An einem Novembermorgen betritt Deema Assaf einen winzigen Wald im Osten Ammans. Wie ein Fremdkörper bettet der sich in die Betonwüste der jordanischen Hauptstadt: zarte Sträucher und Bäume, umgeben von einem Maschendrahtzaun und Plastikmüll. Im Mai haben Assaf und ihr Team knapp 800 Setzlinge in dem verwahrlosten Park angepflanzt. Nun, ein halbes Jahr später, ragen sie der zierlichen Frau bis zu den Knien. „Pistacia lentiscus“, sagt Assaf. „So würde ein Wald in Jordanien aussehen, wenn wir Menschen nicht in die Natur eingegriffen hätten.“ Mit ihren Miniwäldern will sie das verdrängte Grün zurück in die Stadt holen. Oder, wie die studierte Architektin es ausdrückt, „den urbanen Raum umschreiben“.
Assaf folgt der Methode des japanischen Botanikers Akira Miyawaki. Dabei werden einheimische Sträucher und Bäume auf engstem Raum gepflanzt. Durchschnittlich drei Setzlinge kommen auf einen Quadratmeter. Weil sie um das Sonnenlicht konkurrieren, streben sie in rasantem Tempo in die Höhe. Nährstoffreiche, feuchte Erde gibt den Setzlingen zusätzliche Starthilfe.
Miyawaki-Befürworter behaupten, dass die Methode das Wachstum der Bäume um das Zehnfache beschleunigen kann. Anders ausgedrückt: In nur zehn Jahren entsteht ein vermeintlich hundert Jahre alter Wald. Miyawaki hatte die Methode bereits in den 1970er-Jahren erfunden. Nun, wo die Welt nach schnellen Lösungen für den Klimawandel sucht, wächst die Zahl seiner Anhänger fast so rasant wie die Bäume selbst.
Von Lateinamerika bis nach Kanada, von Südostasien bis nach Europa: Weltweit schießen „Tiny Forests“ in die Höhe. Auch in Deutschland. In und um Hamburg etwa pflanzt der Verein Citizens Forests Miniwälder. Die sollen Vögeln, Kleinsäugern und Insekten eine Heimat geben, CO₂ binden und so die Klimakrise mildern. Warum warten, fragen Befürworter, wenn man das Wachstum beschleunigen kann? Worauf Kritiker wie der Umweltschützer Yellappa Reddy entgegnen: „Es ist keine gute Idee, Pflanzen zu einer derart schnellen Fotosynthese zu zwingen.“ Seine Heimat Indien ist inzwischen eine Miyawaki-Hochburg.
In der arabischen Welt trat Deema Assaf 2018 als Kleinwald-Pionierin an. In einem privaten Garten in Amman pflanzte sie den ersten „Tiny Forest“ der Region. Skeptiker erwarteten, dass sie im trockenen Jordanien scheitert. Schließlich sei die Miyawaki-Methode für das eher feuchte Klima Japans entwickelt worden. Assaf ließ sich davon nicht beirren. Sie setzt auf Versuch und Irrtum, gepaart mit Zuversicht. So hat es auch Miyawaki selbst getan. In seinem Essay „A Call to Plant Trees“ schrieb er: „Jeder, der es ernst meint mit diesem Vorhaben, kann jederzeit und überall damit beginnen.“ Entscheidend sei der Fokus auf einheimische Spezies. Ein Miyawaki-Wald ist also immer quasi ein Urwald. „Kein anderer künstlich geschaffener Wald ist so natürlich“, sagt Assaf. Ihr geht es nicht nur um schnelles Wachstum. Miyawaki, das bedeutet für sie vor allem die Rückkehr zu ihren Wurzeln.
„Mein großer Wunsch ist, dass Miyawaki zum Mainstream wird“
Jordanien ist eines der trockensten Länder der Welt. Der Baumbestand ist laut Global Forest Watch mit 0,03 Prozent der gesamten Landfläche verschwindend gering. Doch wo sich heute vor allem Wüste ausbreitet, haben früher Elefanten oder Asiatische Löwen in dichten Wäldern gelebt. Assaf erfuhr davon, als sie an Architekturprojekten in Nationalparks arbeitete. Kurz darauf sah sie einen TED-Talk des indischen Ingenieurs Shubhendu Sharma. Der Titel: „Wie man einen Wald in seinem Hinterhof anlegt“.
Für Assaf war es ein Schlüsselmoment. Sie habe sich schon immer für grüne Architektur interessiert, sagt sie. „Aber von den Miniwäldern war ich von dem Moment an richtig besessen.“ Sie reiste nach Indien, nahm an einem Kurs von Sharma teil. Von ihm lernte sie, wie man die Erde mit natürlichen Nährstoffen und Mikroben anreichert und die richtigen Spezies für den Wald auswählt. Und wie man ihn in verschiedene Stockwerke aufteilt, sodass jede Pflanze und jeder Baum überleben kann – trotz des Wettbewerbs um Wasser und Sonnenlicht. Alle Bausteine seien wichtig für die Miyawaki-Gemeinschaft, sagt Assaf: von den winzigen Mikroben in der Erde bis hin zu den großen Mutterbäumen, die Sämlinge über ein Pilz- und Wurzelgeflecht mit Nährstoffen versorgen. „Bäume sind kluge Wesen“, sagt sie.
Auf dem Weg zum nächsten ihrer Wälder erzählt Assaf von ihrer Kindheit in Amman. Damals kam ihr die jordanische Hauptstadt vor wie ein Dorf. Ketten wie Starbucks und McDonald’s gab es noch nicht, immer wieder mussten Autofahrer abbremsen, weil Schafherden durch die Straßen zogen. Nun lenkt sie ihren Mercedes durch den dicht bebauten Osten der Stadt. „Beton und Asphalt, das ist Amman heute“, sagt sie. Am Ziel angekommen, lächelt sie. Omar Sharif lächelt zurück und öffnet das Tor zu einem Park. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet er hier. Als sie vor zwei Jahren den Miyawaki-Wald gepflanzt haben, erzählt er, habe sich sein Arbeitsort verwandelt. Mit dem Grün kamen die Vögel, Insekten und Tiere zurück. Sogar eine Fuchsfamilie hat Sharif in den vergangenen Wochen gesehen. „Es war wie Magie“, sagt Sharif.
In den Niederlanden haben Wissenschaftler ähnliche Beobachtungen gemacht. Ein Jahr lang haben sie die Artenvielfalt in zwei Miyawaki-Wäldern dokumentiert und sie mit Kontrollwäldern in der Umgebung verglichen. Ihr Ergebnis: In den Miyawaki-Wäldern war die Artenvielfalt durchschnittlich 18-mal größer. Zudem wandeln sie CO₂ um. Laut Berechnungen der belgischen Organisation Urban Forests können 100 Quadratmeter Miyawaki-Wald die jährlichen Kohlenstoffemissionen eines durchschnittlichen Europäers speichern.
Viel zu wenig, um etwas gegen den Klimawandel auszurichten, sagen Kritiker. Überhaupt sei das wissenschaftliche Fundament noch zu schwach, zu viele Fragen unbeantwortet. Zum Beispiel: Welchen Effekt hat das beschleunigte Wachstum langfristig auf die Gesundheit und Qualität der Bäume? Können sie tatsächlich Regen begünstigen, so wie andere Wälder? Wie wirkt sich die Konkurrenz auf die Vielfalt der Miniwälder aus? Assaf weiß um diese Wissenslücken. Statt sich davon abschrecken zu lassen, sammelt sie neue Erkenntnisse. Fünf „Tiny Forests“ hat ihr Team bislang gepflanzt. Bei jedem Mal haben sie dazugelernt. Versuch, Irrtum, Zuversicht.
In einem Gewächshaus am Rande Ammans lagert das Erbgut für die Kleinwälder. Die Samen stammen aus der Wildnis Jordaniens, nun wachsen sie in Hunderten Töpfen zu Setzlingen heran. Gemeinsam mit der Agraringenieurin Fadwa Al-Madmouj begutachtet Deema Assaf an diesem Vormittag ihren Fortschritt. Handbücher oder wissenschaftliche Daten zur Aufzucht der Ur-Spezies gibt es in Jordanien nicht. Assafs Team sammelt und teilt das neu gewonnene Wissen. „Mein großer Wunsch ist, dass Miyawaki zum Mainstream wird“, sagt sie.
Vor einigen Tagen hat sie ein Bekannter angerufen, er pflanzt mit Freiwilligen Miniwälder im nahen Libanon. „Das Land versinkt in Schwierigkeiten und Chaos, aber sie lassen sich davon nicht aufhalten“, sagt Assaf. Für sie ist das eine der größten Stärken der Miyawaki-Wälder: Sie halten selbst den größten Krisen stand.