Palästinensische Kinder versuchen Essen von einer NGO zu bekommen

„Als sei die Zeit durch das Trauma stehen geblieben“

Schätzungsweise 100.000 Menschen aus Gaza sind seit Beginn des Krieges nach Ägypten geflohen. Darunter viele Kinder, die durch die israelischen Luftangriffe und die humanitäre Lage im Gazastreifen traumatisiert sind. Die Psychologin Rima Balshe versucht, ihnen ein Stück Kindheit zurückzugeben

Interview: Hannah El-Hitami
26. Mai 2025

fluter.de: Frau Balshe, Sie betreuen Kinder, die mit ihren Familien aus Gaza nach Ägypten flüchten konnten. Welche Verhaltensweisen beobachten Sie bei diesen Kindern?

Rima Balshe: Ein zentrales Anzeichen für ein Trauma bei den Kindern ist die Unfähigkeit, sich eine Zukunft vorzustellen. Damit meine ich nicht, dass sie sagen: „Wenn ich groß bin, will ich Ärztin werden.“ Nein, es geht um die unmittelbare Zukunft. Wir fragen sie zum Beispiel, was sie nächste Woche vorhaben oder wann sie wieder zur Schule gehen. Und sie können darauf einfach nicht antworten. Stattdessen sprechen sie über die Vergangenheit, als sei die Zeit durch das Trauma stehen geblieben. Durch unsere Arbeit mit ihnen hat sich das allmählich gebessert. Wenn ich dieselben Kinder jetzt frage, ob sie sich darauf freuen, eines Tages nach Gaza zurückzukehren, dann sprechen sie darüber, wie sie ihre Zimmer wieder einrichten und alles neu kaufen wollen, was sie im Krieg verloren haben.

Was passiert mit Kindern, die keine traumainformierte Therapie bekommen?

Ich fürchte, dass sie dauerhaft in diesem Trauma feststecken. Bei Mädchen äußert sich das vor allem dadurch, dass sie sich zurückziehen. Ihre Mütter berichten mir, dass sie Albträume haben und ins Bett machen. Bei Jungs sind die Folgen eher Gewalt und Aggression.

Wie genau arbeiten Sie mit den Kindern?

Jeden Freitag laden wir etwa 60 Kinder zu spielerischen und kreativen Therapieformen ein. Darüber hinaus bieten wir Gruppentherapie an. Dafür nutzen wir ein Programm namens Teaching Recovery Techniques (TRT), eine traumainformierte kognitive Verhaltenstherapie für Kinder zwischen acht und achtzehn Jahren. Wir können ihr Trauma dadurch nicht ungeschehen machen, aber wir helfen ihnen, besser damit umzugehen. Besonders schwere Fälle versuche ich für Einzeltherapien an Therapeutinnen und Therapeuten zu vermitteln. 

„Am Anfang hatten viele Kinder Angst vor Bomben und Drohnen. Nach fünf Wochen haben wir sie wieder danach gefragt – da waren es ganz typische Dinge wie Zombies oder Monster unter dem Bett“

Was lernen die Kinder bei Ihnen zum Beispiel?

Viele leiden unter belastenden Gedanken. Wir helfen ihnen, die Kontrolle darüber zu gewinnen. Dazu gehört, die Gedanken zu normalisieren. In der Gruppe verstehen sie, dass sie nicht die Einzigen sind, die das erleben. Dann zeigen wir ihnen Techniken, um die belastenden Gedanken durch gesündere zu ersetzen. Und gleichzeitig erklären wir ihnen, dass diese Techniken kein Zaubermittel sind. Es ist auch in Ordnung, wenn die Gedanken manchmal zurückkommen.

Welche Erfolge sehen Sie?

Am Anfang hatten viele Kinder Angst vor Bomben und Drohnen. Nach dem fünfwöchigen TRT-Programm haben wir sie wieder gefragt, wovor sie Angst haben. Da waren es ganz typische Dinge wie Zombies oder Monster unter dem Bett. Es war unglaublich zu sehen, dass ihre Ängste anfangs vom Trauma des Krieges bestimmt waren. Und in so kurzer Zeit wurden sie wieder Kinder, die sich vor der Dunkelheit oder vor Monstern fürchten, aber nicht vor Drohnen.

Wie geht es den Eltern? Können sie ihre Kinder unterstützen?

Die Eltern sind oft selbst traumatisiert und erhalten kaum Hilfe. Sie haben Geschwister oder Eltern verloren und mussten häufig sieben oder acht Mal fliehen, bis sie es hierherschafften. Jetzt leben sie rund um die Uhr mit ihren Kindern in kleinen Wohnungen. Wenn sie die Kinder bei uns abgeben, haben sie zumindest ein paar Stunden Zeit für sich. Als Psychologin arbeite ich eigentlich nur mit Kindern, aber seit kurzem bin ich auch für einige Mütter da. Sie erzählen von der Sehnsucht nach geliebten Menschen, die sie zurückgelassen haben, von finanziellen Problemen oder von Streitigkeiten mit Geschwistern, mit denen sie jetzt auf engstem Raum zusammenleben müssen. Viele von ihnen leiden unter „survivor’s guilt“, der sogenannten Überlebensschuld, weil sie es rausgeschafft haben, während andere getötet werden.

Rima Balshe

Rima Balshe ist eine palästinensisch-kanadische Psychologin und lebt in Kairo. Dort lehrt sie an der Coventry University und ist Mitbegründerin eines Zentrums für Kinder mit psychischen Einschränkungen und Lernschwächen. Seit März 2024 organisiert sie ehrenamtlich psychotherapeutische Betreuung für Kinder aus Gaza

Eigentlich können Menschen aus Gaza aktuell nicht einfach so nach Ägypten einreisen. Wer es trotzdem geschafft hat, musste dafür in der Regel mindestens 5.000 Dollar für jede erwachsene Person an spezielle Reiseagenturen zahlen. Diese Menschen sind mit einem zeitlich befristeten Visum eingereist und daher nicht als Geflüchtete anerkannt. Was bedeutet das für ihre Situation in Ägypten?

Diejenigen, die ohne rechtlichen Status in Ägypten leben, dürfen nicht arbeiten und bekommen keine Unterstützung von internationalen Organisationen. Viele haben ihre gesamten Ersparnisse ausgegeben, um herzukommen. Nun haben sie nichts mehr. Die meiste Hilfe kommt von Graswurzelinitiativen wie unserer. Viele Kinder waren seit dem 7. Oktober 2023 nicht in der Schule. Das palästinensische Bildungsministerium im Westjordanland organisiert Onlinekurse, doch so können Kinder nicht richtig lernen. In vielen Familien teilen sich mehrere Kinder ein Smartphone und müssen verschiedenen Unterrichten folgen. Ihr Grundrecht auf Bildung ist ausgesetzt. In meinem Bekanntenkreis habe ich daher Patenschaften organisiert, um den Besuch von Privatschulen für Kinder aus Gaza zu finanzieren. Sie müssen zur Schule gehen, um sich wieder wie Kinder zu fühlen.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.

Titelbild: Anas Deeb/UPI/laif