fluter.de: Herr Müller, das Wichtigste zuerst: Was ist ein Earthship?
Ralf Müller: Ein Earthship ist ein Gebäude, das durch seine besondere Bauweise autark ist. So wie ein Schiff auf hoher See – daher auch der Name.
Wie kann ich mir das vorstellen?
Also, ein Earthship ist immer so gebaut, dass es bestimmte Prinzipien erfüllt: Zum einen ist wichtig, dass die Bauweise „regenerativ“ ist, wie ich es nenne. Das bedeutet, dass beim Bau eines Earthships das verwendet wird, was schon da ist. Schon Bestehendes wird wiederverwendet.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel Autoreifen. Ein Earthship hat nach außen hin dicke Lehmwände, in die bis zu 1.000 gebrauchte Autoreifen aufgeschichtet werden, als Stütze für die Erde und den Lehm. Sie dienen auch als thermaler Speicher. Normalerweise würden die Reifen verbrannt oder irgendwohin verschifft, aber wenn ich sie verbaue, verlängere ich ihre Lebenszeit um viele Jahre. Das ist das, was an der Bauweise der Earthships „regenerativ“ ist.
Welche anderen Prinzipien machen die Bauweise aus?
Da geht es vor allem um Vorgänge, die für die Funktion eines Earthships wichtig sind. Zum einen wäre da Energie: Da habe ich Photovoltaikmodule auf dem Dach für den Strom. Dann natürlich Wärme: Ein Earthship hat in Richtung Süden immer eine große Glasfassade. Durch diese fällt Sonnenlicht hinein, und die Wärme, die so entsteht, wird in den dicken Lehmwänden gespeichert – das Haus heizt sich auf. Im Gegensatz dazu habe ich auch ein Rohrsystem, welches durch das Erdreich nach draußen führt und durch das das Haus dann passiv gekühlt wird, ohne Klimaanlage. Ein weiterer Punkt ist die Wasserversorgung: Für die Dusche und Küche wird Regenwasser gesammelt. Nachdem das verwendet wurde, geht es durch eine Filter- und Kläranlage und dann in die Toilettenspülung. Wenn das Wasser dann dreimal benutzt wurde, nutzt das Earthship das Wasser, das übers Klo ausgetragen wird, nach einem Reinigungsvorgang, der Feststoffe und Flüssigkeit trennt, als Gießwasser und Dünger. Kurz: ein vollständiger Kreislauf. Zumindest in der Theorie, in der Praxis verhindern lokale Bedingungen und Gesetze einen geschlossenen Kreis.
„Das Earthship nutzt das Wasser, das übers Klo ausgetragen wird, als Gießwasser und Dünger. Kurz: ein vollständiger Kreislauf“
Wenn Sie von lokalen Bedingungen sprechen: An ihrem Ursprungsort, New Mexico in den USA, sind die Earthships ideal an die dortigen Bedingungen angepasst: Die dort herrschende Hitze und Trockenheit ist also im Konzept mitgedacht. Funktioniert das auch in Deutschland?
Na, wir haben das Earthship natürlich ein bisschen angepasst, auch an das deutsche Klima.
Sie meinen das Earthship Tempelhof in Kreßberg, Baden-Württemberg – das erste und bisher einzige Earthship Deutschlands. Da haben Sie als Architekt den Bau geleitet.
Genau. Dort haben wir zum Beispiel die Scheibenneigung etwas geändert für einen besseren Solarertrag. Und als Back-up haben wir eine Heizung eingebaut, die ans Nahwärmenetz angeschlossen ist. Die könnte dann helfen, die thermische Masse – also die Lehmwände – aufzuwärmen, weil es hier ja schon ein bisschen kälter ist als in New Mexico. Die Heizung wurde aber noch nicht gebraucht, das hat die letzten fünf, sechs Jahre ohne funktioniert.
Die Energiekrise im Blick: Warum gibt es in Deutschland nicht mehr von diesen Häusern?
Ein Punkt ist ganz klar das Baurecht. Am einfachsten ist es für uns, wenn im Bebauungsplan der jeweiligen Gemeinde der Bau von experimentellen Gebäude erlaubt ist. Ein Problem ist oft, dass man mit dem Wunsch, ein Earthship zu bauen, bei den Baubehörden erst mal keine offenen Türen einrennt.
Warum nicht?
Das liegt vor allem daran, dass fast überall noch klare Richtlinien fehlen, was die Art der Konstruktion und die Zulassung von Baustoffen angeht, die im Earthship enthalten sind.
Also fehlen schlicht die Vorgaben?
Nicht nur, aber auch. Es gibt ein paar rechtliche Bedingungen, die wir hier haben. Ein Earthship muss in Deutschland zum Beispiel ans Abwassersystem angeschlossen sein und das Trinkwasser aus der gewöhnlichen Leitung kommen. Das ist anders als in den USA. In New Mexico fließt das Schmutzwasser in eine Klärgrube und danach einfach nach außen in die Wüste, wo es dann versickert. Das gereinigte Abwasser ist nährstoffreich und düngt die Wüste. Zeitgleich gibt es Unklarheiten zu den Baustoffen: Bislang darf man Autoreifen nicht einfach so als Baustoff für den Hausbau verwenden, denn die gelten als „überwachungsbedürftige Abfälle“. Wenn ich also die Autoreifen in die Wand baue, muss das unter Umständen zunächst behördlich genehmigt werden.
Haben Sie Lösungsvorschläge?
Ich würde immer empfehlen, von Anfang an mit den Behörden vor Ort, den Gemeinden und den Bauämtern den Dialog zu suchen und gemeinsam zu gucken, wie man ein Konzept entwickelt, mit dem man das Earthship genehmigt bekommt. Könnte man das Verbauen von Autoreifen zum Beispiel als fachgerechte Entsorgung zertifizieren? Damit käme man dann rechtlich auf einen gemeinsamen Nenner, an den momentan noch nicht so gedacht wird. Aber es geht auch um die Art der Konstruktion der Earthships: Die muss wissenschaftlich begleitet werden, damit sie zur Normalität werden kann in der Baunorm. Momentan fehlt das noch.
Die Earthships schauen sehr, nun ja, eigenwillig aus. Könnte man sie auch so bauen, dass sie mehr dem gewohnten, bürgerlichen Bild entsprechen?
Tatsächlich stoßen Earthships bei vielen Behörden auf Ablehnung, weil sie nicht dem gängigen „Straßen- oder Stadtbild“ entsprechen, ja. Für das Prinzip und die Funktionsweise des Earthships ist es egal, ob das Haus jetzt rechteckig oder so schön organisch geformt ist. Die organische Form strahlt für viele allerdings eine natürliche Wärme und Behaglichkeit aus. Wenn ich das Haus eckig bauen würde, ginge das verloren.
Was muss geschehen, damit Earthships wirklich massentauglich werden?
Dafür müsste man das Ganze erweitern: im nächsten Schritt also größere, höhere Gebäude bauen, mit Grünbepflanzungen an den Fassadenseiten und vernünftigen Gewächshäusern. Die Ideen dazu gibt es ja schon, die werden auch bereits umgesetzt. Wichtig wäre es, die Prinzipien im jetzigen Städtebau zu berücksichtigen und nicht nur auf dem platten Land, wo genügend Platz ist.
Klingt machbar.
Ja, aber es bleibt ein wichtiger Knackpunkt, nämlich die Geldfrage: So ein Earthship ist fast so teuer wie ein normales Öko- oder Passivhaus.
„Wenn ich eigenbrötlerisch bin und keine Lust auf Gemeinschaft habe, dann sollte ich mir noch mal überlegen, ob ein Earthship das Richtige für mich ist“
Obwohl es größtenteils aus Müll besteht?
Ja, die Baustoffe selbst sind günstig. Aber das Bauen ist teuer, denn da geht sehr viel Handarbeit rein. Man braucht schon ein Team, das die Sache anleiten kann. Ein wichtiger Punkt bei dieser Art von Gebäude ist das gemeinschaftliche Bauen. Und diese Gemeinschaft muss unterhalten werden. Nicht mit Musik – wobei das auch gut ist –, aber mit Essen, Trinken, Unterkunft und so weiter. Wenn ich also nicht viel Geld habe, dann kann es sein, dass so eine Baustelle mal eben zehn Jahre dauern kann. Und wenn ich dann auch noch eher eigenbrötlerisch bin und keine Lust auf Gemeinschaft habe, dann sollte ich mir noch mal überlegen, ob ein Earthship wirklich das Richtige für mich ist.
Wie schätzen Sie die Zukunft von Earthships ein?
Natürlich positiv! Gerade in Städten bietet es sich an, Leerstand zu nutzen und aufzuwerten, Baulücken zu schließen und alternative Flächen, wie zum Beispiel Fassaden, zu begrünen, um das Klima in der Stadt zu verbessern und gleichzeitig den ökologischen Fußabdruck des Gebäudes zu reduzieren. Die Earthship-Prinzipien lassen sich auch bei der Sanierung von Bestandsgebäuden anwenden: Sie können passiv gekühlt werden oder das Wasser mehrfach nutzen. Ein Gewächshaus an der Südseite eines Hauses oder auf dem Dach kann die Bewohner mit Nahrungsmitteln versorgen. In meinem nach Earthship-Prinzipien umgebauten Gebäude von 1900 trägt die Papaya in diesem Jahr zum ersten Mal Blüten.
Ralf Müller ist Architekt bei der Organisation „Wir bauen Zukunft“ und Bauleiter des ersten und bislang einzigen Earthships Deutschlands.
Fotos: earthship.schloss-tempelhof.de