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„Ich dachte, dass alles bigger than life sein müsste“

Jedes Jahr reisen Tausende junge Israelis zu Shoah-Gedenkstätten nach Polen. Regisseur Asaf Saban erzählt, warum er darüber den Film „Delegation“ gemacht hat – und wie er selbst die Reise als Jugendlicher erlebt hat

Delegation

fluter.de: Ihr Film „Delegation“ beginnt mit einer Szene am Flughafen: Ein Bündel mit Holzstäben geht beim Transport auf dem Rollfeld verloren. Später wird klar, dass es sich um Fahnenstangen handelt, die Lehrerin der Schulklasse, um die es im Film geht, hatte sie dabei, weil die Jugendlichen beim Besuch der Shoah-Gedenkstätten israelische Flaggen tragen sollen. Versteht das israelische Publikum diese Andeutung sofort?

Asaf Saban: Der Kontext des Films ist Israelis grundsätzlich sehr vertraut. Bis 2020 sind jedes Jahr etwa 30.000 Jugendliche aus Israel zu den Gedenkstätten nach Polen gefahren. In der Pandemie sind die Zahlen leicht zurückgegangen, diese Reisen fingen aber in den 1990er-Jahren an. Heißt: Hunderttausende Menschen einer nicht sehr großen Gesellschaft [Israel hat rund neun Millionen Einwohner*innen, Anm. d. Red.] haben diese Reise selbst erlebt. In dieser kurzen Szene kreiere ich eine Auslassung in der Erzählung, die Aufmerksamkeit schafft und Fragen aufwirft. Für mich als Filmemacher ist das ein wesentliches Stilmittel, besonders bei einem Thema, bei dem alle Leute ihre eigenen Erwartungen mitbringen.

Welche Erwartungen meinen Sie?

Zum einen eine politische Agenda in Bezug auf den Holocaust, zum anderen die konkreten Erwartungen, die Jugendliche an diese Reise haben. Ich erinnere mich, dass ich vor meiner eigenen Reise als Teenager dachte, dass alles bigger than life sein müsste, heilige Orte, eine Art Pilgerfahrt. Vor Ort war ich enttäuscht: Ich war gar nicht erschüttert, ich fühlte mich gleichgültig. Als ich bei der Recherche zu meinem Film die abendlichen Feedbackrunden solcher Klassenfahrten besucht habe, kam ein ähnlicher Eindruck auf: Manche Jugendliche waren enttäuscht, weil sie nicht so viel weinen konnten, wie sie wollten.

Der Film zeigt eine jüdische Schulklasse. Treten diese Reise auch gemischte Klassen mit arabischen Israelis an?

Meine Kinder besuchen eine gemischte Schule, aber solche Schulen sind selten. Es gibt vielleicht mal eine europäisch geförderte „Reise zur Förderung friedlicher Koexistenz“ für eine gemischte Gruppe. Aber ich schätze, dass 99 Prozent der Klassenfahrten nach Polen nur aus jüdischen Jugendlichen bestehen.

„Für viele Teenager ist die Reise nach Polen der erste Trip ins Ausland mit Freund*innen und ohne Eltern“

In „Delegation“ stehen drei Jugendliche im Zentrum der Handlung. Sie sind eng befreundet, aber auf der Reise kommen Streitigkeiten und unausgesprochene Gefühle auf. Warum wollten Sie eigentlich einen Coming-of-Age-Film vor diesem Hintergrund drehen?

Im Gegensatz zu Deutschland können Jugendliche in Israel nicht mal eben über die Grenze ins Nachbarland fahren, wir leben ein bisschen wie auf einer Insel. Für viele Teenager ist die Reise nach Polen der erste Trip ins Ausland mit Freund*innen und ohne Eltern. Zwischen der ganz normalen Aufregung darüber und den Eindrücken dieser erschreckenden Orte pendeln sie dann emotional hin und her. Dieser Perspektive wollte ich treu bleiben: Für Jugendliche kann ein unerfüllter Crush oder eine Gemeinheit das größte Drama sein. Das steht im Vordergrund des Films – während das größte Drama der Menschheitsgeschichte im Hintergrund bleibt.

Musik spielt eine wichtige Rolle für die Jugendlichen, auch für ihr Gedenken. Was für Songs hören wir im Film?

Die „Memorial Songs“ im Film haben eigentlich nichts mit dem Holocaust zu tun. Ein Lied von Eviatar Banai, einem der populärsten Sänger in Israel, handelt zum Beispiel von einer unglücklichen Großstadtliebe. Der einzige Satz mit einer vagen Verbindung lautet: „Ich habe eine Chance zu überleben“. Diesen Song singen Schulklassen in Treblinka, in Majdanek. Banai wusste nicht mal davon, dass sein Lied so zum nationalen Symbol geworden ist, bis ich den Song für den Film angefragt habe. Das finde ich verrückt und faszinierend.

DELEGATION by Asaf Saban - international trailer / Berlinale 2023

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Der Film zeigt das Bildungsprogramm auf der Reise ziemlich anschaulich. Einmal sitzt die Klasse auf der Fahrt von einem ehemaligen Konzentrationslager zum nächsten im Bus und hört unterwegs den Zeitzeugenbericht des mitreisenden Yosef. Als der eine Pause braucht, sagt der Lehrer: „Dann schauen wir jetzt noch mal ‚Schindlers Liste‘.“

Das ist übrigens eine Anspielung: Ezra Dagan, der hier den Holocaustüberlebenden spielt, hatte in „Schindlers Liste“ eine wichtige Nebenrolle als Rabbi. Ich verstehe vollkommen, warum das israelische Bildungssystem die Jugendlichen nach Polen bringt. Sie können auf der Reise von der Geschichte und den Traumata der eigenen Vorfahren lernen. Aber in der Form, wie es derzeit gemacht wird, sehe ich die Gefahr, dass sich ein Opferstatus als Identität verfestigt.

Eine Art historisches Reenactment von Holocausterfahrungen, etwa im Stil von „Schindlers Liste“, wird bei manchen Gedenkreisen ja auch praktiziert.

Ja, es gibt auch eine Reenactment-Szene im Film, in dem ein Guide die Schüler*innen in einem historischen Eisenbahnwaggon in eine Ecke drängt und sagt: „Versucht euch vorzustellen, wie es gewesen ist!“ Für mich ist das ein Horror. Wir haben diese Szene an der Gedenkstätte Bahnhof Radegast [in der Nähe von Łódź, Anm. d. Red.] gedreht. Das Mädchen, das in der Szene weint, spielt die Tränen nicht, sie war sehr aufgewühlt. Da verstand ich, warum Holocaustfilme – und ich denke übrigens nicht, dass mein Film einer ist – für Filmemacher*innen aufgrund des dramatischen Potenzials so verlockend sind. Man sollte sich das bewusst machen. „Schindlers Liste“ nutzt dieses Potenzial sehr effektvoll. Ich wollte aus ethischen Gründen Distanz dazu schaffen und habe die Szene in einem Moment gefilmt, in dem ein moderner Zug außerhalb der Gedenkstätte vorbeifährt

„Wenn es keine Holocaust-Überlebenden mehr gibt, lässt sich das Narrativ darüber besser kontrollieren“

Warum zeichnen Sie den Überlebenden Yosef, der die Klasse begleitet, als Gegengewicht zum offiziellen Gedenken?

Statt schneller zur „Action“ zu kommen versucht Yosef, den Blick auf vermeintlich nebensächliche Erfahrungen und Erinnerungen zu bewahren, nicht nur vorgeprägte Perspektiven zu übernehmen. Darin steckt schon ein Statement des Films. Es gibt gerade ein politisches Erdbeben in meinem Land, die größte Krise in Israels Geschichte, wenn Sie mich fragen. Und der Holocaust ist in der gegenwärtigen Politik ein zentraler Bezugspunkt. Sobald es keine Überlebenden mehr gibt, lässt sich das Narrativ darüber besser kontrollieren. Denn es gibt ja noch einen wichtigen politischen Aspekt der Reisen nach Polen: Diese Kids gehen ein Jahr später zur Armee …

Im Film sagt ein Schüler, dass ihn die Erlebnisse mental bereit gemacht haben, Israel auch in Kampfeinsätzen zu verteidigen.

Teenager zu sein bedeutet, zu etwas dazugehören zu wollen, das größer ist als man selbst. Die Gedenkorte, die Gedenklieder, die nationalen Symbole – man baut eine bleibende Verbindung dazu auf. Mein Land ist mir unter die Haut gegangen, als ich damals in Polen war. Aber ich wurde nie gefragt, ob ich mein Land unter meine Haut lassen möchte.

Asaf Saban, 1979 in Israel geboren, lebt und arbeitet in Tel Aviv. „Delegation“ („Ha’Mishlahat“), der gerade in der Kategorie „Generation 14Plus“ auf der Berlinale Premiere feierte, ist sein zweiter Langspielfilm.

Titelbild: Natalia Łączyńska

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.