
Ihr habt uns noch gefehlt
Das Land hat einen drastischen Mangel an Azubis im Handwerk. Und diese Schule in Brandenburg hat eine Idee, was man da machen kann
Elias Scheppelmann kippt einen Teigklumpen auf das Blech und schlitzt drei Kerben hinein. Die Luft steht vor Mehl und Hitze. Er stemmt das Blech in den Steinbackofen, schließt die Ofenklappe und stellt einen Wecker. Zwölf Brote sind im Ofen, fehlen noch 60.
Hinter ihm steht Angelika Tiersch, die Bäckermeisterin, weiße Kappe, weiße Schürze. „Dem brauch ich nichts mehr zu erzählen“, sagt sie.
Tiersch steht seit zwölf Stunden in der Backstube, Elias seit sechs. Teig kneten, Teig gehen lassen, Brote formen, Brötchen formen, die Knüppel bekommen in der Mitte einen Knick.
Elias ist Neuntklässler und Tierschs Praktikant. Zwei Tage die Woche arbeitet er in „Gela’s Backstube“. Dass das möglich ist, liegt an Elias’ Schule. Er besucht die J.H.A.-Duncker-Oberschule in Rathenow, Brandenburg. Die hat ein sogenanntes Berufsorientierungsprofil: Die Schülerinnen und Schüler der achten Klassen arbeiten einmal die Woche in einem Betrieb, die der neunten und zehnten Klassen zweimal. Damit sie nach der Schule wissen, was sie machen wollen. Und damit die Betriebe in Rathenow Nachwuchs bekommen.
Auf Facebook postet Tiersch regelmäßig Stellenanzeigen, eingerahmt von Brot-Emojis. Die Zahl der Auszubildenden im Handwerk sinkt, von knapp 402.000 im Jahr 2012 auf rund 342.000 im vergangenen Jahr.

Jana Brandstäter koordiniert an der Duncker-Oberschule die Praktika
Hinter dem Profil der Schule steht Jana Brandstäter, Lehrerin an der Duncker. Sie trägt knallpinke Turnschuhe. Ständig klingelt ihr Handy, sie stellt den Anruf auf laut und fährt, läuft, arbeitet weiter. Die Schülerinnen und Schüler in den Betrieben, die sie jede Woche besucht, nennt sie „meine Diamanten“. Seit elf Jahren kümmert sich Brandstäter um die Praktika.
Damals hatte Brandenburgs Bildungsminister die Schulen aufgefordert, den Schülerinnen und Schülern mehr Einblicke in die Arbeit in Betrieben zu geben. Brandstäter überlegte, wie das zu machen wäre. Und schlug als ehemalige Berufsschullehrerin vor, aus dem zweiwöchigen Praktikum, das zweimal im Jahr stattfand, ein wöchentliches zu machen. Das funktionierte. „Früher waren die Schüler oft planlos, wenn sie von der Schule gegangen sind. Heute wissen die meisten, was sie machen wollen.“
Gerade sind 113 Schülerinnen und Schüler im Praktikum in 94 Betrieben. Unterrichtszeit fällt nicht weg: Vier Wochen Praktikum und der Berufsfeldunterricht standen ohnehin im Lehrplan und verteilen sich jetzt über das Schuljahr. Geld bekommen die Schülerinnen und Schüler nicht. Dafür beginnen nach der Schule 75 Prozent eine Ausbildung in einem der Praktikumsbetriebe, schätzt Brandstäter.
Elias ist das zweite Jahr bei Angelika Tiersch. „Ich will hierbleiben“, sagt er, „unbedingt.“ Auch Tiersch würde ihn am liebsten aus der Schule nehmen und direkt einstellen. Sie wird dieses Jahr 64. Der Mietvertrag der Bäckerei läuft in zwei Jahren aus. Nach denen will sie in Rente, eigentlich. Wenn sie Elias ausbildet, ginge das nicht. „Vielleicht lass ich das so weiterlaufen und bin nur noch im Hintergrund. Und komme für Elias immer mal hierher. Würde ich sehr gerne. Dem Handwerk fehlen ja die Leute.“
Es gibt viele Ansätze, um mehr Azubis in die Betriebe zu kriegen. Wir haben ein paar vielversprechende kurz zusammengefasst.
Die Handwerkskammer Lübeck testet ein Freiwilliges Handwerksjahr. Teilnehmende sind je drei Monate in einem Betrieb, lernen so vier Ausbildungsberufe kennen. Aufwandsentschädigung: 450 Euro brutto im Monat.
Werkunterricht war früher Standard an Schulen (in der DDR sogar Pflicht). Heute haben viele Schulen weder Platz für Werkräume noch Lehrkräfte mit Maschinenschein.
Wo der Wohnraum knapp ist, langt die Ausbildungsvergütung nicht, um eine Miete zu stemmen. Ein paar Betriebe, Kammern und Kommunen haben deshalb Azubihäuser gebaut: Die Auszubildenden wohnen in eigenen Apartments oder zusammen in WGs, teilen sich Gemeinschaftsräume und dürfen die Häuser oft auch nach ihren Ideen umbauen.
In mehr als 50 Handwerksberufen darf man nur mit Meistertitel eine Firma aufmachen oder Nachwuchs ausbilden. Aber der Meister ist teuer. In der Elektrotechnik etwa kostet er um die 12.000 Euro. Seit 1996 soll das Meister-BAföG (mittlerweile „Aufstiegs-BAföG“) helfen: Förderberechtigte bekommen bis zu 75 Prozent der Lehrgangs- und Prüfungsgebühren zurück.
Malermeister Andy oder Anlagenmechanikerin @sandrahunke erreichen auf YouTube und TikTok ein Publikum, das sich vor allem ihretwegen für Trockenbau und Spülkästen interessiert. Weitere Influencerinnen im Handwerk seht ihr in unserem fluter-Film.
Einige Apps wie AzubMe wollen das Tinder für Ausbildungsberufe sein: Man swipt durch Jobkarten mit Infos zu Lohn und Ausbildungsweg, sieht Videos eines typischen Arbeitstages oder kann auf einer Karte nach ausgeschriebenen Stellen suchen.
Mit kleinen Ideen ist es natürlich nicht getan: Neben günstigem Wohnraum brauchen Azubis bezahlbaren Nahverkehr. Oder einfach generell mehr Lohn. Auch die Qualität der Ausbildung kann vielerorts nicht so gut sein, wie manche behaupten: Fast jeder dritte Ausbildungsvertrag im Handwerk wird vorzeitig aufgelöst.
Der zweite Stock eines Rathenower Plattenbaus. Die Decken sind kahl, der Boden ist verstaubt, durch die Wände ziehen sich tiefe Furchen. „Hier kommen gleich so die Unterputzdosen rein“, sagt Jonas Oehlschläger, 15, Zahnspange, Sommersprossen, Blaumann. Er zieht eine schwarze Plastikbüchse aus einem Netz, kniet sich hin, schabt mit dem Zeigefinger den Staub aus der Wand und steckt die Unterputzdose hinein. Einmal rum, durch jeden Raum. Lutz Kähne läuft ihm hinterher und drückt die Dosen mit Spachtelmasse fest. „So, dass sie nicht rausstehen“, erklärt er. Jonas guckt kurz und nickt. Kähne ist Elektromeister, Jonas seit Anfang des Schuljahres sein Praktikant. Im Hintergrund piept ein ausgebauter Rauchmelder.
Das Praktikum bei Kähne ist nicht Jonas’ erstes. Vorher war er beim Orthopädietechnik-Mechaniker und wäre dort fast geblieben. Aber dann stand Lutz Kähne in der Küche von Jonas’ Familie und baute neue Steckdosen ein. Jonas’ Mutter holte ihren Sohn aus seinem Zimmer: Na, wäre das nicht was? Elektriker?
Nach ein paar Wochen Bedenkzeit lief Jonas zu Kähnes Betrieb und bewarb sich für das Praktikum. Die Schülerinnen und Schüler der Duncker-Oberschule bewerben sich für ein Schuljahr bei den Betrieben. Danach können sie wechseln oder sich für ein weiteres Jahr bewerben.
Inzwischen hat er sich für eine Ausbildung zum Elektriker entschieden, nicht bei Kähne, aber bei einem anderen Betrieb in Rathenow. „Ich will noch mal was Neues ausprobieren, es gibt ja für einen Elektriker viele Richtungen.“ Er repariert gerne „Kleinigkeiten“, Sprechanlagen zum Beispiel. „Vielleicht probiere ich noch Automechatroniker aus, im Ferienjob, das hat mir mein großer Bruder empfohlen.“
Für Jonas ist das Praktikum auch eine gute Abwechslung zur Schule. Seine Klasse sei laut, sagt er, und mit dem Stoff kämen sie nicht so richtig durch.
Nach den Unterputzdosen verlegt Jonas die Kabel. Er holt Nagelschellen und vergisst die Leiter. „Die brauchst du schon, sonst kommst du da nicht hin. Und da ist Beton, da nicht reinhämmern“, sagt Kähne und deutet auf eine Wand. Jonas holt die Leiter, hängt das Kabel in eine der Furchen in der Wand und hämmert die Nagelschellen ein, kleine Plastikringe, die das Kabel fixieren.
Die beiden arbeiten meist zu zweit. Als Jonas den Hammer nicht findet, weil Kähne ihn hat, kommt der aus dem Nebenraum und gibt ihn zurück. Kähne spricht viel von Anerkennung, die es im Handwerk noch gebe. Es könne ja jeder sehen, was sie schaffen. Er erzählt aber auch, dass er in seiner Ausbildung erst mit zehn Jahren Verspätung Lob bekam, als er seinen Ausbilder zufällig traf.
„Die Jugend von heute kannst du vergessen? Das ist nicht so“, sagt Kähne. Als Jonas erzählt, dass ein Mitschüler von Kähnes Betrieb als Malerpraktikant abgelehnt wurde, ruft Kähne den Malermeister an: „Das sind doch die Lehrlinge von morgen! Warum wird der nicht genommen?“ Ausnahmsweise hätten sie gerade viele Lehrlinge, es gebe keine Kapazitäten für einen Praktikanten, antwortet der Malermeister. Kähne versteht und legt auf.
In Jana Brandstäters Büro hängen Blaumänner und Arbeitsjacken an der Garderobe. Im Schrank steht für jeden Schüler und jede Schülerin ein Ordner, in dem Brandstäter Bewerbungsunterlagen, Zeugnisse und Selbsteinschätzungen sammelt. Ein Betriebsleiter ruft an: Eine Schülerin komme nicht ins Praktikum, und wenn, stehe sie nur rum. „Dann beenden wir das Praktikum“, sagt Brandstäter. „Wenn die keinen Spaß haben, dann bringt das ja nichts.“ Sie wird versuchen, die Schülerin woanders unterzubringen.
„Man hat auch ein paar Pfeifen“, sagt Angelika Tiersch, zwei Jungs habe sie nach zwei Wochen wieder nach Hause schicken müssen, eine Praktikantin habe das Geschirr versteckt, statt es zu spülen, und das Gebäck angeknabbert. Aber Elias, den würde sie sofort übernehmen. Der könne nach zwei Jahren seinen Meister machen. Um elf Uhr macht Elias Feierabend, länger darf er nicht arbeiten. Angelika Tiersch sagt: „Der geht jetzt nach Hause und backt da weiter.“
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