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„Wir sollten an die Einheit Frankreichs denken“

Nach dem Sieg der französischen Linken bei den Parlamentswahlen scheint das Land gespalten. Wie blicken junge Französinnen und Franzosen in die politische Zukunft?

Menschen feiern das Wahlergebnis auf dem Place de la République

Der Ausgang der zweiten Runde der französischen Parlamentswahlen am 7. Juli kam für viele überraschend: Die Nouveau Front Populaire (NFP), ein Wahlbündnis, unter dem die sozialdemokratische Parti Socialiste (PS), die linkspopulistische La France Insoumise (LFI) und weitere Parteien vereint sind, konnte sich die meisten Sitze in der Nationalversammlung sichern. Damit lagen sie noch vor Macrons zentristischer Allianz Ensemble pour la République und dem rechtsextremen Bündnis des Rassemblement National (RN).

Dabei ging aus dem ersten Wahlgang der RN noch als Sieger hervor – doch Ensemble pour la République und die NFP konnten das Ergebnis drehen, indem sie zusammenarbeiteten: KandidatInnen, die im ersten Wahlgang auf einem hinteren Platz landeten, zogen sich in ihren Wahlkreisen zugunsten der besser platzierten Person zurück, um somit die Chancen des RN auf ein Direktmandat zu minimieren. Trotzdem konnte keine Partei die notwendige absolute Mehrheit von 289 Sitzen erreichen. Das heißt: Für eine handlungsfähige Regierung müssten die Parteien nun eine Koalition finden – eine ungewohnte Situation in Frankreich.

„Wie für viele Menschen ist die Partei von Macron für mich unwählbar geworden“

„Ich habe das linke Wahlbündnis NFP gewählt und war sehr froh über die Ergebnisse der zweiten Wahlrunde. Da aber keine Partei eine absolute Mehrheit erreicht hat, wird wohl erst mal ziemlich viel politisches Drama auf uns zukommen. Wie für viele Menschen aus Frankreich ist die Partei von Macron für mich unwählbar geworden.

Ich persönlich denke zum Beispiel daran, wie die Regierung eine EU-weite Definition von Vergewaltigung abgelehnt hat. Sie basiert auf Konsens, und hätte es Frauen in Frankreich erleichtert, Vergewaltigungen zur Anzeige zu bringen. In Frankreich muss man nämlich quasi beweisen, dass man genötigt wurde – deswegen kommt es seltener zu Verurteilungen. Ich halte auch das Wirtschaftsprogramm der NFP für weitaus besser als das anderer Parteien, zum Beispiel als das des rechten Rassemblement National (RN). Dessen Politik würde eher zu mehr Ungleichheiten in der Gesellschaft führen. Genau das brauchen wir nicht in Frankreich.

Mich sorgen jetzt schon erhöhte Militärausgaben, während Bereiche wie Bildung und Gesundheit chronisch unterfinanziert sind. Ebenso die Sicherheit von Frauen und marginalisierten Gruppen: Die Zahl der sexuellen Übergriffe ist relativ hoch. Ich hoffe, diese Themen werden nicht unter den Teppich gekehrt. Ich kann nicht sagen, dass ich optimistisch in die Zukunft blicke. Dieses Bündnis der NFP war ja nur zweckmäßig, in vielen Punkten sind die Parteien sich überhaupt nicht einig. Bis ein Premierminister feststeht, bin ich vorsichtig dabei, die politische Lage im Land zu beurteilen.“

Emma, 24, aus der Nähe von Straßburg, arbeitet in einem französischen Kindergarten in Berlin

„Ich habe das Gefühl, dass Frankreich immer unsicherer wird, und der RN ist die einzige Partei, die dieses Thema ernstnimmt“

„Nach sieben Jahren Macron ist seine Bilanz denkbar schlecht: Die Staatsschulden sind explodiert, diplomatische Beziehungen haben sich verschlechtert, und ich habe das Gefühl, dass Frankreich immer unsicherer wird. Damit meine ich alltägliche Gewalt, Übergriffe auf der Straße und Vergewaltigungen. Der Rassemblement National war für mich die einzige Partei, die dieses Thema ernst genommen hat, deswegen habe ich für sie gestimmt.

Der RN ist nicht perfekt – die Kandidaten kommen manchmal etwas amateurhaft daher, und auch sein Wirtschaftsprogramm ist nicht optimal: Nirgends ist beispielsweise die Rede davon, die Staatsschulden zu tilgen. Aber zumindest tun sie nicht so, als ob alles in Ordnung wäre, und sie versuchen, Lösungen für Probleme zu finden. Zum Beispiel setzen sie sich für bessere Grenzkontrollen ein oder die Möglichkeit, Familien die Sozialhilfe zu kürzen, wenn die Kinder wiederholt straffällig werden. Die NFP macht genau das Gegenteil: Sie setzt sich unter anderem für einen regulären Status für Personen ohne Aufenthaltspapiere ein. Wenn die kriminell werden, könnte das einer Abschiebung im Weg stehen.

 Ich finde, mit dem Ausgang des zweiten Wahlgangs sind die meisten Wählerinnen und Wähler nicht wirklich repräsentiert. Ich befürchte, mit den drei Blöcken, die sich jetzt ergeben haben, wird es schwierig werden, einen neuen Weg einzuschlagen.“

Charles, 26, aus Rouen, arbeitet als Ingenieur in Doubs an der Grenze zur Schweiz

„Rechte Medien schüren Ängste in der Bevölkerung, die der RN ausschlachten kann“

„Prinzipiell finde ich, dass es bei den Wahlen nicht immer um Parteipolitik gehen sollte: Viel wichtiger ist, dass der Abgeordnete die Bedürfnisse des Wahlkreises repräsentiert. Deswegen habe ich meine Stimme dem Kandidaten der Liste ‚Divers centre‘ gegeben (Kandidaten, die politisch zum Zentrum gehören, aber nicht von einer zentristischen Partei aufgestellt wurden, also auch Parteilose, Anm. d. R.). Der müsste sich an keine Anordnungen der regierenden Parteien halten.

Ich finde, die Dinge stehen gar nicht so schlecht, wie alle meinen, nur leider sehen die Leute immer eher das Negative. Dass Jean-Luc Mélenchon von der linkspopulistischen LFI an die Regierung kommen könnte, ist für mich keine schöne Vorstellung. Für mich ist er ein Populist, der nur nach mehr Macht strebt. Ähnlich wie Präsident Macron, aber dessen Positionen kann ich zumindest vertreten: Zum zum Beispiel seine geplante Anhebung des Rentenalters auf 64 Jahre. Dass linke Parteien weiterhin den Eintritt ab 62 Jahren oder sogar eine Senkung fordern, halte ich im Hinblick auf wirtschaftliche Realitäten für unverantwortlich. Wer weiß schon, wie unsere Lage in 30 Jahren sein wird, wenn unsere Generation in Rente geht?

Den RN finde ich extrem gefährlich, insbesondere weil die Partei immer mehr verharmlost wird. Rechte Medien schüren Ängste in der Bevölkerung, die der RN ausschlachten kann. Das besorgt mich sehr. Außerdem ist es doch klar, dass wir Migration für eine funktionierende Wirtschaft brauchen. Ich hoffe auf eine Kohabitation (Bezeichnung in Frankreich für die gemeinsame Ausübung der Regierungsverantwortung durch zwei konträre politische Lager, Anm. d. Red.), die offen für Kompromisse ist. Dass wir als Nation gespalten sind, muss nicht bedeuten, dass unser Dialog erstarrt und wir alle stur auf den Ideologien der Parteien beharren. Wir sollten an die Einheit Frankreichs denken und eine Regierung bilden, die aus linken Parteien, meinetwegen sogar LFI, und aus Parteien des Zentrums besteht.“

Raphael, 26, aus Toulouse, arbeitet als Kellner in Paris

„Ich bin für eine gerechtere Umverteilung in der Gesellschaft, und Macrons Partei ist für mich die Inkarnation des Neoliberalismus“

„Normalerweise wähle ich La France Insoumise (LFI), aber in meinem Wahlkreis habe ich für einen Kandidaten der sozialdemokratischen Parti Socialiste (PS) gestimmt. Der gefällt mir eigentlich überhaupt nicht, ist aber für das Wahlbündnis der Nouveau Front Populaire angetreten – und hat auch gewonnen.

Den Rassemblement National lehne ich allein schon deswegen ab, weil ich jüdisch bin. Nicht nur das, ich versuche, die Ideologie des RN zu bekämpfen, wo ich kann. Macrons Partei ist für mich allerdings auch nicht wählbar. Ich bin für eine gerechtere Umverteilung in der Gesellschaft, und seine Partei ist für mich so etwas wie die Inkarnation des Neoliberalismus, der aus meiner Sicht gefährlich ist. Aber auch Jean-Luc Mélenchon von LFI finde ich nicht ideal. Ich bin gegen Nationalismus, und Politiker wie er hängen mir zu sehr an der französischen Flagge und anderen Symbolen. Außerdem fällt es ihm schwer anzuerkennen, dass Frankreich immer noch eine Kolonialmacht ist.

Nach den Wahlergebnissen haben meine Freunde und ich gefeiert: Der RN hat nicht nur verloren, sondern ist sogar letzter der drei Blöcke geworden. Zwar sind wir erleichtert, aber wie ein Sieg fühlt es sich nicht an. Macron hat verkündet, dass er niemanden als Gewinner der Wahl sieht, und pocht immer wieder auf eine große Allianz ohne die LFI. Auch die Medien machen gegen die LFI Stimmung. Für die NFP wird es auf jeden Fall schwierig werden, sich an einer Regierung zu beteiligen.“

Jean, 26, arbeitet als Schulhelfer in Paris

„In Frankreich wählen die Menschen immer mehr die Extreme. Für mich ist das politische Zentrum die stabilere Option“

„Seit Emmanuel Macron 2017 das erste Mal die Präsidentschaftswahlen gewonnen hat, habe ich immer für seine Partei gestimmt. In Frankreich wählen die Menschen immer mehr die Extreme, für mich ist aber das politische Zentrum die stabilere Option.

Die Wirtschaftspolitik ist für mich entscheidend. Der Staat muss die Wettbewerbsfähigkeit der französischen Unternehmen aufrechterhalten, um so Arbeitsplätze zu schaffen und zu sichern. Das bedeutet zum einen, dass die Belastungen für die Unternehmen nicht erhöht werden dürfen, zum Beispiel durch eine Erhöhung des Mindestlohns. So etwas würde die kleinsten und schwächsten Unternehmen in Schwierigkeiten bringen. Es bedeutet auch, dass der Staat Innovationen und Produkte, die in Frankreich produziert werden, fördern sollte. Dazu muss in Bereiche wie die Zukunftsindustrie investiert werden, um nicht hinter andere Länder zurückzufallen.

In anderen Punkten stimme ich jedoch mit den linken Parteien überein. Frankreich hat durch wichtige Reformen im Bereich der Arbeit und des Sozialschutzes einen starken Wohlfahrtsstaat. Ich bin der Meinung, dass diese Maßnahmen erhalten und geschützt werden müssen. Den Rassemblement National halte ich für inkompetent. Der Vorsitzende, Jordan Bardella, hatte mal die Idee, dass unter 30-Jährige von der Einkommensteuer befreit werden sollen. Dann müsste ein 31-jähriger Arbeiter Abgaben machen, während der Starfußballer Kylian Mbappé keine Steuern zahlt. Ich kann verstehen, dass viele Menschen sich zunehmend unsicher fühlen – auch ich habe das Gefühl, dass die Gewalt zunimmt. Aber diese Partei reitet einzig und allein auf den Ängsten der Franzosen herum. Sie bietet keinerlei wirtschaftliche oder soziale Antwort auf die Probleme in Frankreich. Insgesamt blicke ich eher pessimistisch in die Zukunft. Wir sind im Land extrem geteilt, und ich sehe nicht, wie irgendeine Partei uns wieder vereinen könnte.“

Thibault, 28, arbeitet im Finanzwesen in Paris

Portraits: privat; Titelbild: Laurence Geai/MYOP/laif

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