fluter: Herr Emde, Sie arbeiten als Sozialpädagoge und Streetworker in Köln. Warum gibt es in einem wohlhabenden Land wie Deutschland so viele Straßenjugendliche?
Colin Emde: Zunächst muss ich mal sagen, dass die Begriffe „Straßenjugendliche“, „Straßenkinder“ oder „entkoppelte Jugendliche“ irreführend sind. In der Regel haben wir es mit Menschen zu tun, die volljährig sind, eher selten mit 14- oder 15-Jährigen. Die Gründe sind für junge Menschen unterschiedlich: Oft ist der Auslöser die Scheidung der Eltern und der neue Partner der Mutter. In der Regel hatten Jugendliche, die auf der Straße landen, sehr früh in ihrem Leben Kontakt mit der Jugendhilfe, zum Teil waren sie schon mal in einem Heim untergebracht. Viele leiden aufgrund der Umstände schon als Kinder unter psychischen Problemen, die sich im Erwachsenenalter manifestieren – sofern es keine Hilfe gibt.
Laut Statistik sind die meisten Betroffenen zwischen 18 und 21 Jahre alt. Wie erklärt sich der Anstieg ab dem 18. Lebensjahr?
Sobald jemand 18 wird, zieht das System eine harte Grenze. Viele Völljährige suchen weiter Hilfe beim Jugendamt, das die aber in den meisten Fällen ablehnt. Der Rechtsanspruch, den Menschen bis 21 haben, wird oft gar nicht kommuniziert. Teilweise wird er von Jugendämtern auch bewusst negiert, weil sie ab diesem Alter nicht mehr in der Leistungspflicht sind. Während man vorher einfach als auffällig galt und den Schutz des Jugendamts genossen hat, erhält man ab 18 plötzlich Sanktionen vom Jobcenter. Ich verhalte mich wie immer, aber wo es vorher Hilfe gab, wird plötzlich bestraft. Die Betroffenen werden aus der Zuständigkeit der Jugendämter strukturell in die Obdachlosigkeit geschickt. Also auch in die Nähe von Kriminalität, Schulden, psychischen Problemen, Drogen und Prostitution.
„Früher gab es Skater, Junkies, Emos, Punker – ein spannender Haufen. Wer da als Wohnungsloser ankam, wurde sofort willkommen geheißen“
Das heißt, das Problem liegt bei den Jugendämtern?
Im Grunde haben wir ein gutes, ausdifferenziertes Jugendhilfe- und Sozialrecht in Deutschland. Theoretisch ist unser Sozialstaat für alle Probleme gerüstet. Aber das ist nur eine Seite der Medaille: Dadurch dass der Staat so viele Hilfsmöglichkeiten bietet, kommt es oft zu Zuständigkeitsschwierigkeiten. Die Rechtsbereiche überschneiden sich, Biografien, die nicht der Norm entsprechen, geraten schnell an die Grenzen des Systems. Manche werden von A nach B geschickt, vor allem wenn sie nicht die angenehmsten Klienten sind. Das Jugendamt spielt dabei im Endeffekt eigentlich nur Feuerlöscher – die haben wenig Ressourcen, weil da viel gespart wird. Es bräuchte deutlich mehr Personal, auch in den Ämtern selbst. Durch den Schichtbetrieb bei den Jugendhilfeträgern können viele Betroffene zudem oft gar kein Vertrauen mehr zu den Mitarbeitern aufbauen, weil ständig die Bezugsperson wechselt.
Beim Projekt „Momo“ helfen ehemalige Straßenjugendliche aktuellen. Hier erzählen fünf Momos von ihrem alten Leben auf der Straße
Wie könnte ein Modell aussehen, das die Lücken zwischen den einzelnen Stellen schließt?
Im Grunde ist ein Streetworker dafür geeignet. Die bürokratischen Hürden bekommt kein 18-Jähriger allein hin. Da braucht es jemanden, der wie ein Lotse fungiert. In manchen Städten gibt es auch sogenannte Jugendberufsagenturen oder Jugendjobcenter. Dort hat man auf einem Gang das Jugendamt, das Jobcenter und das Schulamt. Unter einem Dach kann man sich intern schneller absprechen, wer wofür zuständig ist und was unternommen wird. Dieses Prinzip erleben wir in der Praxis als großen Gewinn. Denn das Geheimnis zum Erfolg ist Schnelligkeit: Selbst bei einem guten Jobcenter wartet man zwei bis drei Wochen auf eine Klärung, beim Jugendamt sind es durchschnittlich sechs bis acht Wochen. Das ist für jemanden in Obdachlosigkeit einfach zu lange.
Viele Jugendliche landen gar nicht direkt auf der Straße, sondern pendeln von Couch zu Couch. Ist das eine Chance, weil sie von der Straße ferngehalten werden – oder verstärkt das das strukturelle Problem der Obdachlosigkeit, weil sie verdeckt auftritt?
An sich sehen wir das als Vorteil. Jeder Tag auf der Straße ist einer zu viel. Diese Entwicklung hat zunächst einmal was mit der Veränderung der Szene zu tun. Früher gab es Skater, Junkies, Emos, Punker – ein ganz bunter und spannender Haufen. Wenn man dann als Wohnungsloser am Hauptbahnhof einer deutschen Großstadt ankam, wurde man sofort willkommen geheißen. Das war für junge Menschen attraktiv und fungierte oft als Familienersatz. Seit etwa zehn Jahren verlagern sich diese Szenen nach und nach in die Privatbereiche. Für uns ist das von Vorteil, weil wir – auch in der Onlineberatung – eine Stufe eher als vorher eingreifen können. Früher haben wir Jugendliche angetroffen, die gar kein soziales Netzwerk mehr hatten. Heute gibt es da oft noch Anknüpfungspunkte.
„Bisher ist es so, dass das Jugendamt 18- bis 21-Jährigen zwar helfen sollte, aber nicht muss“
Wie wahrscheinlich ist es, dass ehemalige Straßenjugendliche wieder obdachlos werden?
Wenn niemand da ist, also soziale Netzwerke oder Beratungsstellen nicht einspringen, ist die Wahrscheinlichkeit für einen „Rückfall“ sehr hoch. Im Endeffekt brauchen obdachlose Jugendliche oft bis in das Erwachsenenalter hinein Unterstützung.
Wie schaffen Betroffene denn die Reintegration ins „normale“ Leben?
Es ist sehr selten, dass ehemalige obdachlose Jugendliche wieder den Kontakt zu ihrer Familie aufnehmen. Integration fängt aber in erster Linie mit einem Zuhause an, sei es eine betreute Wohnform oder eine eigene Wohnung. Wenn möglich, sollte ein Schulabschluss nachgeholt werden. Und dann braucht es schnell eine berufliche Perspektive – und wenn es Zeitarbeit ist, die die Betroffenen über Wasser hält.
Was kann die Politik machen, um betroffene Jugendliche zu unterstützen?
Der Rechtsanspruch auf Jugendhilfe sollte bis zum 21. Lebensjahr voll ausgeweitet, also eine Muss-Leistung werden. Bisher ist es so, dass das Jugendamt 18- bis 21-Jährigen zwar helfen sollte, aber nicht muss. Dieser Anspruch sollte ausgebaut werden, damit man eine klare Rechtsgrundlage hat. Außerdem müsste der soziale Wohnungsbau massiv unterstützt werden, damit mehr Menschen die Möglichkeit bekommen, sich eine Wohnung zu leisten. Hinzu kommt, dass viele Anlaufstellen in den vergangenen Jahren nicht mit dem zunehmenden Bedarf gewachsen sind. Es muss mehr investiert werden, wenn man das Problem Jugendobdachlosigkeit wirklich lösen möchte.
Der Sozialpädagoge Colin Emde (mittig) hat 2005 die „Off Road Kids“ in Köln mit aufgebaut. Seit 2010 leitet er die Straßenkinder-Hilfsorganisation. Als Streetworker ist Emde inzwischen weniger auf der Straße als vielmehr im Internet unterwegs – und bietet dort anonyme Onlineberatung an.