Wenn Frank Müller ehrlich ist, weiß er gar nicht, was er zum Leben noch braucht. Mit einer Zigarre in Havanna sitzen, irgendwann, das könnte er sich vorstellen. Aber eigentlich „hat nicht jeder so einen Garten“, sagt er und schaut durch deckenhohe Wohnzimmerfenster auf sein Werk. Die Terrasse: von ihm gesetzt. Die Fassade: von ihm verklinkert. Die Dachrinne: mit seinen Händen montiert. Der Kirschbaum, mächtig, mit Ästen, die über den Fischteich ragen: älter als er.
Frank Müller, 56, nicht ganz groß, nicht ganz dünn, aus Sangerhausen, wohnhaft in Wolmirstedt, Sachsen-Anhalt, hat alles. Volles Haar, kaum Augenringe, zwei Katzen, ein Beet, das leise Glück einer wohlklingenden Adresse: „Am Obstgarten 14“. Dieses Haus, in dem eine Wendeltreppe die Stockwerke verbindet und im Bad automatisch das Radio angeht, wenn man den Lichtschalter drückt.
Seine Kinder sind welche, auf die er stolz sein kann, längst ausgezogen und versorgt: Steffen und Stefanie.
Seine Frau ist eine, auf die er zählt, Sabine – seit 33 Jahren seine. Gemeinsam haben sie dieses Grundstück gesucht und diese Familie gegründet, eine Dynamik füreinander gefunden, die passt. Fragt sie, neben ihm auf dem Sofa in der „Stube“: „Wie wär’s mal mit Italien? Die Landschaft genießen, die Hügel?“ Fragt er zurück: „Was interessiert mich eine Zypressenallee in der Toskana?“
Samstagmorgen, draußen wächst ihr Spinat, steht ihr Mercedes C-Klasse. Frank Müller sitzt auf der Couch, die Hausschuhe an, noch bleibt Zeit, bis seine Schicht beginnt. Gegen 15.30 Uhr wird er eine Latzhose überziehen und die elf Kilometer ins Bowlingcenter nach Magdeburg fahren. „Chefmechaniker seit 1. November 1996“ ist er dort, die „Bowling World“ sein Büro. Gegen 16 Uhr wird er in einer Industrielandschaft parken und durch ein Gebäude mit Casino und Cinestar laufen, an Billardtischen, Dartscheiben und Greifautomaten vorbei. Ein paar teppichgedämpfte Schritte wird er gehen, in seiner Werkstatt nach dem Rechten sehen und hinter den Bowlingbahnen nach Störungen suchen, reparieren, wenn eine Maschine hängt. Sobald sie die Kegel nicht mehr hochzieht und aufrichtet, „sich etwas verkeilt oder reißt oder hakt“, legt er los – gut 50 Mal am Tag, sagt Frank Müller. Meist braucht er eine halbe Minute für die Lösung eines Problems. Er mag, dass er den Spaßbetrieb am Laufen hält. Dass „immer was los ist“. Überhaupt – „Strike!“: wie die Bowlingkugeln dort auf den Bahnen landen, die Pins übereinanderfallen. Bäm, klack-klackklack.
11 Uhr, Frank Müller öffnet eine Box und legt Erinnerungen auf den Glastisch, neben seinen Kaffee und die Untersetzer und die Etagere mit den Keksen. Ein Tütchen holt er raus, darin die erste blonde Locke, die ihm seine Mutter abgeschnitten hat. Alte DDR-Schulzeugnisse blättert er durch, Hammer und Sichel auf jeden Einband gedruckt; Müller liest aus ersten Deutschdiktaten vor: Karl und Karla kaufen für Mutti im Konsum ein. Die Soldaten bewachen unser Land.
„Da ging die Propaganda los“, sagt er und dass sein Protest trotz allem kurz gewesen sei. Mit 14, 15 habe sich etwas Rebellisches in ihm geregt – und direkt wieder verflüchtigt. Aus einem Ohnmachtsgefühl heraus; aus Einflusslosigkeit, darum. „Du wurdest sowieso in eine Richtung geschoben“, sagt Frank Müller, seine krakelige Schrift von 1967 vor sich, die immer gleichen Sätze einer Strafarbeit: Ich soll nicht mit Steinen werfen. Ich soll nicht mit Steinen werfen. Er klappt das Heft zu, sagt: „Ich war Durchschnitt. Ein ganz Normaler.“
Die zehnte Klasse: „um die 2,0“ abgeschlossen. Die Lehre: beim Werk für Rundfunk- und Fernsehtechnik in Staßfurt gemacht. Seine Sabine: das erste Mal „an der Küste“ getroffen, in Trassenheide auf Usedom. Angestellte des Technikwerks durften dort günstig Zelturlaub machen – und Angestellte waren sie beide. Sabine half in der Küche des Campingplatzes aus, er hatte sich im Anreisedatum geirrt und war einen Tag früher als die Kollegen hochgefahren, angekommen im Morgengrauen, bei „Scheißwetter“. Durchnässt und hungrig stand er im Frühstücksraum, wusste nicht, wohin. Sabine, die „Mitleid hatte“, stellte ihm einen Teller hin.
Das Leben lief. So weit. Und dann?
11.40 Uhr, Müllers gehen essen. Am „höchsten Punkt von Wolmirstedt“, hinter den Wohnblocks und dem Gymnasium der Kinder, in „Auerbachs Mühle“. Bestellen „zwei Mal den Mühlentopf“, Fleisch und Kartoffeln und Gemüse. Und dann?
„Hieß es arbeiten, das war meins“, Frank Müller legt den Arm um Sabine. Am Fließband stellten sie Fernseher her, Colortron und Colorlux, setzten Leiterplatten und Bildröhren in Geräte ein. Es gab eine Stechuhr und Brigaden, Müller wurde Teamleiter, wurde Meister; am Abend ging es ins Kino oder zum Tanz. Und allgemein recht schnell: zunächst in eine Anderthalbzimmerwohnung „oben unters Dach“, für zwölf Ostmark im Monat. „Wie es da durch die Fenster gezogen hat, herrlich!“ Altbau, Kohleofen. „Schöne Zeit, ja. Da sind die Kinder entstanden.“
Später wurden die Kinder hochgetragen in eine geräumigere Wohnung, in den sechsten Stock eines Plattenbaus. 99 Stufen bis zu ihrer Etage, 105 von ihrer Etage in den Keller. „Am Tierpark“, haben sie gelebt, „da hast du die Wölfe heulen und die Affen schreien hören“. Ende der Achtziger hat Frank Müller doch noch mal der Protest gepackt, da lief er bei den Montagsdemos mit, vor die Sankt-Petri-Kirche in Staßfurt. Als die Mauer schließlich fiel, saß er vorm Fernseher und weinte, weckte Sabine. „,Ist mir egal‘, hat die gemurmelt! Hat doch echt die Wende verschlafen.“
Beide verloren sie später ihre Jobs. Fuhren zu viert im Trabi – „einem beigen Kombi, ,Gustav‘“ – nach Braunschweig, für das Begrüßungsgeld und das erste Mal Westgeruch. „Die teuersten Sachen“ kauften sie, Kaffee, Joghurt und Kakao.
„Allzu lange arbeitslos war ich nicht“, sagt Frank Müller, „dann Chefmechaniker im Bowlingcenter.“ Er kratzt sich am Ohr, das macht er öfter, oder er starrt so in den Raum, dann dauert es, bis er zum Thema zurückfindet. Wie von einer inneren Reise kehrt er dann heim, sagt: „Ging schon, alles. Ich hab ja eine Abfindung gekriegt.“ Oder dass es Probleme zu lösen gilt. Dass Sabine Hörgeräteakustikerin geworden, Steffen nach Berlin gegangen – und Stefanie wieder schwanger ist. Was soll er noch wollen oder können? Eine zweite Fremdsprache?
Etwa Englisch? Hat er nicht gewählt, neben Russisch, damals in der Schule. „Ich bin lieber baden gegangen“, sagt er, kurz vor 16 Uhr ist es da, die Latzhose übergezogen – und er unterwegs zur Bowling World. Bis nach Syrien ist er einmal, um eine Bowlingmaschine wieder in Gang zu bringen, dort hat er sich auch so verständigt. „Jahre her“, der Businesstrip. Damaskus war noch heil.
Müller parkt und läuft in das Gebäude, vor dem ein Acker liegt. Wo innen Bowlingschuhe verliehen werden und gerade ein Gehörlosenturnier stattfindet, die Männer vor den Bahnen lungern und aus Strohhalmen trinken, eine große Fanta oder Spezi. Manch einer steht wie ein Eiskunstläufer auf der Bahn, wenn er seiner Kugel beim Rollen hinterhersieht, dem Moment nachhängt, ein Bein noch angewinkelt, ein Arm in der Luft. Bald geht die Nebelkanone an und das Schwarzlicht. Ein DJ spielt dann Musik. „Dann ist hier Disco“, sagt Frank Müller – und er bei seinen Maschinen. Oder in der Werkstatt, wo schon an der Tür ein Aufkleber Behaglichkeit verspricht: „Spaß auf 6 m²“. Alles ist dann wie immer.