Schimpanse sitzt allein auf künstlichem Felsen vor abblätternder Dschungelmalerei in einem kargen Zoo-Gehege

„Der Rückgang der Biodiversität könnte bis zum Jahr 2030 gestoppt werden“

Ein Achtel aller Arten weltweit soll vom Aussterben bedroht sein. Das klingt dramatisch und ist es auch. Die Biologin Katrin Böhning-Gaese hat Ideen, wie sich die Entwicklung aufhalten ließe

Interview: Paulina Albert
Thema: Natur
17. Juli 2025

Katrin Böhning-Gaese forscht seit über 30 Jahren zur Artenvielfalt. Während des Interviews liegt auf dem Fensterbrett ihr Handy und nimmt Vogelstimmen auf. Gerade ruft eine Dohle.

fluter: Wir befinden uns momentan im größten Artensterben seit dem Ende der Dinosaurier. Bisher gab es fünf große Massenaussterben. Was unterscheidet dieses von den anderen?

Katrin Böhning-Gaese: Wir stehen in der Tat am Beginn des sechsten Massenaussterbens. Im Unterschied zu den anderen wurde dieses aber durch den Menschen ausgelöst. Bei den früheren Massenaussterben gab es geologische Ereignisse, Kälte- oder Wärmeperioden. Beim letzten Massenaussterben, bei dem die Dinosaurier ausgestorben sind, war es ein Asteroideneinschlag. Und jetzt sind es wir Menschen. Außerdem sind die derzeitigen Aussterberaten mindestens zehn- bis hundertfach so hoch wie in den vergangenen zehn Millionen Jahren. Manche Publikationen gehen sogar von tausendfach höher aus. 

Wie viele Arten sind denn aktuell vom Aussterben bedroht?

Das ist schwer zu schätzen. Die Zahl, die ich immer verwende, hat der Weltbiodiversitätsrat IPBES in seinem globalen Bericht 2019 veröffentlicht: Von den grob geschätzt acht Millionen Arten auf der Erde sind etwa eine Million Arten vom Aussterben bedroht. 

Diorama einer Arktische Szene mit einer Vielzahl ausgestopfter Tiere

Die Bilder auf dieser Seite stammen aus der Serie "The Anthropocene Illusion" des Fotografen Zed Nelson, in der er künstlich inszenierte Darstellungen von Natur in Zoos und Museen dokumentiert

Die meisten Menschen können vermutlich nicht mehr als zehn Fischarten benennen. Warum geht uns das Artensterben etwas an?

Wir brauchen Ökosysteme für fast alles. Für Nahrung, für sauberes Trinkwasser, für Kleidung, für Bauholz, für Medikamente. Und damit Ökosysteme funktionieren, braucht es Biodiversität. Abgesehen davon haben wir herausgefunden, dass Menschen gesünder und zufriedener sind, wenn sie von Artenvielfalt umgeben sind. Wenn man die Vogelartenzahl um zehn Prozent erhöht, erhöht sich die Zufriedenheit der Menschen im gleichen Maßstab, wie wenn man ihr Einkommen in vergleichbarem Maße erhöht. In einer diversen Natur zu leben, tut vor allem der Psyche gut – selbst wenn man die Arten nicht kennt.

Warum sterben Arten denn eigentlich aus?

In den vergangenen Jahrtausenden war es oft so, dass Menschen wilde Tiere gejagt haben und dadurch zum Aussterben gebracht haben. Zum Beispiel die Stellersche Seekuh, eine Bewohnerin der Küsten des Nordpazifik, die nur 27 Jahre nach ihrer „Entdeckung“ wahrscheinlich durch intensive Bejagung ausgestorben ist. Heute passiert das immer noch sowohl in den Meeren als auch an Land. Die Aussterbeursache Nummer eins ist aber, dass die Landwirtschaft weiter in die Natur vordringt, zum Beispiel in tropische Regenwälder oder Savannen. In Deutschland gehen wegen der intensiven Landwirtschaft vor allem die Arten der Äcker, Wiesen und Weiden zurück. 

Es heißt ja oft, es gibt Tiere, die kriegt man nicht kaputt. Kakerlaken zum Beispiel. Gibt es Arten, die gar nicht aussterben können?

Wir wissen, dass besonders große Arten gefährdet sind, Tiger zum Beispiel oder Elefanten. Sie werden gejagt, brauchen viel Nahrung oder große Streifgebiete. Wir wissen auch, dass Spezialisten stark gefährdet sind. Schmetterlinge zum Beispiel, die eine ganz bestimmte Futterpflanze brauchen. Das heißt, mittelgroße Arten, Generalisten, die gut in von Menschen veränderten Landschaften leben können, haben gute Überlebenschancen – da gehören definitiv auch manche Kakerlaken dazu. 

Diorama einer tropischen Regenwaldszene mit einer Vielzahl ausgestopfter Tiere

Nelson zeigt, wie unsere Beziehung zur Natur zunehmend durch Illusionen ersetzt wird – während die echte Wildnis schwindet, bleibt nur die Nachbildung zurück

Was braucht es, um die Überlebenschancen aller anderen Arten zu sichern? 

Gesetze, die den Schutz einzelner Arten und Schutzgebiete regeln, und eine nachhaltigere Landwirtschaft. Bei uns in Deutschland wird die Agrarlandschaft unglaublich intensiv genutzt. Da bleibt praktisch nichts übrig, kein Baum, keine Hecke, keine Körnchen. Im Ökolandbau ist die Artenvielfalt etwa ein Drittel höher. Aber es ist auch möglich, konventionellen Anbau so zu gestalten, dass es der Artenvielfalt hilft. Zum Beispiel durch Hecken, Blühstreifen oder Brachflächen, die Tieren wie der Feldlerche ein Stück Lebensraum zurückgeben. 

Können wir noch die Kurve kriegen?

Ja! Wenn wir drei Aspekte umsetzen: größere und besser geschützte Naturschutzgebiete, eine nachhaltigere Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei und einen nachhaltigeren Konsum, zum Beispiel weniger Fleisch und weniger Lebensmittelverschwendung. Bioprodukte helfen ebenfalls. Wird das global umgesetzt, könnte der Rückgang der Biodiversität bis zum Jahr 2030 gestoppt werden. Die Biodiversität würde in der Fläche bis zum Jahr 2050 sogar wieder ansteigen. 

Wenn man sich die Nachrichten anguckt, hat man nicht so richtig das Gefühl, dass das passieren wird. 

Es spielt in der Politik gerade tatsächlich keine Rolle. Das ist natürlich verunsichernd und macht mich auch müde und verzweifelt. Ich weiß aber, dass hinter den Kulissen weitergearbeitet wird. 2022 hat sich die Weltgemeinschaft darauf geeinigt, bis 2030 mindestens 30 Prozent der geschädigten Flächen zu renaturieren. Gerade in Deutschland sind der Wille und das Geld im Prinzip da. Es ist bloß nicht ganz so groß in den Medien. Aber da ist mehr Substanz, als man denkt. 

Portrait von Katrin Böhning-Gaese

Katrin Böhning-Gaese ist Professorin für Biodiversität im Anthropozän an der Uni Leipzig und Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung.

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Fotos: Zed Nelson/Institute