Die Stadt Mossul war drei Jahre lang ein Machtzentrum der Terrormiliz Islamischer Staat. In der Großen Moschee in der Altstadt hat IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi das „Kalifat“ ausgerufen. Seit Oktober erobern irakische Sicherheitskräfte nun die zweitgrößte Stadt des Iraks zurück, unterstützt von der US-geführten Anti-IS-Koalition, zu der auch Deutschland gehört. Anfang Juli verbarrikadierten sich die wenigen verbleibenden IS-Kämpfer in der Altstadt. Noch vor Kurzem waren deshalb Zehntausende Menschen eingeschlossen. Aktuell greift die Armee das letzte IS-Gebiet in Mossul an, Soldaten und Zivilisten feiern bereits die Rückeroberung. 

Mitten in der Stadt, keine zwei Kilometer von der Front entfernt, hat Sebastian Jünemann, ein 39-jähriger Rettungsassistent aus Berlin, in einem verlassenen Haus eine Krankenstation eingerichtet. Mit Kollegen der von ihm gegründeten Hilfsorganisation Cadus versorgt er dort Schwerverletzte, vor allem fliehende Zivilisten. Wir haben ihn vor einigen Tagen im Heimaturlaub gesprochen. 

fluter.de: Du bist seit ein paar Tagen aus Mossul zurück. Wie geht es dir? 

Sebastian Jünemann: Seit ich 20 bin, arbeite ich im Katastrophendienst. Über all die Jahre habe ich Verarbeitungsmechanismen entwickelt. Ich weiß: Tot ist tot. Das kann ich nicht beeinflussen. Aber natürlich sehen wir Sachen, die verarbeitet man nicht so leicht. Wie einen Fünfjährigen mit zerfetzten Armen und Beinen.

Sind alle Patienten so schwer verletzt?

 

Jeder, der zu uns kommt, ist in akuter Gefahr, sein Leben zu verlieren. Viele sind von IS-Scharfschützen angeschossen worden, als sie aus der Altstadt geflohen sind. Die meisten Patienten haben aber ältere Verletzungen, die stammen von den Luftangriffen der Anti-IS-Koalition.

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Mobil Hospital Mossul

Das Cadus-Team kümmert sich um Schwerverletzte, vor allem um Zivilisten, die aus Mossul geflohen sind

Was erzählen die Menschen, die zu euch kommen?

Alle sagen: Es ist gut, dass der IS weg ist. Aber sie haben auch Angst vor dem, was danach kommt. Die Bevölkerung von Mossul ist mehrheitlich sunnitisch, der Großteil der irakischen Soldaten sind Schiiten. Und Christen haben uns erzählt, dass die irakischen Befreier zu ihnen gesagt haben: „Konvertiere zum Islam oder entrichte eine Schutzsteuer.“ Genau das haben auch die IS-Leute gemacht.

Du hast mit vielen Menschen gesprochen. Was ist dein Eindruck von der Situation in Mossul?

Es gibt für die IS-Kämpfer keinen Korridor mehr, die Stadt zu verlassen. Die sind eingesperrt, und die Zivilisten sind mitgefangen. Die Koalition bereitet die Bodenangriffe mit Luftschlägen vor. Bei jeder Bombe, die geworfen wird, bei jedem Mörser, der gefeuert wird, kommt es zwangsläufig zu vielen Verletzten. Das nehmen die Befreier ganz klar in Kauf.

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Zivilisten in Mossul

In den Straßen von Mossul: Vor allem der Westen der Stadt ist zerstört

Was bedeutet das für euch?

Wenn die irakische Armee einen Korridor freischießt und Zivilisten fliehen können, kommen sehr viele Menschen zu uns. Wir sind aber nur sechs Ärzte und Rettungssanitäter. Wir können nicht alle sofort behandeln. Wir müssen auswählen. Welcher Patient wird sowieso sterben? Welcher Patient wird sowieso überleben? Welcher Patient wird nur überleben, wenn wir ihn behandeln? Ich musste mal entscheiden, die Reanimation eines Achtjährigen abzubrechen. Der Junge war auf eine Mine getreten, beide Beine waren total zerfetzt. Sein Bruder hatte ihn eine Stunde durch die Gegend geschleppt. Als die beiden bei uns ankamen, war der Junge ausgeblutet, nicht ansprechbar, wahrscheinlich schon tot. Wir haben Adrenalin verabreicht, reanimiert. Nach einer halben Stunde habe ich gesagt: „Wenn wir in fünf Minuten keine Herzaktion haben, ist Schluss.“ Wir haben dann mit dem Ultraschall geschaut, ob sich was im Herzen tut. Da war nichts.

Das klingt ganz schön abgeklärt.

Natürlich will man manchmal einfach nur weg. Das hat aber nicht allein mit den Einsätzen zu tun. Wir schlafen in einer ehemaligen Autowerkstatt, auf das Blechdach knallt den ganzen Tag die Sonne. Das ist eine moderate Sauna. Jeder kriegt Durchfall. Aus den Klamotten kriegt man das Blut nicht raus. Wir kacken in Plastiktüten, um keine Krankheitserreger zu verbreiten.

Krankenhaus in einer alten Garage

Die Krankenstation befindet sich in einer alten Garage. Die Laster von Cadus parken davor

Wie kam es überhaupt dazu, dass ihr nach Mossul gegangen seid?

Vor drei Jahren habe ich mit anderen die Hilfsorganisation Cadus gegründet, wir wollten in Syrien mobile medizinische Hilfe leisten. Es hat sich sehr schwierig gestaltet, unsere Laster mit den mobilen Krankenhäusern in den Irak zu bringen, von wo wir nach Syrien wollten. Als wir die endlich in Erbil in der kurdischen Autonomieregion hatten, begann die Offensive auf Mossul. Es war leider gleich klar: Da passiert eine humanitäre Katastrophe.

Wieso seid ihr an die Front gegangen? Ihr könntet ja auch in einem Flüchtlingslager helfen.

Wir haben bei der Weltgesundheitsorganisation gefragt, wo unser Einsatz am sinnvollsten ist. Dort waren sie verzweifelt auf der Suche nach Organisationen, die bereit waren, die Erstversorgung an der Front zu übernehmen. Den großen Organisationen ist das zu gefährlich. Die organisieren lieber die Feldkrankenhäuser, wohin unsere Patienten verlegt werden, wenn wir sie stabilisieren können. Die sind etwa 20 Kilometer entfernt.

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Blick aus dem Inneren des Lazaretts

Die Helfer von Cadus leisten nahe der Front die Erstversorgung. Wenn sie die Patienten stabilisieren können, werden sie in die Feldkrankenhäuser großer Hilfsorganisationen verlegt, die etwa 20 Kilometer entfernt sind

Euer Lazarett liegt gleich neben einer irakischen Einheit.

Ärzte ohne Grenzen, die aus Prinzip auf Distanz zu Kriegsparteien gehen, haben mehrmals versucht, ein Erstversorgungszentrum wie das unsrige direkt an der Front aufzubauen. Aber sie wurden immer wieder beschossen. Es war klar: Wir müssen näher ran ans Militär, sonst bringen wir uns zu sehr in Gefahr.

Weißt du, ob ihr IS-Kämpfer behandelt habt?

Natürlich sagt niemand, dass er beim IS war. Aber wenn jemand komplizierte Knochenbrüche hat, die mit einem externen Gestell fixiert sind, wenn also jemand in Mossul eine aufwendige ärztliche Versorgung bekommen hat, war er mit großer Wahrscheinlichkeit Kämpfer. Das sagen die irakischen Soldaten. Ein Beweis ist es natürlich nicht.

Prüfen die Iraker, ob die Verletzten, die sie zu euch bringen, IS-Kämpfer sind?

Es gibt Screening-Points, die liegen zwischen uns und der Front. Wenn ein Jugendlicher eine Kugel in den Kopf kriegt, halten die Soldaten nicht am Screening-Point. Dann prüfen sie im Fahrzeug, ob er eine Sprengstoffweste trägt. Wenn nicht, kommt er zu uns.

Mobil Hospital

Ein Mann wird behandelt

Sebastian Jünemann schaut nach einem Patienten

 

Habt Ihr erlebt, dass die Iraker mutmaßliche IS-Kämpfer foltern?

Da war ein Mann, dessen Fingerkuppen waren mit einem scharfen Gegenstand abgeschnitten worden, die Wunden waren frisch. Ich habe ihn ganz unschuldig gefragt: „Wie kommt es denn zu so einer Verletzung?“ Er antwortete, das sei gerade am Screening-Point passiert. Und der Major, der danebenstand, sagte: „Das machen die, wenn sie glauben, dass jemand nicht die Wahrheit sagt.“ Wir dokumentieren das dann und leiten es an die Weltgesundheitsorganisation weiter.

Wie geht es für euch weiter?

Wir arbeiten in Mossul, bis die Stadt komplett befreit ist. Dann müssen wir sehen, ob es sinnvoll ist zu bleiben. Das hängt auch davon ab, wie häufig IS-Schläfer Anschläge verüben. Die Lastwagen mit den mobilen Krankenhäusern sollen in jedem Fall so schnell wie möglich nach Rakka, wo die Kurden gegen den IS kämpfen. Aber erst mal müssen wieder Spenden reinkommen.