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Nele Willfurth fehlten Wahlfächer an ihrem Dorfgymnasium, also trat sie mit 16 in eine Partei ein. Heute ist sie Kreisrätin – mit gut 30 Jahren Altersabstand zu ihren Kollegen

Nele Willfurth kurz vor Beginn einer Kreistagssitzung im Landratsamt Calw

Vier Tischreihen, knapp 50 Lokalpolitiker:innen, graue Haare, halbe Glatzen, Sakkos über Stuhllehnen. April 2023, Kreistagssitzung. Der große Sitzungssaal im Calwer Landratsamt ist voll.

Für 90 Minuten hört man tiefe Männerstimmen. Sie diskutieren über bezahlbaren Wohnraum und die Wiederinbetriebnahme eines Schlachthofes. Da ertönt aus einer Ecke des Raumes eine Frauenstimme. „Wir brauchen ein Umdenken in unserem Fleischkonsum hin zu weniger, dafür quali…“ Sie schafft keine zwei Sätze, bis ein Mann verächtlich schnaubt und den Kopf schüttelt.

Nele Willfurth ist 22 und Studentin. Der Schnauber ist 70 und besitzt eine Praxis für Allgemeinmedizin.

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Nele Willfurth während eines Spaziergangs durch ihren Heimatort Egenhausen
Nele auf einem Spaziergang durch Egenhausen. Hier ist sie aufgewachsen. Was aus ihr werden könnte, war vielen schon damals klar: In ihrem Abi-Jahrbuch wählten ihre Mitschüler sie bei der Frage „Wer wird Bundeskanzler?“ auf den ersten Platz

Im Kreistag Calw sitzen 40 Männer und acht Frauen, viele Ärzt:innen, Landwirte, Bürgermeister. Altersdurchschnitt: 59 Jahre. Die größte Fraktion ist die CDU, gefolgt von der Freien Wählervereinigung, SPD, Grünen, AfD und FDP.

Nele sagt, dass bei allen Kreistagsmitgliedern mal jemand lacht oder mit einem Kommentar unterbricht. In dieser Sitzung passiert das nur ihr.

Dreieinhalb Jahre zuvor, Herbst 2019, wieder im großen Sitzungssaal. Neles zweite Kreistagssitzung ist die erste, in der sie sich zu Wort meldet. Stellvertretend für die Grünen-Fraktion reicht sie einen Antrag ein: Ratsmitglieder sollen künftig wählen dürfen, ob sie mit dem Zug oder dem Flugzeug zu Veranstaltungen reisen. Und der Saal? Applaudiert. Nele wird das nicht vergessen: Der Antrag sei basic gewesen, sagt sie, den Applaus habe sie also für ihr Alter bekommen. Heute passiere das nicht mehr. Darüber ist Nele froh, sie will nicht bevorzugt behandelt werden.

Anfangs muss sich Nele Mut zureden: „Die Leute haben dich gewählt. Es ist dein Recht, hier zu sein und deine Meinung zu vertreten“

Das 2.000-Einwohner-Dorf Egenhausen liegt auf einer Anhöhe im Norden des Schwarzwalds. Nele spaziert vorbei an der Kirche, in die sie sonntags mit ihren Eltern zum Gottesdienst ging, über den Schulhof ihrer Grundschule und zum Grundstück ihrer Familie mit dem alten Apfelbaum.

Ohne Sorgen draußen spielen, jeden im Dorf kennen, das Kind Nele empfindet Egenhausen als große Freiheit. Die Jugendliche fühlte sich eingesperrt. Der Bus fährt nur alle zwei Stunden, und auch nur bis zur nächsten Kleinstadt.

In der Oberstufe interessiert sich Nele für Geografie. Sie will Gemeinschaftskundeunterricht als Hauptfach wählen. Religion wäre auch nicht schlecht. Alle drei Fächer werden nicht angeboten. Die Schule ist klein, es fehlt an Lehrkräften.

Nele fragt sich: Nur weil sie auf dem Land aufwächst und ein kleines Gymnasium besucht, soll sie nicht die Wahl haben?

2017 tritt Nele den Grünen bei. Auf ihrer ersten Parteiveranstaltung gibt es Schweineschnitzel. So ist das auf dem Land, denkt Nele. 2019 kandidiert sie auf Listenplatz sechs von sieben bei der Kreistagswahl.

Tag der Entscheidung, Mai 2019. Nele, seit ein paar Tagen volljährig, steht im Calwer Landratsamt, Blick auf den Bildschirm, über den in Dauerschleife die Wahlergebnisse laufen. Hinter ihrem Namen steht ein „g“. Nele kneift die Augen zusammen, schaut ein zweites Mal. Dann ruft sie ihre Eltern an. Neles Vater sagt, er glaubt es erst, wenn es in der Zeitung steht.

Am nächsten Tag steht im „Schwarzwälder Boten“, die Grünen hätten ihre Mandate von bisher fünf auf sieben gesteigert. „Eines davon ging an die jüngste Calwer Kreisrätin: die 18-jährige Nele Willfurth.“

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Nele Willfurth während einer Sitzung der Bündnis 90/Die Grünen-Kreistagsfraktion im Landratsamt Calw
Fraktionsalltag: Nele im Kreis ihrer Parteikolleginnen und -kollegen

Der Anfang ist schwer. Ratsmitglieder halten sie für die Tochter oder gar Enkelin ihrer Fraktionskolleg:innen. Vor Ausschüssen und Sitzungen ist Nele nervös, manche Kolleg:innen haben Jahrzehnte Lokalpolitik hinter sich. Die ersten Monate muss sie sich Mut zureden: „Die Menschen haben dich gewählt. Es ist dein Recht hier zu sein, mitzureden, deine Meinung zu vertreten.“

In der Kreistagssitzung im April 2023 setzt Nele zum zweiten Wortbeitrag an. Das Notizbuch liegt noch immer vor ihr, aber diesmal redet sie frei. Es geht um den spärlichen öffentlichen Nahverkehr in der Region. Nele weiß, wovon sie spricht. Diesmal hören die Kreisräte zu. Nach fünf Stunden Sitzung fährt Nele eine gute Stunde mit dem Zug nach Karlsruhe. Sie studiert im Master: Mobilitätsmanagement.

Ihre Woche teilt sich in Politik und Uni. Von sieben bis neun Uhr liest sie Sitzungsvorlagen, schreibt Anträge, telefoniert mit Fraktionskolleg:innen. Ab zehn Uhr dann Vorlesung, Mittagessen mit den Kommiliton:innen, kurze Pausen zu Hause. An den Abenden und Wochenenden: wieder Politik.

Eine beliebige Woche im März 2023 sieht dann so aus: Montag: Fraktionssitzung in Pforzheim. Dienstag: Sitzung des Vorstands der Grünen Jugend Baden-Württemberg, in den Nele vor einem Jahr gewählt wurde. Freitag: Planungstreffen zu den Kommunalwahlen 2024. Samstag: Landesvorstandssitzung der Grünen Jugend in Stuttgart.

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Nele Willfurth ist oft auf den ÖPNV angewiesen, um von ihrem Heimatort Egenhausen zur Kreisratssitzung nach Calw zu kommen
Nele ist auf den ÖPNV angewiesen, um zur Kreisratssitzung zu kommen. Damit der noch besser wird, will sie bei den Kommunalwahlen 2024 wieder kandidieren

Nele ist vorbereitet. In den Fraktionssitzungen gehört sie zu denjenigen, die Unterlagen genau gelesen haben und Fragen beantworten können. Fraktionsmitglieder loben, Nele sei der Beweis, dass die Änderung des Kommunalwahlrechts funktioniert: Im März stimmte der Landtag in Baden-Württemberg für eine Änderung des Wahlrechts: Ab 2024 dürfen 16-Jährige in kommunale Gremien – also Gemeinde-, Stadt- oder Kreisräte – und 18-Jährige ins Bürgermeisteramt gewählt werden. Die Regelung ist einmalig in Deutschland.

Manchmal hat Nele Angst, falsche Prioritäten zu setzen. Viele in ihrem Alter sind in der Klimabewegung aktiv, die meisten außerhalb der Parteipolitik. „Viele wollen direkt die Welt retten“, sagt Nele. „Die sind laut. Was gut ist für die Aufmerksamkeit.“ Einige aus diesen Kreisen wundern sich, wie sehr sie sich über kleine Fortschritte in der Kommunalpolitik freuen könne. Zum Beispiel, dass alle Menschen im Landkreis Calw für ein Jahr am Wochenende kostenlos Bus fahren konnten. Neles Fraktion hat das ermöglicht, darauf ist sie stolz. Es können ja nicht alle auf Bundes- und Europapolitik schauen.

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