Im August 2017, als der Junge nach drei Jahren Gefangenschaft zurückkehrte, sprach er wie seine Peiniger. Zieh dir etwas Anständiges an, sagte Paiwan zu seiner kleinen Schwester, wenn sie Leggins trug. Bedeck deine Haare, befahl er seiner Tante. Lest den Koran, trug er der ganzen Familie auf.
Ein paar Wochen später fingen die Wutausbrüche des heute Zehnjährigen an. Was immer dem Jungen in die Hände kam, schmiss er seiner Familie entgegen. Oder er rannte nach draußen und setzte sich alleine unter der prallen Sonne in den Staub. Er fing an, seine Schwester zu schlagen, sagte, er wolle sie umbringen. Einmal bedrohte er sie mit einem Küchenmesser.
Frauen und Mädchen wurden als Sklavinnen verkauft, Jungs in Trainingslager gezwungen und zu Kämpfern ausgebildet
Paiwan, dessen Nachname zu seinem Schutz und dem seiner Familie hier nicht genannt werden soll, ist einer von Tausenden Jesiden, die im August 2014 von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verschleppt wurden. Frauen und Mädchen wurden als Sklavinnen verkauft, Jungs in Trainingslager gezwungen und zu Kämpfern ausgebildet. Sie sollten für denselben Islamischen Staat in den Krieg ziehen, der ihre Mütter vergewaltigt und ihre Väter umgebracht hatte. Der UNO-Menschenrechtsrat verurteilte die Verbrechen des IS an den Jesiden als Völkermord.
Anfang Februar starteten die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) im syrischen Baghus eine Offensive, um das letzte Dorf vom IS zurückzuerobern. Die SDF sind ein Zusammenschluss mehrerer Milizen verschiedener Ethnien. Sie kämpften in den vergangenen Jahren in Nordsyrien gegen den Islamischen Staat – logistisch und mit Waffen von den USA unterstützt. Ende März verkündete die SDF den Sieg über den IS. Damit ist das selbst ernannte Kalifat der Terrormiliz, zumindest als geografisches Gebiet, vorerst Geschichte. Doch der Schaden, den der IS in der Gesellschaft angerichtet hat, ist groß.
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„Der IS fokussierte sich mit seiner Terrorpropaganda stark auf Kinder“, sagt Ayad Salih, Vorsitzender des Irakischen Instituts für Entwicklung. Die NGO, die sechs Gemeinschaftszentren für traumatisierte Kinder in Mossul betreibt, hatte vergangenes Jahr eine Studie dazu veröffentlicht.
Der IS schrieb die Schulbücher um, gerechnet wurde nicht mehr mit Äpfeln, sondern mit Gewehrkugeln. Bei öffentlichen Enthauptungen wurden die Kinder in die erste Reihe gesetzt. Manche wurden zu Kämpfern ausgebildet und als Selbstmordattentäter eingesetzt. 51 Kinder sollen sich allein im Januar 2017 in Mossul in die Luft gesprengt haben, wie die Terrorexpertin Mia Bloom von der Georgia State University gegenüber dem „Economist“ sagte. „Der IS hat den Nährboden hinterlassen für eine nächste Generation von Extremisten“, sagt Salih.
Während die arabischen Kindersoldaten im Irak wie Erwachsene behandelt und ins Gefängnis gesperrt werden, kamen die befreiten jesidischen Kinder zurück zu ihren Familien, viele schwer traumatisiert, die Angehörigen überfordert. Sie stellen die Gesellschaft vor eine Frage: Wie mit Kindern umgehen, die gelernt haben, ihre Nächsten zu hassen?
Das Haus der Familie von Paiwan, ein Rohbau, in dem die Fliesen schon gelegt sind, die Decke aber noch unverputzt ist, liegt auf halber Strecke zwischen der irakisch-kurdischen Hauptstadt Erbil und dem etwas kleineren Dohuk. Hier lebt er in Freiheit. Doch die drei Jahre, die Paiwan unter dem Islamischen Staat lebte, verfolgen ihn und seine Familie.
So froh Paiwans Familie über seine Rückkehr ist – sie hat auch Angst vor ihm
Die Familie hat die jüngste Schwester vor ein paar Wochen zu ihren Verwandten in ein Lager für Geflüchtete in der Nähe gegeben. „Wir hatten Angst um sie wegen Paiwan“, sagt seine Tante Nisreen. „Offen gestanden hatte ich eine Zeit lang selber Angst vor ihm.“
Nisreen sitzt in einem kleinen Zimmer neben dem Eingangsbereich. In gedämpftem Ton erzählt sie Paiwans Geschichte. Er selbst möchte nicht über das Geschehene reden. Einzig auf die Frage, warum er seine Schwester schlage, antwortet er: „Weil sie sich über mich lustig macht. Wenn sie das tut, werde ich wütend.“
Die Familie stammt aus einem Dorf in der Region Sindschar nahe der syrischen Grenze. Als der IS Sindschar überrannte, wollten sie ins Gebirge fliehen. Doch der IS fing das Auto ab. Die Terroristen brachten Paiwan, seine Schwester, seine Mutter und seine Tante nach Mossul. Dort wurden sie getrennt.
Einmal brach ein IS-Kämpfer Paiwan als Strafe ein Bein
Die ersten Monate blieb Paiwan bei seiner Mutter und dem IS-Kämpfer, der sie gekauft hatte. Wenn sie den Raum verließ, fing er an, das Zimmer zu verwüsten. Einmal habe er versucht, es anzuzünden. Dafür brach ihm der IS-Kämpfer das Bein.
Irgendwann trennte der IS Mutter und Sohn. Paiwan wurde in ein Trainingslager für Kinder gebracht. Dort herrschte ein brutales Regime: Als Paiwan einmal ein Stück von einer Seite des Koran abriss, bekam er zur Strafe eine Woche lang nur eine Mahlzeit am Tag, erzählte er später seinen Verwandten. Kämpfen musste er aber nie, sagt die Familie.
Das Ziel der Familie: den Irak irgendwann verlassen
Im Sommer 2017 kaufte die Familie Paiwan für mehrere Tausend Dollar und mithilfe eines jesidischen Schleppers frei. In den ersten Wochen in Freiheit schlief Paiwan kaum. Er weinte und verlangte nach seiner Mutter. Seine Tante Nisreen versuchte, ihn zu beruhigen: Seine Mutter würde bestimmt bald freikommen. Sie ist es bis heute nicht.
Über 3.000 der 2014 verschleppten Jesiden werden bis heute vermisst. Ihre Familien wissen nicht, ob sie gestorben sind, ob sie immer noch unter dem IS leben oder ob sie von den fliehenden IS-Kämpfern erneut verschleppt wurden.
Nach ein paar Wochen hörte Paiwan auf, wie die IS-Kämpfer zu reden. Wenn jetzt jemand über die Terroristen sprach, sagte er, sie sollten aufhören. Die Wutausbrüche blieben. „Wir wissen nicht, was wir mit ihm tun sollen“, sagt Nisreen. Sie selbst kämpft seit ihrer Entführung gegen Depressionen. Der Vater von Paiwan arbeitet als Tagelöhner, häufig in der Landwirtschaft – und schafft es, die Familie trotz Wirtschaftskrise zu ernähren. Sie hofft, dass ihre verschollenen Verwandten irgendwann doch freikommen. Dann, sagt Tante Nisreen, wollen sie den Irak verlassen. „Dieses Land ist für uns nicht sicher.“
Das Mental Health Center liegt in einem ruhigen Viertel am Rand von Dohuk. Die Einrichtung ist auf die psychologische Betreuung von Kindern spezialisiert. Auch Paiwan kam einige Male hierher. Doch die Familie hat zu wenig Geld, um regelmäßig in die Stadt zu fahren.
„Was ich in den letzten vier Jahren gesehen habe, kannte ich aus meiner ganzen Karriere davor nicht“, sagt Thikra Ahmed Muhammed. Die 42-Jährige arbeitet seit 2007 im Mental Health Center und ist heute die leitende Psychiaterin. Die Kinder sind wegen Angstzuständen und Aggressionsstörungen, wegen Depressionen und Suizidgedanken hier. Mindestens zehn Mal seien elfjährige oder jüngere Kinder ins Zentrum gekommen, nachdem sie versucht hatten, sich das Leben zu nehmen.
Es gibt auch Jugendliche, die aus freien Stücken beim IS sind – nachdem sie gebrainwashed wurden
Über Einzelgespräche und Gruppentherapien versuchten Ahmed und ihre Mitarbeiter, ihre Patienten wieder zu dem zu machen, was sie eigentlich sind: Kinder. „Wenn ein Kind wieder mit Freude sein Lieblingsspiel spielt, ist das ein Erfolg für uns.“
Doch dem Zentrum fehlen die Mittel: Es ist staatlich subventioniert und der Krieg hat in Kurdistan eine Wirtschaftskrise ausgelöst. Mittlerweile hat das Zentrum nicht mal mehr genug, um den Familien den Transport zur Klinik zu bezahlen. Das führt dazu, dass Kinder wie Paiwan zwar ein- oder zweimal zur Diagnose kämen, dann aber nicht mehr zur Therapie. Tahira Abdulrazaq, die ehemalige Kindersoldate betreut, sagt: „Die Suizidversuche von Kindern sind ein Resultat davon, dass wir vier Jahre lang nichts in ihre psychologische Betreuung investiert haben.“
Paiwan und sein Cousin sitzen auf dem Boden. Sie starren in einen kleinen Fernseher. Und dann verrät Paiwan doch noch etwas aus seiner Vergangenheit: Seit seiner Zeit beim IS interessiert er sich für Waffen. Wenn er einmal groß ist, sagt der Zehnjährige, will er Peschmerga-Kämpfer werden.