Abbes Sebbah vor dem Betrieb / Abbes Sebbah setzt Teile zusammen

Abbes macht Ampere

Aus der Wüstenstadt Tataouine in die rheinland-pfälzische Provinz: Abbes Sebbah lernt in Wittlich Elektroniker. Denn Fachkräfte braucht das Land

Text: Luise Land und Fotos: Thomas Pirot
Thema: Arbeit
16. Juni 2025

Mit Händen, die rissig sind von der Arbeit, fädelt Abbes Sebbah Kupferdraht auf eine Spule, die später einen Elektromotor in Bewegung bringen soll. Sechs oder sieben Stunden sitzt er hier an der Werkbank hinten links. Im Hintergrund heult ein Akkuschrauber, „Zutritt nur in Schutzkleidung“, mahnt ein orangefarbenes Schild. 

An anderen Tagen baut Abbes Steuergeräte für Lüftungen zusammen, verdrahtet Schaltschränke für Photovoltaikanlagen und lötet Leiterplatten. Seit zweieinhalb Jahren lernt der 27-Jährige beim Elektrounternehmen Klein in Wittlich. 

Aufgewachsen ist Abbes in Tataouine, einer Stadt mit engen Gassen im Süden von Tunesien. Seine drei Schwestern, sein Bruder und seine Mutter leben dort. Aber im Sommer will Abbes hier, in der rheinland-pfälzischen Provinz, die Prüfung zum Elektroniker für Maschinen- und Antriebstechnik ablegen. 

Deutschlands Fachkräftemangel

Überall im Land suchen Unternehmen nach Personal, vor allem in der Kinderbetreuung, der Kranken- und Altenpflege, in der Physiotherapie und in den Elektroberufen. Schon 2021 errechnete das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, dass jedes Jahr 400.000 ausländische Fachkräfte einwandern müssten, um die Renteneintritte der geburtenstarken „Babyboomer“-Jahrgänge aufzufangen. 400.000 netto, das heißt, die, die auswandern, sind bei dieser Zahl schon abgezogen. 

Da liegt es nahe, Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuwerben. Das Handwerk Baden-Württemberg möchte Auszubildende aus Indien, Nepal, Südafrika, Ruanda und Indonesien gewinnen, die Industrie- und Handelskammer Südthüringen wirbt vietnamesische Jugendliche an. Abbes hat sich beim THAMM-Projekt beworben, mit dem Bund und EU in nordafrikanischen Ländern Auszubildende und qualifizierte Fachkräfte suchen. 

Es riecht nach Lack und heißem Metall. Ein Mann mit weißem Bart dreht eine Schraube in die Platte aus Polyester und Glasfaser vor sich. Zwei Reihen weiter zieht sich eine blonde Frau Gummihandschuhe über. 61 Menschen arbeiten bei Klein Elektronik. 

„Ich könnte drei Monate am Stück Schaltschränke verdrahten, aber nicht zwei Tage Leiterplatten löten“, sagt Abbes zwischen den Werkbänken. Schaltschränke sind seine liebste Arbeit, „sauber arbeiten, Kopfarbeit, das macht Spaß“. Abbes lächelt und guckt dann schnell wieder weg, auf den grauen Werkstattboden. 

Abbes Sebbah, Teilnehmer an einem Ausbildungsprogramm gegen Fachkräftemangel, in einer Elektrowerkstatt

Noch ist Abbes hier – aber wird er bleiben? In einem OECD-Ranking, das 2023 die Attraktivität der Industriestaaten für hochqualifizierte Fachkräfte gemessen hat, liegt Deutschland auf Platz 15 von 38. Hinter Neuseeland, Schweden, der Schweiz oder Australien. Die Gründe sind unter anderem die langwierige Einbürgerung, die schleppende Digitalisierung, aber auch die geringere gesellschaftliche Akzeptanz von Migrantinnen und Migranten

Als Abbes im November 2022 am Frankfurter Flughafen ankommt, ist es bewölkt und kalt. Die ersten zwei Wochen schläft er bei Yessin im Wohnzimmer. Yessin ist auch Azubi aus Tunesien, er hat im Lehrjahr vor ihm begonnen. Abbes spricht Deutsch, B1. Sechs Monate Deutschkurs, Abschlussprüfung, dann organisierte das THAMM-Projekt Bewerbungsgespräche mit verschiedenen Unternehmen für ihn. 

Abbes bezieht eine Einzimmerwohnung am Stadtrand von Wittlich. Sein erster Tag? Er erinnert sich kaum. „Deutsch war schwer, in der Berufsschule habe ich mit niemandem geredet.“ Aus dem Fenster guckt er ins Grüne. Er mag die Natur, die Ruhe, die verschnörkelten Dächer und hellroten Fassaden am Marktplatz. 20.000 Menschen leben hier. Im türkischen Supermarkt kauft er Gewürze. Abbes kocht jeden Tag, Couscous zum Beispiel mit Rindfleisch und Kichererbsen. Sein Arbeitsweg für die nächsten Jahre: zehn Minuten zu Fuß, zehn Minuten Bus, dann ist er angekommen am Flachbau von Klein Elektronik im Industriegebiet. 

Zwischen Rassismus und Heimweh

Yessin sagt, Abbes sei schüchtern, nicht nur auf Deutsch, auch auf Arabisch. Abbes freundet sich mit Yessin an und mit Abo aus Syrien und Yussef aus Marokko. Im Sommer sitzen sie auf den Treppenstufen neben der Lieser, die durch die Kleinstadt plätschert. Alle vier sind in den vergangenen Jahren nach Deutschland gekommen und haben bei Klein Elektronik gelernt. In Leipzig und Regensburg hat Abbes weitere Freunde, die er aus Tunesien kennt. Sie hätten ihm erzählt, dass ihre Kollegen sie manchmal nicht in Ruhe lassen, dass sie Rassismus erleben. „Aber ich habe Glück“, sagt Abbes. Er werde nicht schief angeschaut, er habe nicht das Gefühl, hier fehl am Platz zu sein. „Die Menschen in Wittlich sind gut.“ 

Wenn er Heimweh hat, geht er im Park spazieren oder ins Fitnessstudio, laufen oder boxen, damit er nicht allein in seiner Wohnung sitzt. Er liest viel, über Philosophie und Physik, von Stephen Hawking zum Beispiel, und zeichnet gerne. Abbes zieht sein Smartphone aus der Hosentasche, zeigt ein Foto von einer Bleistiftzeichnung: ein Adler, der in Flammen steht. 

Zwei- bis dreimal im Jahr fliegt er nach Tunesien. Er besucht seine Familie, seine Großmutter, tanzt auf Hochzeiten und campt mit Freunden in der Sahara. Dort sind 48 Grad, die Sonne brennt. Seine Schwester war sieben, als er nach Deutschland ging. Sie vermisse er am meisten, sagt Abbes. 

fluter: „Wie geht es deiner Familie damit, dass du in Deutschland bist?“
Abbes: „Geht so. Ich telefoniere jeden Abend mit meiner Mutter, oft mit Video. Gestern hat sie mir gezeigt, wie meine kleine Schwester mit zwei Babykatzen spielt. Meine Familie ist traurig. Aber sie verstehen, dass ich hier sein muss. Dass ich bald Geld verdiene, das ich nach Hause schicken kann.“

In Deutschland verdiente Abbes schon im ersten Lehrjahr mehr als das Doppelte von dem, was er in Tunesien als Elektriker kriegen würde. Reicht das als Grund, um ein altes Leben zurückzulassen und ein neues zu beginnen, gut 2.000 Kilometer entfernt? Warum ist er nach Deutschland gekommen? Abbes muss überlegen. Er guckt auf den Tisch vor sich im Meetingraum von Klein Elektronik. 

Abbes: „Ich interessiere mich schon immer für Technik. In Tunesien habe ich Maschinenbau studiert, aber ich wollte mehr über Elektronik lernen. Würde ich diese Ausbildung in Tunesien machen, würde ich die meiste Zeit in der Schule sitzen und wenig im Betrieb lernen. Aber vor allem muss ich Geld verdienen.“ 

Und was erhofft sich Klein Elektronik davon? 

„Fachkräfte“, sagt der Geschäftsführer Christopher Klein. „Wir hatten schon Jahre, in denen wir so gut wie keine guten Bewerbungen von Deutschen bekommen haben.“ 

Nur wenige brechen das Programm ab

Die größten Herausforderungen seien die Wohnungssuche und der Papierkram, sagt Klein. „Einen Vermieter zu finden, der Wohnungen an eine Person vermietet, die noch nicht mal im Land ist, ist wirklich schwer. Und Aufenthaltsgenehmigungen dauern lange und sind kompliziert.“ 

Menschlich dagegen habe es noch nie Probleme gegeben. THAMM bereite die Auszubildenden schon zu Hause sehr gut vor. Teil der Anwerbung sind interkulturelle Trainings, die auf den Alltag und die Gesellschaft in Deutschland einstellen sollen, auf den Einkauf auf dem Wochenmarkt, die Mittagspause mit dem neuen Kollegium oder Behördengänge. Bundesweit hat das Projekt 486 Personen vermittelt, davon fast zwei Drittel in Ausbildungen. Laut THAMM gibt es kaum Auszubildende, die das Programm abbrechen. 

Im Sommer schließt Abbes ab. Der Betrieb hat ihm gerade einen B2-Sprachkurs zugesagt, um sein Deutsch weiter zu verbessern. Erst mal will Abbes bei Klein Elektronik bleiben, sich nach ein paar Jahren vielleicht zum Energieberater weiterbilden und damit selbstständig arbeiten. Sein eigenes Ding machen. Seinen Kopf mehr anstrengen. 

fluter: „Glaubst du, dass du in zehn Jahren in Deutschland lebst?“ 
Abbes: „Auf keinen Fall. Meine Geschwister und meine Mutter wollen nicht nach Deutschland kommen. Jetzt muss ich Geld verdienen, dann will ich zurück.“  

Für Klein Elektronik ist das kein Rückschlag. Er suche früh das Gespräch, um zu erfahren, was die Auszubildenden im Betrieb halten würde, sagt Geschäftsführer Klein. Aber in der jüngeren Generation gebe es einfach weniger, die nach der Ausbildung langfristig bleiben, ganz egal ob sie aus Wittlich kommen oder über das THAMM-Projekt. Yessin hat sich gerade entschieden, in Deutschland zu bleiben, seine Freundin aus Tunesien lebt inzwischen hier. Klein hofft, dass auch Abbes bleibt. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagt er. „Aber selbst wenn Abbes nur seine Ausbildungszeit bei uns arbeiten würde, bringt uns das schon weiter.“ 

Cover des fluter-Hefts #95 zum Thema Handwerk
Dieser Artikel ist aus dem fluter „Handwerk“.
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