Einer Urban Legend zufolge ist in meiner Heimatstadt Essen mal jemand fast von einem großen E erschlagen worden. Heruntergefallen ist es vom Hotel „Handelshof“. Die großen Leuchtbuchstaben in Blau und Gelb dort haben bis vor kurzem verkündet: Essen, die Einkaufsstadt. Jeder in meiner Heimatstadt kennt die Lettern, von denen eigentlich immer ein paar kaputt sind. Ob es stimmt, dass das aus der Halterung gefallene E beinahe einen der wenigen Passanten getötet hat? Keine Ahnung. Aber mir fällt diese Geschichte immer ein, wenn ich am Hauptbahnhof ankomme und in die Innenstadt gehe. Kommt nicht oft vor.
Die Essener Fußgängerzone ähnelt mittlerweile den meisten deutschen Innenstädten: Ein-Euro-Läden, Imbisse, ein paar Billigketten und ganz viel: Leerstand. Galeria Karstadt Kaufhof ist weg, ein großer Herrenausstatter auch und eine H&M-Filiale. Seitdem herrscht Tristesse. Corona verschärft die Situation des stationären Einzelhandels noch: In der Kettwiger Straße, der Einkaufsstraße der Essener Innenstadt, flanierten an einem Samstag Mitte März 2020 – vor dem ersten pandemiebedingten Lockdown – etwa 29.000 Menschen, ein Jahr später nur noch gut 13.000.
Hat der Konsumfokus die Innenstadt zur Ghosttown gemacht?
Essen ist nicht die einzige Stadt, der es so geht: Der Leerstand in den Innenstädten wird sich nach Ansicht zahlreicher Kommunen dauerhaft bei 14 bis 15 Prozent einpendeln. Vor Ausbruch der Corona-Pandemie lag der Wert bei rund zehn Prozent. Der Handelsverband Deutschland geht davon aus, dass durch die Krise deutschlandweit bis zu 120.000 Geschäfte schließen werden.
Wer vor der Pandemie noch so oldfashioned war und seine Klamotten im Laden gekauft hat, lässt sie sich heute nach Hause liefern. 2020 wuchs der Umsatz des Onlinehandels um 23 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Ich kann das verstehen. Wer hat schon Bock darauf, sich wegen eines Fünf-Euro-T-Shirts der Gefahr einer Infektion auszusetzen? Meine Nachbar*innen jedenfalls nicht. Seit Beginn der Pandemie ist der Altpapiercontainer bei uns im Hinterhof bis zum Rand voll mit Amazon-Kartons, Paketen von Zalando und Tüten von Essenslieferanten.
Als ich kürzlich ein Steinbohrer-Set auspackte, das mir von einem gehetzten Hermes-Boten in die Arme geworfen worden war, fragte ich mich: Bin ich mit meiner Onlineshopping-Sucht Teil des Problems? Müssen meinetwegen die Geschäfte schließen? Sollte ich mich für die Pakete im Flur genauso schämen wie für einen Flug von Berlin nach Frankfurt? Die kurze Antwort ist natürlich: Ja. Onlineshopping schadet der Umwelt und bedroht den Einzelhandel in der Innenstadt. Die lange Antwort aber ist komplexer und eröffnet einen Blick auf eine mögliche Zukunft der Innenstadt.
Eine Studie für das Umweltbundesamt zeigt, dass bis zu drei Viertel der Treibhausgasemissionen, die ein Produkt verursacht, bereits bei der Herstellung entstehen und nicht erst beim Versand. Transport und Handel seien nur für ein bis zehn Prozent der Gesamtemissionen verantwortlich. Wenn ich die Umwelt also schützen will, sollte ich gar nichts kaufen, und wenn es doch mal sein muss, auf langlebige Produkte setzen. Ob ich die im Geschäft kaufe oder mir zuschicken lasse, ist erst mal zweitrangig.
Im Laden einzukaufen hat auch deshalb keine so gute Bilanz, wie man denken könnte, weil viele Menschen mit ihrem Auto in die Stadt fahren und dort lange nach einem Parkplatz suchen. Lieferfahrzeuge transportieren Pakete auf optimierten Lieferrouten und kommen so im Vergleich zum Auto auf bessere CO2-Bilanzen.
Darf's noch was sein?
Kaufen ist wie Kokain, sagt der Konsumforscher Carl Tillessen. Im fluter-Podcast erklärt er, warum das nicht nur den Konsument*innen schadet – und wie man Impulskäufe vermeidet
Über kurz oder lang wird wohl kaum noch jemand in die Innenstadt kommen, um einzukaufen. Jedenfalls nicht in den Geschäften, die dort seit Jahrzehnten das Straßenbild dominieren.
Doch wäre das eigentlich so schlimm? Wenn ich an die Essener Innenstadt denke, sehe ich schon lange nicht mehr den familiengeführten Herrenausstatter, sondern Primark. Essen war eine der ersten Städte Deutschlands, in der das Unternehmen eine Filiale eröffnete. Noch heute steht dort die deutsche Zentrale. Essen, die Einkaufsstadt eben. Tatsächlich kamen Menschen aus dem ganzen Ruhrgebiet, um extrem günstige Kleidung zu kaufen. Doch die Zeiten sind vorbei. Im Rückblick lautet meine These: Mit der Eröffnung des Primark-Geschäfts hat das Verramschen der Innenstadt begonnen. Dessen letzte Konsequenz sehen wir jetzt, wenn wir durch die leeren Straßen laufen. Ich denke, es war der Fokus auf Konsum, der die Innenstadt zur einsamen Ghosttown gemacht hat. Wir haben die Stadt zu einer Verkaufsfläche gemacht.
Das Ende der Innenstadt als Konsumort ist deshalb bedauernswert, weil Menschen in den Fußgängerzonen nicht nur eingekauft haben, sondern auch mal zufällig den Nachbar*innen begegnet sind, einen Kaffee getrunken oder sich in einem Park ausgeruht haben. Ich erinnere mich, dass ich mich früher gerne mit Freund*innen in der Stadt getroffen habe. Nicht, um einzukaufen – das wäre auf Dauer auch zu teuer gewesen –, sondern einfach, um abzuhängen: Treffpunkte, die nicht explizit zum Shoppen da sind, gibt es heute kaum noch.
Wir verlieren analoge Läden, aber gewinnen damit eines: die Möglichkeit, unsere Innenstädte neu zu erfinden. Sie zu Orten zu machen, an denen sich Menschen wieder gerne aufhalten oder vielleicht sogar wohnen.
Einige Initiativen haben schon damit angefangen: Das Projekt „Stadtlabore für Deutschland“ des Kölner Instituts für Handelsforschung zum Beispiel hat in Zusammenarbeit mit 14 Städten eine digitale Plattform konzipiert, die den Verantwortlichen einen Überblick über den Leerstand, die angebotenen Gewerbeflächen und mögliche Anmieter*innen geben soll. Die Macher*innen wollen für den Leerstand eine Lösung finden, möglichst noch bevor er entsteht. „Die Stadtmacher“ aus Coburg vermieten freie Lokale kurzfristig und günstig an Kreative und Studierende, etwa für Ausstellungen in den Schaufenstern. In Bremen konnten sich Menschen mit Ideen an einem Wettbewerb beteiligen und so eine 600-Quadratmeter-Immobilie für mehrere Monate mietfrei übernehmen und in einen Concept-Store verwandeln.
Auch die Stadtverwaltung Essen geht erste Schritte in diese Richtung: Die Stadtbibliothek, die momentan etwas abseits in der Nähe des Hauptbahnhofs untergebracht ist, könnte in eine Einkaufspassage in zentraler Citylage ziehen. Orte des Alltags, wie eine Bücherei, eine Schule oder ein Supermarkt, können helfen, Menschen in die Stadt zu locken. Nur müssten dafür die Mieten bezahlbar sein.
Der Endgegner der Innenstadt: Mietwucher
Dem Handelsverband Deutschland zufolge gefährden die hohen Mieten in Kombination mit gesunkenem Umsatz den Standort Innenstadt. Die Stadt Essen subventioniert mithilfe eines Förderprogramms des Landes NRW die Miete von Räumen in bester Innenstadtlage und vergibt sie an Gründer*innen mit guter Geschäftsidee. Das können Pop-up-Stores, aber auch Showrooms oder nachbarschaftlich geführte Repaircafés sein. Ziel ist, die Unternehmer*innen auch danach am Standort zu halten.
Vor ein paar Monaten ist in Essen eine Diskussion entbrannt: Die Stadt musste die Leuchtbuchstaben über dem „Handelshof“ sanieren, weil die Reparatur der Leuchten auf Dauer zu teuer ist – immer wenn eine Lampe ausfällt, muss eine Spezialfirma beauftragt werden. Das kostet angeblich jedes Jahr einen fünfstelligen Betrag. Bürger*innen forderten einen neuen Slogan für die Stadt. Doch was könnte das für einer sein?
Viele Vorschläge kamen zusammen, unter anderem „ESSEN – DIESE“, der Name einer Meme-Page. Aber Essen entschied sich erst mal für Hochkultur: „ESSEN – DIE FOLKWANGSTADT“ wird für ein Jahr über dem „Handelshof“ stehen und daran erinnern, dass es ein gleichnamiges Museum gibt, das man besuchen könnte. Die Buchstaben O, L, W und G mussten dafür produziert und angebracht werden. Was danach kommt, steht noch in den Sternen. Wenn die Stadt noch ein paar Buchstaben mehr kauft, könnte man sie regelmäßig neu erfinden.