fluter.de: Herr Behr, wann wurden Sie das letzte Mal einfach so von der Polizei kontrolliert?
Raphael Behr: Als ich 15 war, bin ich nach Würzburg getrampt. Es gab dort einen bestimmten Schlagzeuglehrer, bei dem ich Unterricht nehmen wollte. Unterwegs hielt mich ein bayerischer Streifenwagen an mit so zwei ruppigen Polizisten, die mich fragten, was ich denn da so ganz alleine mache. Am Schluss meinte einer der beiden Beamten: Wir werden dir schon beweisen, dass du ein Verbrecher bist. Da habe ich mich wirklich wie ein Missetäter gefühlt. Aber es war bis heute auch das einzige Mal.
Menschen mit dunkler Haut berichten davon, diese Erfahrung ständig zu machen. Eine Journalistin wurde 23-mal kontrolliert – in gerade einmal neun Monaten.
Und ich gehe fest davon aus, dass es mir genauso ergehen würde, wenn ich nicht so aussähe, wie ich aussehe. Schön ist das nicht.
Wie häufig passiert es denn, dass Menschen kontrolliert werden, weil ihnen aufgrund ihrer Hautfarbe bestimmte Eigenschaften unterstellt werden?
Das ist der heikle Punkt: Wir hören aus Migrantencommunitys oder von People of Color zwar immer wieder die Klage über viele und vor allem willkürliche Kontrollen. Aber genaue Zahlen haben wir nicht. Welche Menschen werden wann warum wie von der Polizei kontrolliert? Darüber gibt es keine Statistik. Nachgehalten wird nur, wenn eine Kontrolle zu einer Festnahme, einem Verdacht oder einer Ermittlung führt. Im Ausland gibt es zum Teil die detaillierte Erhebung über die Kontrollaktivitäten. Das Ergebnis ist wie erwartet: Ethnische Minderheiten werden häufiger von der Polizei angehalten.
„Das Verbot von Racial Profiling bedeutet ja nicht, dass man nicht in begründeten Fällen und als ein Merkmal neben anderen auch Hautfarbe oder ethnische Herkunft heranziehen dürfte“
Ohne Zahlen kann sich die Polizei natürlich leicht aus der Verantwortung reden.
Leider. Die fehlende Erfassung ist nur ein Punkt. Dazu kommt, dass Polizistinnen und Polizisten zunehmend von der Begründungspflicht befreit werden und damit immer freier aus dem Bauch heraus agieren. In meiner Zeit als junger Polizist haben wir natürlich auch Leute angehalten, von denen wir dachten, sie gehörten kontrolliert. Aber wir mussten uns immerhin eine Begründung zurechtlegen, wie wir die Kontrolle legitimieren – falls die Kontrollierten sich beschwerten oder unsere Vorgesetzten eine Erklärung verlangten. Bei Verkehrskontrollen war das ziemlich simpel: Der ist Schlangenlinien gefahren. Das kann man eigentlich so gut wie nie widerlegen, weil kaum ein Autofahrer zu 100 Prozent gerade fährt. Das war natürlich ein Scheinargument, aber verhindert immerhin die völlige Willkür. Die Entwicklungen, die ich im Moment beobachte, halte ich für fatal: In einigen Bundesländern wurden die Polizeigesetze so geändert, dass in vielen Fällen anlasslose Kontrollen möglich sind. Polizisten sind also nicht einmal mehr angehalten, sich selbst zu fragen, warum sie überhaupt jemanden kontrollieren. Das öffnet dem Racial Profiling Tür und Tor.
Mit dem Begriff werden Kontrollen allein aufgrund äußerlicher, „ethnischer“ Merkmale bezeichnet. Ist so etwas überhaupt zulässig?
Nein, Racial Profiling widerspricht dem Grundgesetz. Niemand darf wegen seiner ethnischen Herkunft oder seiner Hautfarbe benachteiligt werden. Also darf auch die Polizei nicht allein darauf einen Verdacht begründen. Ein kluger Polizist wird das auch nicht tun.
Eine große Debatte über Racial Profiling gab es 2017 nach dem Einsatz der Kölner Polizei während der Silvesternacht. Dabei wurden gezielt junge Männer mit einer vermuteten nordafrikanischen Herkunft kontrolliert, nachdem es im Jahr zuvor Übergriffe auf feiernde Frauen gab. Von den über 400 Personen, deren Nationalität überprüft wurde, kam nur ein Bruchteil aus nordafrikanischen Staaten. Damit ist die Polizei also zu weit gegangen?
So einfach darf man es sich nicht machen. Das Verbot von Racial Profiling bedeutet ja nicht, dass man nicht in begründeten Fällen und als ein Merkmal neben anderen auch Hautfarbe oder ethnische Herkunft heranziehen dürfte. Deswegen ist Köln eigentlich kein gutes Beispiel. Es gab ja eine Vorgeschichte. Man hatte an Silvester 2015 keine Erfahrungen mit älteren schwedischen Frauen gemacht irgendwo in der Stadt, sondern am Hauptbahnhof mit jungen Männern, denen man unterstellt hat, dass sie aus dem nordafrikanischen Raum kommen. Natürlich sind dabei auch unschuldige Menschen in die Polizeikontrolle geraten. Aber in der Abwägung halte ich das Vorgehen für ethisch vertretbar. Racial Profiling ist für mich eher etwas anderes.
„Irgendwann kann das Aussehen allein kein grenzpolizeiliches Kriterium mehr sein“
Zum Beispiel?
2010 wurde ein Student in einem Regionalzug zwischen Kassel und Frankfurt kontrolliert – einfach nur, weil er schwarz war. Die Bundespolizisten haben ihm das auch genau so ins Gesicht gesagt. Es gab keine zusätzlichen Anhaltspunkte, keinen Hinweis auf eine Straftat. Nur die Hautfarbe. Das ist rechtswidrig.
Die Bundespolizei soll nach § 22 des Bundespolizeigesetzes in Zügen kontrollieren, um unerlaubte Einreisen ins Land zu verhindern. Ist die Hautfarbe da ein Indiz?
Diese Regel gilt zuallererst für die Außengrenze Deutschlands. Sollte die Polizei mitten in einem multikulturellen Land auf der Strecke zwischen Kassel und Frankfurt also nicht ein paar Indizien mehr haben, bevor sie die Ausweispapiere prüft? Irgendwann kann das Aussehen allein kein grenzpolizeiliches Kriterium mehr sein. Und auch in Grenznähe kann es nur ein Kriterium von mehreren sein.
Gibt es also einen latenten Rassismus bei der Polizei?
Ich bin mir sicher, dass es, so wie überall, auch bei der Polizei Rassisten gibt. Aber die Polizei ist keine rassistische Institution. Mit diesem generellen Vorwurf zerschlagen wir nur Porzellan und verhärten die Fronten. Das heißt allerdings nicht, dass Polizisten bei ihrer Arbeit nicht diskriminieren würden, selbst solche, die eigentlich ihren Beruf korrekt ausüben wollen, die nicht rassistisch sind und auch nicht diskriminieren wollen. Die Ursache liegt aber in Gesetzen, die diskriminierend sind. Der berüchtigte § 22 ist für mich ein Beispiel eines solchen Gesetzes, weil er eine große Gruppe Menschen unter Verdacht stellt.
Diese Unterscheidung hilft aber auch keinem Polizisten weiter, wenn er im Zug einen schwarzen Menschen kontrolliert, der zu Recht genervt ist.
Das stimmt. Und ich habe keine gute Lösung. Außer vielleicht: Kultursensibilität, Taktgefühl und Freundlichkeit. Warum thematisiert man als Polizist nicht die Umstände der Kontrolle, zum Beispiel indem man sagt: Tut mir leid, bei Ihnen waren wir an der falschen Adresse, und Sie haben sicher das Gefühl, dass Sie häufiger angehalten werden, aber Sie wissen ja, dass wir auch auf illegale Einreisen achten müssen. In schwierigen Situationen die richtigen Worte zu finden – das wird leider viel zu wenig geübt in der Polizeiausbildung.
„Migranten sind nicht per se die besseren Kulturversteher. Und selbstverständlich haben sie ihre Vorurteile“
Würde es helfen, wenn mehr Menschen mit Migrationshintergrund bei der Polizei arbeiten würden?
Die Forderung hört man immer wieder. Ich glaube, man verspricht sich davon zu viel. Im Einzelfall geht ein Stefan in einem migrantischen Kiez vielleicht etwas sensibler vor, wenn er mit einem Ahmet im Streifenwagen sitzt. Aber Migranten sind nicht per se die besseren Kulturversteher. Und selbstverständlich haben sie auch ihre Vorurteile. Warum sollte es auch anders sein? Von einer griechischstämmigen Polizistin habe ich einmal gehört, dass sie sich besonders über das Verhalten türkischer Männer beschwert.
Was würde helfen?
Wir sollten unsere Polizeianwärter einmal in ein Sozialpraktikum schicken und zu deutlich mehr Reflexion befähigen. Ein halbes Jahr bei der Tafel in Hamburg oder in der Flüchtlingshilfe, also ein „Seitenwechsel“, würde Wunder wirken. Man lernt seine spätere Kundschaft von einer anderen Seite kennen: Diese Menschen machen nicht nur Probleme, sie haben auch ganz eigene Probleme, die sie zu lösen versuchen.
Titelbild: philipus / Alamy Stock Foto
Wer wird kontrolliert?
Großbritannien ist das einzige EU-Land, in dem Polizeikontrollen und die ethnische Herkunft der Kontrollierten erfasst werden. Aus den offiziellen Zahlen für England und Wales gehthervor: Angehörige „ethnischer Minderheiten“ wurden im Jahr 2016 dreimal häufiger von der Polizei angehalten als Weiße, Schwarze sogar sechsmal so oft. Die Statistik lässt aber auch Entwicklungen erkennen: Seit 2010 sank die Zahl der Kontrollen bei Angehörigen von Minderheiten besonders stark – zwischenzeitlich war die Wahrscheinlichkeit einer Kontrolle für Schwarze dadurch noch viermal höher als für Weiße. Dass das Verhältnis zuletzt wieder ungünstiger ausfiel, lag vor allem daran, dass die Polizei inzwischen auch weniger Weiße kontrollierte.
Paragraf 22
Seit ziemlich genau 20 Jahren steht ein umstrittener Passus im Bundespolizeigesetz bzw. im Bundesgrenzschutzgesetz, wie es damals noch hieß: Absatz 1a des Paragrafen 22. Er erlaubt den Bundespolizisten unter anderem Kontrollen in Zügen, an Bahnhöfen und an Flughäfen mit grenzüberschreitendem Verkehr, um illegale Einreisen zu verhindern. Geschaffen wurde die Regelung, weil durch das Schengen-Abkommen die Kontrollen an den Grenzen innerhalb der EU weggefallen sind. Kritiker bemängeln allerdings, dass die Befugnisse nach Paragraf 22 viel zu weit gefasst sind. Im Gesetz heißt es, die Beamten sollten bei der Bekämpfung illegaler Einwanderung aufgrund von „Lageerkenntnissen und grenzpolizeilicher Erfahrung“ entscheiden, wen sie anhalten, befragen und um die Ausweispapiere oder Grenzübertrittpapiere bitten. Auch mitgeführte Sachen dürfen sie sich ansehen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte kam 2013 in einem Gutachten zu der Einschätzung, dass die Regelung grundgesetzlich und menschenrechtlich nicht haltbar sei und daher gestrichen werden müsste. „Die Norm ist darauf angelegt, dass die Bundespolizisten anhand von Pauschalverdächtigungen selektive und damit rassistische Personenkontrollen vornehmen“, heißt es in der Studie. Die wissenschaftlichen Dienste des Bundestags kamen 2015 hingegen zu dem Schluss, dass der Gesetzgeber „mit Einführung von verdachtsunabhängigen Kontrollen durch § 22 Abs. 1a BPolG wohl keine spezifische Gefahrenlage für ein diskriminierendes Vorgehen gegen Migranten und Ausländer in Deutschland geschaffen“ habe. Schließlich finde „das Racial Profiling seine Grenzen in verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Verboten“.