ist es etwas ruhiger geworden. Ich stoße auf ein Video, in dem eine Nutzerin fragt, wo all die Refugees geblieben sind. Sie hat einen Verdacht: „Ich sag es euch – die sind zurück auf TikTok.“ Ich werde gerne noch ein bisschen bleiben.
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Illustration: Alexander Glandien