„A-a-apple, b-b-banana, c-c-cat“, ruft Daniel der Klasse zu. Die Hälfte der 18 Kinder wiederholt das vorgesagte Alphabet, sie sind zwischen 9 und 14 Jahre alt. Daniel, ihr Lehrer, ist gerade mal 18, hat lockiges rotes Haar, kommt aus Sheffield in England und will Grundschullehrer werden. Für drei Wochen unterrichtet er als Freiwilliger im Schulwaisenhaus ASPIRE im südostasiatischen Kambodscha – dem kleinen Königreich zwischen Thailand und Vietnam.
Immer mehr Touristen wollen auf Reisen Gutes tun, Erfahrungen sammeln, den Lebenslauf aufpimpen. Voluntourismus – von englisch voluntary: freiwillig – ist eine boomende Bewegung. Eines der Zielländer: Kambodscha. Am beliebtesten sind Projekte mit Kindern. Dafür zahlen Reisende, darunter viele Deutsche, bis zu 600 Euro pro Woche, inklusive Beratung, Flughafentransfer, Unterkunft und Verpflegung. In Kambodscha ist das ein Vielfaches des durchschnittlichen monatlichen Einkommens.
Mehrere Milliarden Euro setzt die internationale Freiwilligenarbeit jährlich um
„Bald werden wir Platz für 100 Freiwillige haben!“, sagt der Kambodschaner Sean Samnang, der Betreiber des ASPIRE, eine von unzähligen Organisationen in Kambodscha, die Freiwilligenarbeit mit Kindern anbieten. Weil Journalisten hier nur selten Zutritt bekommen, geben wir uns als interessierte Freiwillige aus, die ihre Backpack-Tour mit sinnvoller Arbeit unterbrechen wollen. Samnang ist ein zierlicher 39-jähriger Mann mit großer silberner Uhr. Er zeigt uns die Unterkunft der Freiwilligen, die View Garden Villa. Bisher vermietet Samnang nur Räume im Erdgeschoss, doch er hat große Pläne. Wir gehen nach oben, wo er sich ans Geländer lehnt und erklärt: „Es gibt drei Terrassen, damit die Freiwilligen eine gute Aussicht auf den Sonnenaufgang und -untergang haben.“ An seiner beigen Hose baumelt der Schlüssel seines weißen Lexus, einer Geländelimousine. Das Geld dafür, sagt er, habe er durch Landverkäufe verdient.
Ab wie vielen Tagen Freiwilligenarbeit möglich sei, wollen wir wissen. „We don’t care.“ Brauchen wir besondere Fähigkeiten? Samnang lacht. „We don’t care.“ Es gebe Lehrerinnen, die uns assistierten. Dann erklärt er: 90 Kinder würden täglich für den Englischunterricht kommen, sie wohnten in den umliegenden Dörfern. 15 bis 20 Kinder würden im Waisenhaus leben, sie seien aus der Provinz Kandal, 350 Kilometer entfernt, und so arm, weil sie keine Eltern haben.
Laut Brot für die Welt und dem Netzwerk ECPAT, das Kinder vor kommerzieller und sexueller Ausbeutung schützen möchte, werden im Bereich der internationalen Freiwilligenarbeit jährlich mehrere Milliarden Euro umgesetzt. Ihre Studie aus dem Jahr 2018 kommt zu dem Schluss: „Freiwilligenarbeit in Waisenhäusern birgt erhebliche Risiken für die dort lebenden Kinder und sollte nicht Teil von Kurzzeiteinsätzen sein.“ Die Kinder könnten psychische Erkrankungen und Bindungsstörungen entwickeln und seien der Gefahr von Kinderhandel und Korruption ausgesetzt.
„Afrika oder Asien – Hauptsache, es gibt arme Kinder“
Bevor Corona das weltweite Reisen vorerst unmöglich machte, setzten sich Schätzungen zufolge bis zu 25.000 Deutsche Jahr für Jahr ins Flugzeug, um in einem fernen Land freiwillig zu helfen. Viele nutzen zertifizierte Programme wie zum Beispiel weltwärts. Im Gegensatz zu den kurzweiligen Voluntourismus-Angeboten dauert bei weltwärts der Einsatz zwischen 6 und 24 Monate. Die meisten weltwärts-Freiwilligen leisten einen Dienst von 12 Monaten. Das Programm wird zu 75 Prozent vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bezuschusst. Die Teilnehmenden erhalten Flug, Unterkunft und Verpflegung. Es wird erwünscht, Spendenmittel einzubringen, ist „jedoch ausdrücklich keine Voraussetzung für eine Teilnahme am weltwärts-Programm.“
Daniels Unterricht ist mittlerweile zu Ende, und er geht mit den anderen Freiwilligen ins hauseigene Restaurant. Hähnchen und Gemüse mit Reis, das Essen ist inklusive. Manche bestellen Burger mit Pommes, das kostet extra. Die Kinder tragen vor dem Restaurant Teller mit Reis vorbei. Daniel erzählt, dass er später als Lehrer im Ausland unterrichten und bei ASPIRE ein paar Einblicke in diese Arbeit bekommen will. „Es ist seltsam“, sagt er und blickt zur Villa: „Auf TripAdvisor steht, das hier sei eine arme Schule. Wenn die Leute ankommen, müssen sie enttäuscht sein.“ Jeanine, Engländerin, 18 Jahre alt, langes Haar, starker Lidstrich, schwärmt von ihrer Reise mit ihrer Freundin Clotilde. „Wir kamen nach Kambodscha, weil es so anders ist, wegen der Erfahrung, wegen der Kultur.“ Jeanine studiert Jura in Großbritannien, ihre Freundin Wirtschaftswissenschaften. Beide mögen Kinder, sagen sie. Aber das Unterrichten gefällt ihnen nicht.
Gibt es gute Freiwilligenarbeit? Jein
Vielen Freiwilligen sei egal, in welches Land sie reisen: „Afrika oder Asien – Hauptsache, es gibt arme Kinder“, sagt der deutsche Kulturanthropologe Benjamin Haas, der an der Universität zu Köln zu Freiwilligendiensten forscht. Ihr Engagement habe oft mit der eigenen Sinnsuche zu tun. „Sie gehen davon aus: Wenn ich helfe, muss es gut sein.“ Im globalen Süden übernehmen Touristen oft Rollen, die sie in ihrem Heimatland nicht einnehmen würden. Grund dafür ist auch der sogenannte „White-Savior-Komplex“, der ein Stereotyp beschreibt und koloniale Denkmuster sowie Machtstrukturen stärkt: Weiße retten Nichtweiße aus einer Notlage, die sich selbst scheinbar nicht zu helfen wissen.
Er fordert Mindeststandards beim Kinderschutz in privaten Einrichtungen und hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bei seinem Freiwilligenprogramm „weltwärts“ beraten. Im Jahr 2018 haben knapp 4.000 Freiwillige das Programm genutzt. Der Partner vor Ort muss sich dafür einer Zertifizierung unterziehen, und die Freiwilligen nehmen an mehrtägigen Vorbereitungskursen teil, in denen sie ein realistisches Bild von den Lebens- und Arbeitsbedingungen vor Ort vermittelt bekommen sollen. Dort würden sie lernen, wie wichtig es sei, sich anderen Menschen behutsam und respektvoll zu öffnen.
„Freiwilligenarbeit kann auch nützlich sein“, sagt Michael Horton in seinem Büro in Siem Reap. Er ist Gründer der NGO ConCert, die er mit seiner kambodschanischen Frau Rin Salin führt. Sie vermitteln seit 2008 Freiwillige und geben Workshops zu Kinderschutz. „Alle wollen eine Antwort auf die Frage, was gute Freiwilligenarbeit ausmacht, doch die Kriterien dafür sind komplex.“ Freiwilligenarbeit solle nie einen Job ersetzen, und Kosten sollten transparent gemacht werden. „Bei einem guten Schulprojekt sind Lehrer verantwortlich für die Klasse – und nur manchmal werden sie von Freiwilligen unterstützt.“ Horton erinnert sich an 2008: Damals galt „Freiwilligenarbeit als universell gut“. Jetzt seien sich die Menschen unsicher, würden Freiwilligenarbeit als schlecht betrachten. Horton sagt: „Die Antwort liegt in der Mitte.“
Zurück im ASPIRE-Waisenhaus, sitzt David, ein ruhiger kambodschanischer Junge, auf der Bank vor dem Schulgebäude. Zwölf Jahre alt sei er, lebe im Waisenhaus und möge Bananen, sagt er leise auf Englisch. Was gefällt ihm noch? Er sagt nichts. Hat er Eltern? David nickt. Sind sie manchmal hier? „Nein“, sagt David und schaut auf den Boden. Bei den meisten Kindern scheint unklar, wo sie leben. Kommen sie nur für den Englischunterricht zu ASPIRE, oder wohnen sie auch im Waisenhaus? Haben sie wirklich ihre Eltern verloren?
„Einige Waisenhäuser ändern ihren Status in Internat, Schule oder etwas Religiöses, um die Inspektion zu umgehen“
Während der Herrschaft der Roten Khmer stieg die Zahl der Waisenkinder in Kambodscha stark. Heute ist das Land friedlich, und die Anzahl der elternlosen Kinder geht zurück. Drei von vier Kindern in kambodschanischen Waisenhäusern haben nach Angaben von UNICEF mindestens ein lebendes Elternteil. Auch Samnangs vermeintliche Waisen haben Eltern. Das gibt er nach erneuter Nachfrage zu.
Die kambodschanische Regierung hat 2017 zusammen mit UNICEF einen Aktionsplan aufgesetzt: Jedes dritte Kind sollte aus den Waisenhäusern wieder zu seiner Familie gebracht werden. Außerdem verschärfte man die Vorgaben, um ein Waisenhaus zu eröffnen. Seither brauche man die Erlaubnis, eine NGO zu führen, erklärt Suman Khadka in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh. Sie arbeitete mehrere Jahre im UNICEF-Kinderschutz-Team. „Alle Waisenhäuser werden kontrolliert, auch die, die schon existieren.“ Wir berichten von unseren Erlebnissen im ASPIRE-Waisenhaus. Es sei ein Problem, dass viele die neuen Vorlagen der Regierung nicht umsetzten, sagt sie. „Einige Waisenhäuser ändern ihren Status in Internat, Schule oder etwas Religiöses, um die Inspektion zu umgehen.“ Nach Berichten der Regierung gab es 2015 noch 406 Waisenhäuser, 2018 waren es nur noch 265. In den letzten drei Jahren habe offiziell kein neues Waisenhaus aufgemacht, sagt Suman Khadka.
Wir waren kaum in Siem Reap gelandet, da kam auf der Straße ein Mann, Tep nannte er sich, auf uns zu. Er erzählte von „seiner Schule“ und reichte uns eingeschweißte Flyer, Dreck sammelte sich unter der Folie. „Wir brauchen ein Schulhaus“, erklärte Tep und zeigte uns eine Liste mit Materialkosten. Wir könnten aber auch in der Schule unterrichten. Die Kinder würden dort leben. „Spenden kommen von Herzen“, sagte er. Dann zog Tep mit seinen Flyern weiter, zu den nächsten Touristen.