Wir nähern uns rasant der Halbzeit der Berlinale – und da ist es natürlich höchste Zeit für einen offenen Brief. Ok, da sind wir jetzt nicht die Allerersten. Ende November wandten sich 79 Filmschaffende an die Öffentlichkeit mit dem dringenden Wunsch, „die Berlinale zu entschlacken und programmatisch zu erneuern.“
Kurze Frage: Warum eigentlich? Das thematische Durcheinander, die kaum zu unterscheidenden Sektionen, die völlig überfordernde Zahl von jährlich rund 400 Filmen, all das bietet ja auch eine große Chance. Und zwar für Filme, die erstmal etwas abseitig klingen. „Shakedown“ ist so ein Fall, eine Doku über lesbische Stripperinnen in Los Angeles Anfang der Nuller Jahre, quasi das Westcoast-Pendant zur New Yorker Ballroomszene, zu der in den letzten beiden Jahren Dokus auf der Berlinale liefen. Bisschen krude fängt der Film an. Mit grisseligen Aufnahmen, verzerrten Beats aus komischen Hinterzimmern, zerknitterten Flyern, die aussehen, als wären sie in zwei Minuten zusammenkopiert worden.
Dann entwickelt der Film einen eigenartigen Sog. Die Tänzerinnen wie Egypt und Mahogany sind Szenestars, bei ihren Auftritten werden sie von den Frauen im Publikum mit Dollarscheinen beworfen. Ronnie Ron, Stud-Lesbe und Profi am Mikro, heizt als flamboyante Gastgeberin die Party an. Und als irgendwann die Polizei den Laden hochnimmt – obwohl er die nötige Lizenz hat – will auch der letzte weiße cis-männliche Hetero auf die Barrikaden gehen. #Ungerecht!
Regisseurin Leilah Weinraub war, wie sie in dem Q&A nach der Premiere sagte, jahrelang bei den Partys mit ihrer Kamera dabei. Später betrieb sie das New Yorker Modelabel Hood by Air, das mit seinen geschlechtsneutralen Looks für Furore sorgte und das von Hiphop-Größen wie A$AP Rocky gerne getragen wird. Shakedown ist ihr Debütfilm. Und für solche Filme wurde die Berlinale quasi erfunden. Die wilde Mischung passt zu Berlin. Und Berlin steht auf solche Filme. Die Premiere von Shakedown war sofort ausverkauft, die übrigen Vorstellungen auch. In Cannes und Venedig, deren Festivals die 79 Filmschaffenden als Vorbilder für eine Berlinale nach Kosslick zitieren, da laufen solche Filme wohl kaum.
Felix Denk
Noch mehr Nachtmusik
Dieser Song, den Blumfeld auf ihrem Album Testament der Angst singen, sorgt in Christian Petzolds Wettbewerbsfilm „Transit“ für eine bewegende Szene. Georg, gespielt von Franz Rogowski, ist auf der Flucht vor den Nazis. In Marseille wartet er darauf, weiter zu kommen. Dort lernt er den Jungen Driss kennen, den Sohn eines verstorbenen Freundes. Wie Georg dem Jungen das Gute-Nachtlied vorsingen will, ist ganz großes Schauspielerkino, findet Jan-Philipp Kohlmann. Hier geht es zu seinem Steckbrief.
Katzen.GIFs vom Dschihadisten
Der Film Profile von Timur Bekmambetov ist gleich in zweifacher Hinsicht ungewöhnlich. Einmal thematisch. Es geht um den realen Fall einer Journalistin, die sich bei einer Recherche in einen IS-Kämpfer verliebt, mit dem sie dann zärtlich Katzen-GIFs hin- und herschickt, aber auch formal: Er spielt komplett auf einem Computerbildschirm. Und, ja, das funktioniert, findet Michael Brake. Hier geht es zu seinem Steckbrief.
Noch Platz auf dem virtuellen Kinosessel
Ist ja schön, dass auf der Berlinale so viele tolle Filme laufen. Aber was bringt mir das, wenn ich gar nicht in Berlin wohne? Wie, naja, so ziemlich alle. Oder wenn die Tickets mal wieder in Sekundenschnelle vergriffen waren? Für alle derart Gepeinigten gibt es dieses Jahr erstmals ein kleines Streamingangebot. Bis zum 28. Februar können acht Filme aus dem Berlinale-Programm bei Festival Scope für 3 Euro pro Film abgerufen werden. Allerdings nur von jeweils 300 Menschen, mehr Plätze bietet der virtuelle Kinosaal aus unerfindlichen Gründen nicht. Und auch nur von deutschen IP-Adressen (oder: und auch nur in Deutschland). Aber hey, immerhin!
Mit dabei ist unter anderem der tolle argentinische Dokumentarfilm "Theatre of War", der sich mit dem Krieg um die Falklandinseln beschäftigt – 74 Tage dauerte der Konflikt um die unwirtlichen Inseln im Südatlantik im Frühjahr 1982, über 900 Soldaten kamen ums Leben.
Man merkt, dass die argentinische Regisseurin Lola Arias aus der Kunst- und Theaterszene kommt, denn ihre Herangehensweise ist so ungewöhnlich wie aufregend: Sie hat sechs Kriegsveteranen, je drei britische und drei argentinische, mehrere Wochen zusammengebracht. Ihre Erinnerungen und Geschichten erzählen sie in perfomancehaften Situationen, mit Margaret-Thatcher-Masken, in einem Schwimmbad, nachgestellt mit Modellbaufiguren. So entstehen Bilder von künstlerischer Schönheit, wie man sie in einer Kriegsdokumentation genau nicht erwartet – und deren Wucht und Ideenreichtum zeigen, wie man "Oral History" auch anders als nach dem Prinzip "sprechende Köpfe vor dunklem Hintergrund" inszenieren kann.
Michael Brake
The Usual Suspects (2)
Die Berlinale wäre nicht die Berlinale ohne... Hong Sang-soo.
Beruf: Regisseur & Kaffeehaus-Poet des Kinos.
Auffallende Merkmale: Äußerlich ist das schwierig: Er ist Ende 50, trägt Schnurrbart, kurze graue Haare und spricht – selbst mit Mikrofon – sehr leise. Aber man weiß allerspätestens nach zwei Minuten, dass man wieder in einem seiner Filme sitzt.
Warum braucht ihn die Berlinale? Weil der Südkoreaner in jedem Jahr mindestens einen Film macht, der aus den folgenden, bestechend einfachen Zutaten besteht: einem Kaffeehaus, Männern & Frauen, Trauer & Selbstmitleid, Witz & Spott, Kino & Schauspiel sowie mindestens einer Szene, in der sich die Protagonisten mit dem Reisschnaps Soju gegenseitig unter den Tisch trinken. Sein diesjähriger Berlinale-Beitrag heißt „Grass“.
Und was sagt er selbst? „Ich stehe um vier Uhr auf und fange an, Dialoge zu schreiben. Ich weiß noch nicht, worum es gehen wird, verlasse mich ganz auf spontane Einfälle. Am Vormittag entwickle ich die Szenen mit den Schauspielern, dann drehen wir. Bei meinem neuen Film haben wir vier Tage gedreht und drei Tage geschnitten. Nach einer Woche war der Film also fertig.“
Jan-Philipp Kohlmann