Drei Menschen, Spritzen, Pillen, Flaschen und Drogentütchen fallen vom Himmel

„Ein großer Konflikt besteht in der Kriminalisierung der Konsumierenden“

Seit Jahren steigt die Zahl der Drogentoten. Warum ist das so und was könnte man dagegen tun? Ein Gespräch mit Daniel Deimel, der zum Thema Sucht forscht

Interview: Oliver Noffke
Thema: Körper
18. Februar 2025

fluter.de: 2023 wurden in Deutschland 2.227 Drogentote registriert. Das ist erneut ein starker Anstieg gegenüber dem Vorjahr. Innerhalb von zehn Jahren hat sich diese Zahl sogar verdoppelt. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Daniel Deimel: Eigentlich sind wir da schon beim Kern des Problems. Die Statistik zu den Drogentoten hat keine gute Datenbasis. Einiges bleibt im Nebel. Diese Daten stammen von den Landeskriminalämtern und werden dann an das Bundeskriminalamt weitergeleitet. Es wird zwar klassifiziert, an welchen Drogen diese Menschen verstorben sein könnten. Um das wirklich zu wissen, müssten jedoch eine Obduktion und ein toxikologisches Gutachten durchgeführt werden. Wie oft das tatsächlich geschieht, ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Denn diese Untersuchungen kosten Geld. Wenn es kein öffentliches Interesse gibt, sie durchzuführen, sehen Staatsanwaltschaften manchmal davon ab. Zu den genauen Hintergründen der einzelnen Todesfälle können wir deshalb nur mutmaßen.

Heißt das, es gibt eine Dunkelziffer?

Ja. Es kommt vor, dass Menschen infolge von Substanzkonsum gestorben sind, ohne dass dies aktenkundig wird. Zudem sind Todesfälle rausgenommen, die mit den Volksdrogen Alkohol und Tabak in Verbindung stehen. Schätzungsweise 40.000 Menschen versterben hierzulande allein jedes Jahr an den Folgen ihres Alkoholkonsums. Eigentlich ist eine Differenzierung zwischen legalen Genussmitteln und Rauschgift deshalb absurd. Nichtsdestotrotz ist die Situation bei illegalen Drogen keine gute. Auch wenn die Statistik nicht allzu viel aussagt: Sie zeigt schon, dass ein sehr großer Teil dieser Todesfälle auf Opioide zurückzuführen ist. Damit ist in Deutschland eigentlich immer Heroin gemeint.

Was macht Heroin so gefährlich?

Opioide wirken „atemdepressiv“. Die Atmung verlangsamt sich bis hin zum Atemstillstand. Die Menschen ersticken schlussendlich. Wir verzeichnen aber auch einen massiven Anstieg des Kokainkonsums in den vergangenen zehn Jahren. Aufputschende Substanzen wie Amphetamine, Methamphetamin oder eben Kokain gelten zwar im Vergleich zu Opioiden als weniger risikobehaftet, überdosiert können sie jedoch zu Herzinfarkten, Hirnschlägen und dergleichen führen. Zudem gibt es eine Reihe von Medikamenten mit Suchtpotenzial, an denen Menschen versterben. Benzodiazepine wirken etwa im Zusammenspiel mit anderen Substanzen wie Alkohol ebenfalls atemdepressiv.

„Es macht einen großen Unterschied, ob es um Menschen geht, die jung sind und eine Überdosis durch sogenannte Partydrogen erleiden. Oder ob es Menschen sind, die seit vielen Jahren mit Langzeitfolgen kämpfen“

Dennoch ist die Zahl der Todesfälle aus Ihrer Sicht nur wenig aussagekräftig. Wie meinen Sie das?

Man kann nur eingeschränkt abschätzen, ob jemand an einer Überdosis verstorben ist, ob dahinter eine suizidale Absicht stand oder ob beigemischte Substanzen eine Rolle gespielt haben. Zum Beispiel beim Schmerzmittel Fentanyl, ein künstlich hergestelltes Opioid, das auch als Droge gebraucht wird: War es vielleicht eine Langzeitfolge des Drogenkonsums? Hat sich jemand mit Hepatitis B infiziert und ist dort die Todesursache zu suchen? Das alles wissen wir nicht ohne toxikologische Gutachten und Obduktionen.

Welchen Unterschied würde es machen, wenn es diese Daten gäbe?

Wir könnten dann viel differenzierter betrachten, wer die Hochrisikogruppen sind, die versterben. Es macht einen großen Unterschied, ob es um Menschen geht, die jung sind, voll im Leben stehen und eine Überdosis durch sogenannte Partydrogen erleiden. Oder ob es Menschen sind, die seit vielen Jahren Substanzgebrauchsstörungen aufweisen, mit Langzeitfolgen kämpfen und wohnungslos sind. Für diese Gruppen müssten unterschiedliche Hilfsangebote entwickelt werden. Eine Möglichkeit, Partygänger zu erreichen, sind zum Beispiel Drug-Checking-Angebote, die mit einer niedrigschwelligen Suchtberatung verbunden sind. Dort kann aufgezeigt werden, welche Substanzen wirklich in den Drogen drinstecken, und ein Bewusstsein für die Risiken entwickelt werden. In der Schweiz existieren hiermit sehr gute Erfahrungen.

Und für die offene Drogenszene?

Sprechen wir über Menschen, die sich in offenen Drogenszenen aufhalten, haben wir es mit anderen Problemlagen und Lebensrealitäten zu tun. Hier geht es in erster Linie um schadenmindernde Angebote wie die Vergabe von sterilen Konsumutensilien, sichere Konsumbedingungen in Drogenkonsumräumen, eine Behandlung von psychischen und körperlichen Begleiterkrankungen und – dies ist sehr zentral – die Vermittlung in stabilen Wohnraum. Viele dieser Menschen sind von Straßenobdachlosigkeit betroffen. Offene Drogenszenen stellen ein Risikoumfeld für drogenbedingte Schäden dar – die auch tödlich wirken können.

Opioide spielen eine große Rolle bei der Zahl der Drogentoten. Gibt es wieder mehr Heroin auf den Straßen, oder ist es toxischer geworden?

Wir haben bisher leider kein reguläres flächendeckendes Drug-Checking in Deutschland. Deswegen können wir kaum Aussagen zu den Substanzen treffen, die in der Szene unterwegs sind. Wir wissen nicht, inwieweit sie hochrein sind oder ob sie mit anderen Substanzen versetzt wurden. Was wir allerdings seit kurzem sehen, ist, dass Heroin auch synthetische Opioide beigemengt werden. Das zeigen Daten der Deutschen Aidshilfe, die entsprechende Schnelltests in Drogenkonsumräumen durchgeführt hat. 3,6 Prozent dieser Testungen hatten positiv auf Fentanyl angeschlagen. Synthetische Opioide sind also punktuell schon da. Diese Substanzen sind hochpotent und schwer zu dosieren. Wenn Konsumentinnen und Konsumenten nicht wissen, dass sie beigemischt wurden, kann es versehentlich zu Überdosierungen kommen. Doch auch darauf lässt die Statistik der Drogentoten keine Rückschlüsse zu.

In den USA sterben sehr viele Menschen durch Fentanyl. Droht so eine Situation auch in Deutschland?

In den USA herrscht eine andere Ausgangslage: Eine Fentanyl-Überdosis ist mittlerweile die häufigste Todesursache bei Menschen zwischen 18 und 45 Jahren in den USA. Dort sterben mehr Menschen durch synthetische Opioide als im Straßenverkehr. In Deutschland ist Heroin ein größeres Problem. Man geht davon aus, dass mehr als 160.000 Menschen abhängig sind. Nur die Hälfte davon befindet sich in einem Substitutionsprogramm, etwa mit Methadon. Die andere Hälfte wäre akut gefährdet, sollten synthetische Opioide dem Heroin häufiger beigemengt werden.

„Ich sehe keine grundlegende Kehrtwende in der Drogenpolitik, damit die Zahlen gesenkt werden“

Das Heroin auf unseren Straßen kommt häufig aus Afghanistan. Die Taliban, die das Land kontrollieren, haben den Anbau von Schlafmohn verboten. Welche Auswirkungen wird das haben?

Tatsächlich ist die Heroinproduktion in Afghanistan 2023 bereits um 95 Prozent eingebrochen. Es gibt mehrere Szenarien, wie diese Lücke gefüllt werden könnte. Möglicherweise können die Taliban das Verbot nicht aufrechterhalten. Der Anbau von Schlafmohn ist schließlich sehr lukrativ. Das zweite Szenario ist, dass andere Akteure aus dem asiatischen Raum einspringen und Heroin nach Europa schmuggeln. Oder dass vermehrt synthetische Opioide auftauchen. Wahrscheinlich wird sich eine Kombination aus allen drei Szenarien einstellen.

Sie erwarten also, dass Fentanyl auch hier vermehrt auftreten wird?

Ja, das ist die Sorge vieler, die sich mit dem Thema beschäftigen. Bis Schlafmohn geerntet und zu Heroin verarbeitet ist, dauert es etwa zwölf bis 18 Monate. Das heißt, im kommenden Winter könnte es bereits zu Engpässen kommen.

Vor 24 Jahren befand sich die Zahl der Drogentoten schon einmal auf einem ähnlich hohen Niveau wie heute. Dann ging sie langsam zurück, bevor sie vor rund zehn Jahren wieder anstieg. Wieso ging diese Zahl lange Zeit zurück? Können wir aus dieser Zeit etwas lernen?

Auch früher standen die meisten Drogentodesfälle mit Heroin in Verbindung. Etwa ab dem Jahr 2000 wurden Angebote für opioidgestützte Substitutionsbehandlungen stark ausgeweitet. Am Anfang waren diese noch sehr teuer. Heute ist das anders, und eine Behandlung mit Substituten und Diamorphin gilt als standardmäßig bei einer Opioidabhängigkeit.

Bei Diamorphin handelt es sich um reines Heroin. Wie kann das ein Weg aus der Abhängigkeit sein?

Diese Menschen sind weiterhin chronisch suchtkrank. Es gibt Menschen, die abstinent leben wollen und das auch schaffen. Es gibt aber auch viele, bei denen das nicht funktioniert. Bei ihnen geht es um Schadensminderung, eine Erhöhung der Lebensqualität und mehr soziale Integration. Das Substitut wird oral eingenommen. Diamorphin, also der Heroin-Originalstoff, ist bisher nur für den intravenösen Gebrauch in Deutschland zugelassen. Durch diese Behandlungen fallen Risiken weg, die mit dem gemeinsamen Gebrauch von Nadeln einhergehen. Die Menschen müssen nicht in die Kriminalität abrutschen. Das Risiko von Infektionen sinkt, Begleiterkrankungen können behandelt werden. Dadurch leben die Menschen auch länger. Zudem kann eine soziale Integration und die Erhöhung der Lebensqualität erzielt werden. 

Was wäre aus Ihrer Sicht notwendig, um eine erneute Wende einzuleiten?

Das Thema müsste stärker in den Fokus genommen werden. Ich sehe keine grundlegende Kehrtwende in der Drogenpolitik, damit die Zahlen gesenkt werden. Ein großer Konflikt besteht in der Kriminalisierung der Konsumierenden. Hierdurch verstärken sich die Problemlagen, Stigmatisierungen nehmen zu, und die Zugänge zu Hilfen werden erschwert. Wir benötigen bundesweite Bemühungen, eine einheitliche Versorgung dieser Menschen zu ermöglichen, welche sich am aktuellen Forschungsstand ausrichtet. Leider ist die Drogen- und Suchtpolitik sehr zergliedert. Je nach politischer Ausrichtung und Weltanschauung von Politiker*innen sind einzelne Maßnahmen zur Schadensminderung in den Bundesländern vorhanden oder eben nicht. Das macht keinen Sinn. Zudem sind die Städte und Kommunen gefordert, Angebote und Maßnahmen vorzuhalten, die Überleben sichern und Risiken minimieren. Dies kostet allerdings Geld, welches häufig nicht für diese Zwecke eingesetzt wird. Die Verhältnisse und Strukturen bedingen ein Stück weit die Problemlage. Daher befürchte ich, dass wir weiterhin einen Anstieg an drogenbedingten Todesfällen zu verzeichnen haben.

 

Prof. Dr. Daniel Deimel hat eine Forschungsprofessur in Gesundheitsforschung und Prävention an der Technischen Hochschule Nürnberg inne. Er ist unter anderem Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Landespräventionsrates NRW.

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Illustration: Alexander Glandien