Wenn ich an meine Kindheit denke, sehe ich meine Eltern streiten. Sie stritten überall: auf der Straße, beim Einkaufen, im Auto und fast jeden Abend zu Hause. Sie stritten auf dem Fahrrad oder im Paddelboot. Keine Kulisse schien ihnen ungeeignet zum Streiten – und kein Moment zu friedlich. Ein Picknick vor einem herzzerreißend schönen Sonnenuntergang zerrieben sie beinahe lustvoll mit ihrem Gebrüll. Worüber sie ständig stritten? Es ist verrückt, aber ich weiß es nicht mehr.
Ich erkläre mir das so: Ein Kind versteht noch nicht, worüber sich die Eltern streiten. Und wenn es größer ist, hat es sich zu sehr daran gewöhnt, um es noch zu hinterfragen. Der Krach wird zum Rauschen. Wie eine laute Straßenbahn, die vor der eigenen Wohnung vorbeifährt und jedem Gast sofort auffällt, nur einem selbst nicht mehr.
„Es kann. Nicht. Sein. Dass wir ... seit so langer Zeit und ... DEINE MUTTER!“ – „Für mich war es nie ... nur DU MUSST IMMER WIEDER ... so GEHT das NICHT!“
Ihre Auseinandersetzungen folgten der immer gleichen Dramaturgie. Am Anfang redete mein Vater, zunehmend lauter werdend. Dann setzte meine Mutter ein, die leiser sprach, dafür aber entschiedener. Ich kann ihren Sound noch immer in meinem Kopf abrufen. Es ist wie bei einem alten Lied, von dessen Text man nur noch Fragmente erinnert: „Es kann. Nicht. Sein. Dass wir ... seit so langer Zeit und ... DEINE MUTTER!“ – „Für mich war es nie ... nur DU MUSST IMMER WIEDER und immer wieder ... so GEHT das NICHT!“
Handgreiflich wurden sie nicht, nur einmal flog ein Stuhl durch unsere Küche (in meiner Erinnerung fliegt er in Zeitlupe). Und wenn sie sich mal nicht stritten, schwiegen sie vor lauter Groll, was mir fast bedrohlicher vorkam, ein bisschen wie die Regenerationsphase zweier Boxer kurz vor der nächsten Runde.
Da es meinen Eltern anscheinend nicht gelang, sich zu versöhnen, wollte ich mit gutem Beispiel vorangehen. Ich, so schwor ich mir, würde mich nie streiten. Mit niemandem. Never ever. Wie um meinen streitenden Hausgöttern zu zeigen, wie schön das Leben sein kann, wenn man nicht ständig zankt.
Mein Wirken als Harmoniebeauftragter führte zu bizarren Situationen. Unten in der Küche gingen zwei Vulkane los, oben im Kinderzimmer spielte ich auf der Gitarre fröhliche Indierocksongs. Ich lenkte mich vom elterlichen Getöse ab und hoffte insgeheim, die da unten würden die Musik hören und endlich verstehen, wie schön und einfach alles sein könnte. Einfach Frieden – wie wär’s, ihr Lieben? Wie schwer kann’s bitte sein, wenn es euch euer 15-Jähriger hier oben vorjammt? Es half leider nichts.
Ich sah meine Mutter weiter weinend in der Küche sitzen, hörte meinen Vater tagelang kein Wort sprechen. Es fühlte sich an, als würde er auch mich mit seinem Schweigen bestrafen.
Beziehungen gab ich lieber auf, anstatt zu streiten
In meiner Erinnerung ging ihr Streit noch Jahre weiter, bis ich andere Möglichkeiten hatte, mich ihm zu entziehen. Ich zog aus und trug mein versöhnliches Mindset in die Welt hinaus. Ich lernte an der Uni Freunde und Freundinnen kennen, mit denen ich mich nicht stritt, führte ultraharmonische Liebesbeziehungen und verließ umgehend die WG-Küche, wenn jemand laut wurde. Menschen, die mir zu kompliziert wurden, wechselte ich regelrecht aus. Alle zwei bis drei Jahre hatte ich eine neue Beziehung. Freundschaften konnte ich nie genug haben, aber wenn jemand von seinem besten Freund sprach, fiel mir auf, dass ich nicht wirklich wusste, wer das für mich sein sollte.
Als konfliktscheuer Mensch lernt man wunderbar Leute kennen. Die Leute fühlen sich aufgehoben bei einem, weil niemand auf Streit aus ist und sich Unverbindlichkeit gut anfühlt, das Leben ist ohnehin voller Pflicht und Nerv. Ich wurde über die Jahre gut darin, Leichtigkeit zu versprühen. Locker bleiben, lächeln, keine Probleme machen: Ich war ein Friedensdienstleister.
Dieser Text ist im fluter Nr. 91 „Streiten“ erschienen
Bis ich vor einigen Jahren Ada traf. Sie ließ mir meine Vermeidungsstrategie nicht durchgehen. Wenn ich sie mied, weil sich ein Streit anbahnte, rief sie mich immer wieder an. Stand plötzlich vor der Tür. Tauchte bei meiner Arbeit auf. „Du bist unmöglich“, sagte sie.
Und dann diskutierten wir die Dinge aus. Führten Gespräche, die nur ernst, ernst, ernst waren. Es dauerte, bis ich verstand, dass Ada mein großes Glück war. Durch sie machte ich eine Erfahrung, die ich in meiner Kindheit verpasst hatte: dass man durch einen Streit gewinnen kann. Dass man sich hinterher oft näher ist als vorher. Weil man gesagt hat: Du bist es mir wert, mich mit dir zu streiten. Ada schwieg mich nach dem Streiten nicht an. Eher sagte sie wieder, diesmal lächelnd: „Du bist unmöglich.“
Wenn ich heute nach Hause fahre, streitet dort niemand mehr. Meine Eltern wirken abgekämpft, wie zwei erloschene Vulkane. Ein wenig tun sie mir leid: War das nicht unglaublich hart, sich andauernd zu streiten? Zu fragen habe ich mich bislang nicht getraut. Noch bin ich zu harmoniebedürftig. Aber ich glaube, es wird nicht mehr lange dauern.
Illustration: Sebastian Haslauer