Der Staat alleine packt es nicht! Jede*r Einzelne ist gefragt
von Patrick Held
Ich bin jetzt Anfang 30 und Vater einer kleinen Tochter. Fast jede Woche frage ich mich, ob ich ihr eines Tages, in einem Extremwetter-Schutzbunker sitzend, werde sagen können: „Ich habe alles mir Mögliche getan, um den Klimawandel zu stoppen!“ Ein übertriebenes Szenario? Wenn man der nüchternen Analyse eines Prof. Schellnhuber – immerhin Klimaexperte der Kanzlerin – zum Thema tipping points auf Youtube lauscht, leider keineswegs.
Wenn ich darüber nachdenke, fallen mir viele Dinge ein, zu denen ich heute oder gerne bereits gestern „Nein danke!“ gesagt hätte. Denn mal ehrlich: Niemand hat mich je dazu gezwungen, in ein Flugzeug zu steigen.
Von Zeit zu Zeit gibt es politische Persönlichkeiten oder Gesetze, die es schaffen, Gesellschaft im Kern zu wandeln. Die Einführung des BAföG 1971 öffnete einer ganzen Schicht die Tore zu den Universitäten. In der Regel aber vermag Politik nur das umzusetzen, was in einer kritischen Masse von Köpfen und Herzen schon angekommen ist. Das galt für den Atomausstieg wie für die Ehe für alle.
Was wirkt: sich die eigenen Klimaschulden vor Augen zu führen
Ich glaube: Nur wer einmal freiwillig und aufrichtig versucht hat, sein Leben klimagerecht umzugestalten, wird auch Gesetze von Parteien akzeptieren, die unsere Gewohnheiten verändern wollen, wird Postwachstumsökonomen wie Prof. Niko Paech zuhören oder sogar selbst Innovationen erdenken, die ein Leben ohne Raubbau ermöglichen.
Zu glauben, man könne mit Steuern oder höheren Preisen ausreichend viel bewirken, ist dagegen irrwitzig. Seit der Finanzkrise sind unsere Volkswirtschaften mit billigem Geld geflutet. So wird sich immer jemand finden, der höhere Preise für fossile Rohstoffe bezahlt. Diese Rohstoffe müssen aber unter der Erde bleiben, um das in Paris gesetzte Ziel von einer maximalen Erwärmung von zwei Grad zu schaffen. Höhere Preise treffen hauptsächlich die Armen und befördern einen gesellschaftlichen Unmut, wie auch die Gelbwesten-Bewegung zeigt. Auf reiche Klimasünder haben hohe Preise einen ähnlichen Effekt wie Punkte in Flensburg auf Diplomaten: nämlich gar keinen!
Um ins politische Umsetzen zu kommen, braucht es Menschen, die lösungsorientiert vorangehen und sich der besinnungslosen Betriebsamkeit eines vermeintlichen Fortschritts entziehen. Menschen, die sich trauen, sich ihre Klimaschulden vor Augen zu führen, indem sie zum Beispiel über ihren persönlich verursachten CO₂-Ausstoß Buch führen. Apps und Seiten wie changers.com, atmosfair.de oder klimaktiv.de können dabei helfen, so ein CO₂-Konto anzulegen. Bei mir sind seit 1998 26 Flugstrecken verbucht – 33 Tonnen CO₂, für die ich mich in der Verantwortung sehe.
Verzicht kann sich wie Befreiung anfühlen
Damit wir in Deutschland von knapp zehn Tonnen CO₂ auf die angestrebten unter zwei Tonnen pro Kopf für das Pariser Klimaziel kommen, brauchen wir eine kulturelle Schubumkehr, die nur in jedem Einzelnen beginnen kann. Ein guter Anfang ist, vermeintliche Alternativlosigkeit zu hinterfragen. Fliegen? Der Early Adopter antwortet: „Nein danke! Ich habe den Nachtzug schon gebucht.“ Fleisch? „Nein danke! Es gibt auch andere leckere Sachen.“ Pendeln? „Nein danke! Wozu gibt es Homeoffice oder Coworking-Spaces?“
Dieses „Nein danke!“ muss keine Spaßbremse sein. Man kann jede Menge klimaneutralen Spaß haben, der in unserer von Öl beschleunigten Gesellschaft unter die Räder gekommen ist. So hatten die Menschen in den 1970er- bis 1990er-Jahren zwar keine Selfies aus Schanghai und New York vorzuzeigen, dafür aber deutlich mehr Sex und Sexpartner als wir heute – das ergab zumindest eine Studie der International Academy of Sex Research für die USA. Auch vegetarische Grill- und Trinkabende mit Freunden sind nicht gerade ein Grund, Trübsal zu blasen. Welchen Wert haben klimaschädliche Aktivitäten im Hier und Jetzt, wenn es für die Menschheit kein Morgen mehr gibt?
Arbeitslose tun mehr für das Klima als Erwerbstätige
Unsere größte Herausforderung ist nicht mehr die Bewältigung eines Mangels, sondern der Gier des Überflusses zu widerstehen. Mein Tipp: Setzt euch ein eigenes CO₂-Budget. Fangt mit sechs Tonnen pro Jahr an und versucht, innerhalb dieses Budgets so viel Spaß zu haben wie eben geht. Wer an die Grenzen seiner sechs Tonnen stößt, wird im Alltag viele Lösungen entdecken. Das eigene Denken verändert sich: Plötzlich ist man bereit, anderen Geld zu geben, wenn sie für einen Treibhausgase einsparen. Und man entdeckt vielleicht, dass manches, das wie Verzicht wirkte, sich tatsächlich wie eine Befreiung anfühlt.
Ich habe gelernt, dass Zeitkompression – also mehr Dinge in immer weniger Zeit zu tun – der größte Feind und Zeitwohlstand der größte Freund eines klimaneutralen Lebens ist. Dass mehr Einkommen mit mehr Energieverbrauch einhergeht. Dass Menschen, die arbeitslos sind, im Moment wohl mehr für das Klima tun als jene, die arbeiten gehen. Und dass Omas Hackenporsche – Einkaufstrolley – als Low-Tech-Solution jedes E-Auto in der Klimabilanz schlägt. Solche Erkenntnisse mögen irritieren, aber da muss man durch. Wenn man am Rande eines Abgrundes steht, ist es klug, am „Fortschritt“ zu zweifeln. Zumindest sollte man vor dem Weitergehen die Richtung ändern. Wer den Mut dafür aufbringt, merkt schnell, dass einiges anders werden muss. Aber auch: dass ein gutes klimaneutrales Leben möglich ist.
Patrick Held arbeitet für eine Ökobank. Er ist überzeugt, dass ein gutes klimaneutrales Leben möglich ist. Wie er das macht? Einkäufe im Bioladen, Teilzeitleben im Tiny House, Ablehnung von Fleisch, Flügen, Berufspendeln oder Vollzeitstellen.
Collagen: Renke Brandt
Wir brauchen strikte Regeln vom Staat, sonst kratzen wir nur an der Oberfläche
von Martin Thaler
„Reisen? Nur was für die Elite“, „Zurück ins Mittelalter“ und „Politiker wollen uns die Flügel stutzen!“ – So stelle ich sie mir vor, die wütenden Überschriften in den deutschen Zeitungen, sollte die Bundesregierung eine CO₂-Abgabe für den Luftverkehr einführen. 50 Euro pauschal auf jeden Flug – das dürfte für große öffentliche Entrüstung sorgen. Denn für viele scheint der 29-Euro-Wochenendtrip nach Mallorca oder London ein Grundrecht zu sein, genauso schützenswert wie Meinungs- oder Berufsfreiheit.
Wir Deutschen sind zu einem Vielflieger-Volk geworden. Allein im ersten Halbjahr 2018 zählten die großen Flughäfen im Land insgesamt 56,5 Millionen Passagiere. Über elf Millionen davon waren innerhalb von Deutschland unterwegs – auf Strecken, die auch per Bahn innerhalb weniger Stunden zurückgelegt werden könnten.
Wir brauchen Reglementierungen – auch da, wo es wehtut
Dass wir mit unserer Fliegerei der Umwelt vors Schienbein treten, ist kein Geheimnis. Trotzdem entscheiden wir uns dafür. Warum? Weil es billig ist. Denn während die Airlines ihr Kerosin nicht versteuern müssen, wird bei der Bahn eine Stromsteuer fällig.
Für jemanden mit Flugangst wie mich stellt es natürlich kein großes Opfer dar, eine CO₂-Steuer aufs Fliegen zu fordern. Ich finde aber: Eine striktere Reglementierung klimaschädlichen Verhaltens ist auch auf dem Boden notwendig. Da, wo es auch mir wehtut.
Als jemand, der in Niedersachen aufgewachsen ist, in Sicht- beziehungsweise Riechweite zum deutschen Güllegürtel, greife ich gerne zu Schnitzel und Bratwurst. Damit bin ich nicht allein: Der Durchschnittsdeutsche aß im Jahr 2016 insgesamt 59 Kilo Fleisch – Huhn, Schaf, Reh, Rind und Schwein zusammengezählt. Und auch hier wissen wir längst: Gut für die Umwelt ist unsere Kalbshaxe sicher nicht.
Das billige Schnitzel geht auf die Kosten vieler
Laut Berechnungen der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO stammen 14,5 Prozent der weltweit von Menschen verursachten Treibhausgasemissionen aus der Haltung sowie Verarbeitung von Tieren. Trotzdem lassen wir uns das Pfund Putenschnitzel für 2,99 Euro schmecken.
Dabei entstehen bei der Fleischproduktion oder dem Charterflug nach Mailand sehr wohl hohe Kosten. Nur werden diese nicht auf den Kunden, sondern auf die Allgemeinheit umgelegt. Das billige Schnitzel geht auf Kosten der Tiere, der schlecht bezahlten Arbeiter im Schlachthof sowie der Umwelt. Und auch beim Charterflug nach Mailand werden Mensch und Natur zur Kasse gebeten: Flughäfen zerstören Grünflächen, Fluglärm macht Anwohner krank, und die Abgase schaden dem Klima.
Gute Taten Einzelner reichen längst nicht, um das Klima zu retten
Ich fände es großartig, wenn wir aus eigenem Antrieb klima- und umweltfreundlichere Lösungen entwickeln würden. Viele tun das auch, ersetzen den USA-Urlaub durch eine Fahrradtour durch den Harz, reduzieren ihren Plastikverbrauch oder lassen das Auto am Wochenende einfach mal stehen.
Doch die guten Taten Einzelner reichen nicht, um das Klima zu retten. Bei weitem nicht. Und wo der Einzelne an seine Grenze gelangt, muss die Gesellschaft in Aktion treten. Besser gesagt: der Staat.
Dieser hat die Aufgabe, Menschen vor gefährlichem Verhalten zu schützen. Das macht er bereits an anderen Stellen, beispielsweise im Straßenverkehr: Nicht die Verkehrsteilnehmer entscheiden, welches Fahrtempo einer Spielstraße angemessen ist, ob sie mit uralten Dieseln durch die Gegend fahren dürfen oder auf dem Motorrad der Helm getragen wird. Der Staat setzt die Regeln fest, die ein notwendiges Maß an Sicherheit garantieren.
Die CO₂-Emissionen in Deutschland pro Kopf? Doppelt so hoch wie der internationale Durchschnitt
Das gleiche Prinzip sollte auch beim Klimaschutz gelten. Notwendige Schritte im Tausch für mehr Sicherheit. Auch wenn es dann für die Bürger teurer wird. Nur wenn sich die hohen Kosten, die wir mit unserem Konsumverhalten verursachen, in unserem eigenen Portemonnaie bemerkbar machen, ist ein konsequenter Verhaltenswandel denkbar. Die Uhr tickt: Wollen wir die Ziele des Pariser Klima-Abkommens bis Ende des Jahrhunderts erreichen und damit den Klimawandel halbwegs unter Kontrolle halten, müssen die Pro-Kopf-Emissionen deutlich unter zwei Tonnen sinken. In Deutschland sind sie mit rund 9,6 Tonnen derzeit ungefähr doppelt so hoch wie der internationale Durchschnitt.
Im Kampf um den Klimawandel brauchen wir keine lange Leine. Im Gegenteil: Hier ist ausnahmsweise mal weniger Beinfreiheit gefragt.
Martin Thaler versucht, seinen ökologischen Fußabdruck zu verkleinern, scheitert dabei aber häufig an seiner Bequemlichkeit. Statt nach London zu fliegen, fährt er dieses Jahr mit dem Zug nach Breslau. Da soll’s ja auch schön sein.