Thema – Flucht

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Dem Krieg entkommen

Mehr als 100.000 Palästinenser und Palästinenserinnen sind seit Ausbruch des Gazakrieges nach Ägypten geflohen. Ohne Aufenthaltsstatus können sie nicht zur Schule gehen oder arbeiten. Hier erzählen junge Geflüchtete vom Leben in Kairo

  • 8 Min.
Foto des zerstörten Hauses in Deir al-Balah, in dem Rahaf Suheil Madi mit ihrer Familie zunächst Zuflucht gefunden hatte

 „In Gaza war unser Leben einfach, aber für mich war es wie das Paradies. Hier in Ägypten bin ich zwar sicher vor Bombenangriffen, fühle mich aber nicht wohl“

Rahaf (24), gelernte Programmiererin aus Gaza-Stadt

Am 19. Oktober des vergangenen Jahres wollte ich eigentlich meinen Verlobten Subhe heiraten. Aber genau an dem Tag mussten wir aus Gaza-Stadt fliehen. Das werde ich niemals vergessen. Ich würde ihn immer noch so gerne heiraten und friedlich mit ihm zusammenleben. In Gaza war unser Leben einfach, aber für mich war es wie das Paradies. Hier in Ägypten bin ich zwar sicher vor Bombenangriffen, fühle mich aber nicht wohl. Und die medizinische Behandlung ist nicht gut. Anfang Dezember wurde ich bei einem israelischen Angriff auf die Stadt Deir Al-Balah schwer verletzt. Im Januar dann wurde ich mit gebrochenem Becken, gebrochener Hand und Verletzungen im Gesicht nach Kairo evakuiert. Subhe ist noch immer in Gaza. Er hat gebrochene Rippen und müsste eigentlich dringend operiert werden. Aber seit Israel den Grenzübergang zu Ägypten besetzt hat, kommt niemand mehr raus.

Jetzt wohne ich in einem Haus, das vom ägyptischen Ministerium für soziale Solidarität betrieben wird. Hier sind nur Menschen aus Gaza untergebracht. Verletzte wie ich, Krebspatienten und deren Familienangehörige. Insgesamt sind es etwa 500 Menschen. In der Wohnung gibt es zwei Zimmer. Das eine teile ich mir mit einer anderen Frau, das andere bewohnt eine Mutter mit ihrer Tochter. Es ist laut im Haus, und es gibt kaum Privatsphäre. Zum Umziehen muss ich immer ins Badezimmer, und wenn ich mit meinem Verlobten telefoniere, können uns alle hören. Wir dürfen nach Mitternacht nicht mehr raus und bekommen Essen aus der Dose. Es ist so schlecht, dass wir es nicht essen, sondern uns eigenes besorgen. Alle zwei Monate bekommt jeder Patient etwa 3.000 ägyptische Pfund (ca. 56 Euro). Manchmal bekommen wir Geld von privaten Spendern aus dem Ausland. 

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Rahaf zeigt ein Foto ihrer jüngste Schwester Lana auf einem Handy
Rahaf zeigt ein Foto ihrer jüngste Schwester Lana, 10. Sie wurde bei dem Angriff auf Deir al-Balah getötet. Ihr Körper konnte bis heute nicht gefunden werden

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Portrait von Rahaf Suheil Madi am Nil in Kairo
Rahaf steht am Nil in Kairo. Sie möchte ihr Gesicht nicht zeigen, da sie findet, dass sie sich nach den Verletzungen verändert hat

Die meiste Zeit des Tages bin ich im Haus und am Handy, manchmal habe ich Arzttermine. Jeden Abend kommen alle Bewohner draußen auf dem Parkplatz zusammen. Aber egal, wo ich bin, ich schaue ständig nach, ob es Neuigkeiten von meiner Familie gibt. 25 von meinen Verwandten wurden bereits getötet, die Überlebenden sind verstreut. Ich rufe sie jeden Abend an. Sie wollen ganz genau wissen, was ich mache. Niemals hätte mir meine Familie erlaubt, im Ausland zu studieren, aber jetzt bin ich alleine in Kairo und muss hier alles ohne meinen Vater organisieren. Es ist das erste Mal, dass ich Menschen aus anderen Ländern treffe. Dieser Krieg hat mich nicht nur zu einem Opfer gemacht. Die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, hat mich stärker gemacht.

Ich würde alles dafür geben, nach Gaza zurückzukehren und wieder bei meiner Familie sein zu können. Ich will weitermachen, mit Subhe und all denen, die überlebt haben. Aber erst mal muss der Krieg aufhören.

„Gaza wird für immer in meinem Herzen sein, aber dort leben möchte ich nur, wenn ich auch eine Arbeit habe“

Die Geschwister Joudi (18), Aseel (17), Ahmed (14) und Samar (12) Murtaja – alle Schülerinnen und Schüler aus Gaza-Stadt

Aseel: Am zweiten Tag des Krieges ist meine Freundin Salma gestorben. Wir haben immer zusammen Basketball gespielt. Ihr Haus wurde von einer israelischen Rakete getroffen. Niemand konnte sie beerdigen, sie ist noch immer unter den Trümmern begraben. In Gaza gibt es kein Leben mehr, alles ist zerstört, auch die Schulen. Hier in Kairo gibt es Leben, aber wir dürfen nicht in die ägyptischen Schulen gehen, weil wir keinen Aufenthaltsstatus haben. Wir werden online unterrichtet von Lehrer:innen, die im Westjordanland sind. Weil sie dort morgens ihre Klassen unterrichten, findet das abends statt. Danach sind wir oft die ganze Nacht wach und schlafen richtig lang. Manchmal fällt der Unterricht aus, weil zu wenige da sind. Es nervt, wenn es zwei Tage dauert, bis wir eine Antwort auf unsere Fragen bekommen. Nicht alle Stunden sind live, manche sind vorher aufgezeichnet. Auch unsere Prüfungen sind online. Da ist es sehr leicht zu schummeln. 

Ahmed: Ja, jeder ist dann so ehrlich, wie er eben sein kann! Vor dem Krieg ging ich nicht gerne zur Schule, weil meine Klassenkameraden mich immer ärgerten. Einer von ihnen sagte: „Du bist so süß, du siehst aus wie ein Mädchen.“ Das hat mich so genervt, dass ich ihn einmal schlug. Wir mussten zum Schuldirektor, aber nichts änderte sich. Jetzt wünschte ich, ich könnte zurück in die Schule, zurück zu den Jungs, auch wenn sie mich geärgert haben.

Samar: Ich wollte nie in die Schule, weil ich so früh aufstehen musste. Aber ich mochte meine Freundinnen sehr. In der Pause haben wir zusammen Chips am Schulkiosk gekauft. Hier habe ich keine Freundinnen. Ich vermisse sie und meinen Cousin Ahmad. Und unser Haus. 

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Portrait der Geschwister Ahmed, Aseel, Samar, Joudi, Murtaja in der Wohnung in Kairo
Die Geschwister Ahmed, Aseel (hinten v.l.), Samar und Joudi (vorne v.l.) aus Gaza-Stadt in der Wohnung in Kairo, in der sie Zuflucht gefunden haben

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Foto des Wohnzimmers des Hauses in Gaza-Stadt
Das Wohnzimmer des Hauses in Gaza-Stadt, das die Geschwister Murtaja verlassen mussten

Joudi: Wir alle vermissen unser Haus, darin steckt in jeder Ecke eine Geschichte. Gerne würde ich dorthin zurückkehren und all die Dinge mitnehmen, die wir zurücklassen mussten. Als Israels Aufforderung zur Evakuierung am 13. Oktober kam, hatten wir keine Zeit zu packen. Wir haben nur unsere Pässe, Wasser, Essen und was wir eben greifen konnten, mitgenommen. Gaza wird für immer in meinem Herzen sein, aber dort leben möchte ich nur, wenn ich auch eine Arbeit habe. Vor dem Krieg habe ich mich bei einer Organisation in Gaza engagiert, die sich für die Rechte von Frauen einsetzt, die Gewalt erlebt haben. Mein Traum ist ein Beruf, in dem ich mich mit Menschenrechten beschäftige. Oder mit Psychologie. Aber ich habe große Angst vor der Zukunft.

Ahmed: Ich hatte auch Angst vor der Zukunft, als wir nach Ägypten kamen. Aber nach und nach kann ich das neue Leben hier annehmen. Ich habe ein neues Hobby, Computerspiele. Mein Lieblingsfach ist Mathe, und später will ich Händler werden. Nach dem Krieg will ich zurück nach Gaza. Aber das Wichtigste ist, bei meiner Familie zu sein.

Aseel: Für mich ist das auch das Wichtigste. Mein Traum ist, Gitarre zu lernen und Musikerin zu werden.

Samar: Ich will mal heiraten und Kinder haben. Aber manchmal, wenn ich andere Kinder sehe, bin ich unsicher und denke: Was, wenn meine Kinder auch so werden? Was ich zurzeit richtig viel mache, ist Dabke tanzen. Das ist ein traditioneller Tanz von uns. Wir Geschwister tanzen ihn auch zusammen.

Joudi: Als ich noch jünger war, wollte ich auch bei meiner Familie leben. Jetzt hat sich das geändert. Ich will unabhängig sein. Ich würde gerne in ein anderes Land gehen, denn ich weiß nicht, ob ich in Ägypten studieren darf. Aber eigentlich muss man nicht verreisen, in Kairo gibt es alles. Letzte Woche war ich mit unserem Vater das erste Mal in einem Schwimmbad – da konnte man rutschen! In Gaza war ich nur im Meer. Am Anfang wollte ich auch McDonald’s ausprobieren und all die anderen Produkte, die wir nur aus der Werbung kennen. Aber ich boykottiere amerikanische Produkte. Schließlich verkauft Amerika militärische Ausrüstung an Israel, und die bombardieren Gaza damit. Meine Geschwister und ich sind oft die ganze Nacht wach. Wir schauen uns Videos auf TikTok an oder gucken fern. Die Nachrichten zu sehen, fällt mir sehr schwer. Als ich erfahren habe, dass meine Lieblingslehrerin in Gaza getötet wurde, habe ich mich im Zimmer eingeschlossen und viel geweint. Wir sind dem Tod entkommen, als wir Gaza verlassen haben.

„Ich fühle mich schuldig, dass ich hier in Sicherheit bin, während sie kaum genug Essen haben“

Amal Awni (28), Aktivistin für Jugend und Gemeinschaft

Einen meiner Lebensträume, das Reisen, konnte ich mir schon mehrmals erfüllen: Ich war in Jerusalem, im Westjordanland und in Jordanien. Jetzt sitze ich fest. Als der Krieg in Gaza ausbrach, war ich gerade mit einem Jugendförderungsprogramm der UN in Kairo und konnte nicht mehr nach Gaza zurück. Aber auch nirgendwo anders hin, denn ich habe, wie die meisten aus Gaza, keinen offiziellen Aufenthaltsstatus in Ägypten. Mein Visum ist längst abgelaufen und wird nicht erneuert. Zuletzt habe ich von einer Organisation eine Einladung bekommen, in die Türkei zu gehen, aber es ist unmöglich, ohne gültige Papiere zu reisen. Ich fühle mich hier wie gefangen. Gegen dieses Gefühl versuche ich anzukämpfen, indem ich anderen Menschen aus Gaza helfe. Ich habe die Initiative „Sanad“ gegründet. Wir unterstützen Verletzte und Kranke aus Gaza und ihre Angehörigen in Kairo. Manche kamen ganz ohne Gepäck hier an, ohne Schuhe. Wir bringen ihnen Essen, Kleidung oder Desinfektionsmittel vorbei. Dafür fahren wir an ihre Wohnorte oder in die Krankenhäuser, in denen sie sind. Die Zimmer in den Krankenhäusern sind häufig überfüllt, und die Patienten dürfen sie zum Teil nicht verlassen. Und dennoch sind es diese Menschen, die mir Hoffnung geben. Sie sind dankbar, auch wenn ich ihnen nur Wasser gebe. Ich wünschte, ich könnte noch mehr für sie tun.

Meistens komme ich erst nach 23 Uhr erschöpft nach Hause. Es kommt auch vor, dass wir mitten in der Nacht angerufen werden, weil jemand von den Besitzern aus der Wohnung geworfen wurde, da er die Miete nicht mehr zahlen kann. Wir versuchen dann, mit den Vermietern zu reden oder schnell eine neue Unterkunft zu organisieren. Aber wir sind eine kleine Organisation und können nur einen Bruchteil der Menschen in Not erreichen. 

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Profil der Organisation Sanad auf Instagram
Amal Awni zeigt das Profil der Organisation auf Instagram. Fotografiert in der Wohnung in Kairo, in der sie mit ihrem Verlobten und einer Freundin wohnt

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Portrait von Amal Awni in Kairo
Amal Awni ist Aktivistin und Mitgründerin von Sanad, einer Organisation, die sich für hilfsbedürftige Palästinenser:innen einsetzt, die in Kairo festsitzen

Weil ich kein Bankkonto in Ägypten eröffnen darf, ist die Organisation von Spenden aus dem Ausland abhängig. Immer wieder kommen Freunde aus den USA, der Schweiz oder Südafrika vorbei, um das Geld zu bringen und direkt an die Betroffenen zu übergeben.

Ich habe sieben Schwestern, die noch im Gazastreifen sind, an ganz unterschiedlichen Orten. Jeden Tag checke ich die Nachrichten, um zu wissen, wie es ihnen geht. Für jede Gegend gibt es eine eigene Gruppe auf Telegram. Ich fühle mich schuldig, dass ich hier in Sicherheit bin, während sie kaum genug Essen haben. Nur mein Verlobter hat es aus Gaza rausgeschafft, zu mir nach Kairo. Wie es in Zukunft weitergeht, darüber denke ich nicht nach. Alle sagen, der Krieg wird sicher noch fünf Jahre dauern. Gaza wird nicht mehr so sein, wie wir es kennen. Natürlich will ich zurück, es ist mein Land. Aber das Haus meiner Familie gibt es nicht mehr. Früher habe ich davon geträumt, einen Master zu machen. Jetzt ist es mein Traum, ein Haus zu haben. 

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.