Jeden Tag stellen sie Blumen, Kerzen und Bilder auf die Treppen, um an die ermordete Journalistin Daphne Caruana Galizia zu erinnern. Und jede Nacht kommt die Stadtreinigung zu der Treppe, die zum Justizgebäude führt, und fegt die Gedenkstücke wieder weg. In dieser Nacht soll es anders kommen.
In Valetta, der Hauptstadt des kleinsten EU-Staats, regnet es an diesem Donnerstagabend im Dezember in Strömen. Mit Taschentüchern trocknen Menschen bunte Grabkerzen, die das Foto der ermordeten Journalistin erleuchten. Freiwillige verteilen Kaffee, Chips und Schokolade. Kinder springen zwischen älteren Männern in Jogginganzügen herum. Im Laufe des Abends versammeln sich hier rund 100 Menschen. „Wir werden die ganze Nacht hierbleiben und das Denkmal bewachen“, sagt Florinda, 33, die den spontanen Protest organisiert hat. Tagsüber arbeitet sie in einer Apotheke, abends als Tänzerin. Eigentlich sei sie nie ein besonders politischer Mensch gewesen, sagt sie. In den zwei großen Volksparteien des Landes, der Partit Laburista (Arbeiterpartei) und der Partit Nazzjonalista (Nationalistische Partei), habe sie sich noch nie wiedergefunden. Auf eine Demonstration gehen? Das sei für sie und ihre Freunde eine ganz neue Erfahrung. „Malta ist eine sehr entspannte Insel. Wir sind immer ruhig und zuvorkommend. Ich musste erst mal lernen, wie man sich auf einer Demonstration verhält“, sagt sie.
Mehr als zwei Jahre ist es jetzt her, dass die Journalistin Daphne Caruana Galizia vor ihrem Haus im Norden der Insel von einer Autobombe getötet wurde. Sie hatte im Rahmen der „Panama Papers“ recherchiert, einem großen Daten-Leak, das international für Aufregung sorgte und unter anderem zeigte, dass zahlreiche namhafte Politiker in illegale Offshore-Geschäfte involviert waren. Auch Malta war betroffen, und Daphne Caruana Galizia deckte Korruptionsfälle bis in die höchsten Kreise der Regierung und in der Geschäftswelt auf. Ihr Blog „Running Commentary“ war bereits davor berüchtigt, die Reichen und Mächtigen zu kritisieren.
„Überall, wo man hinschaut, sieht man heutzutage Schurken. Die Situation ist aussichtslos.“
Eine halbe Stunde bevor sie am 16. Oktober 2017 in ihr Auto stieg und die Bombe explodierte, schrieb sie auf ihrem Blog: „Überall, wo man hinschaut, sieht man heutzutage Schurken. Die Situation ist aussichtslos.“ Unmittelbar nach ihrer Ermordung entlud sich die Empörung in Demonstrationen und Kundgebungen, doch sie gingen allmählich im Inselalltag unter. Liest man ihren letzten Blogeintrag heute, klingt er wie der Slogan einer neuen Protestbewegung. Wer sich dieser Tage auf Maltas Straßen umhört, bekommt oft gesagt, dass es Proteste in solchem Ausmaß nie zuvor gegeben habe. Was war passiert?
Ein Verdächtiger hatte gestanden, als Vermittler für den maltesischen Geschäftsmann Yorgen F. drei Mörder mit dem Bau der Bombe beauftragt zu haben. Er belastete aber auch den (mittlerweile Ex-)Stabschef des Premierministers, Keith Schembri. Schembri habe ihm Informationen über die Journalistin aus direkten Regierungskreisen bereitgestellt. Als der Skandal Ende November öffentlich wurde, trat Schembri von seinem Amt als Stabschef zurück, und Premierminister Joseph Muscat (Arbeiterpartei) kündigte seinen Rücktritt an – für Januar 2020. Doch vielen Menschen auf der Straße reicht das nicht. Sie fordern seine sofortige Abdankung und das Ende der Korruption, die laut Transparency International in den vergangenen zwei Jahren auf Malta deutlich zugenommen hat.
„In den 1990er-Jahren kam hier eine ‚Pro Business‘-Attitüde auf“, sagt André Callus, 33. „Zugunsten von Großunternehmern und deren Bauvorhaben wurden Land und Energieversorgung privatisiert.“ Er ist Teil des Movimento Graffiti, einem nicht unumstrittenen zivilgesellschaftlichen Bündnis, das die aktuellen Demonstrationen mitorganisiert. Graffiti-Aktivisten ketteten sich bereits in den 1990er-Jahren auf Baustellen an, um die Entstehung eines Vergnügungsviertels in einem Naturschutzgebiet zu verhindern. Ohne Erfolg. Während das Movimento Graffiti in der Vergangenheit selten mehr als zehn Menschen bei seinen Aktionen auf die Straßen brachte, sind es nun Hunderte, an Spitzentagen Tausende, die sich der wöchentlichen Demonstration der Organisation anschließen.
„Die Politik dient nicht mehr den Menschen in Malta“, sagt Florinda, die auch um zwei Uhr nachts noch vor dem Denkmal in der Innenstadt unter einem Regenschirm Kaffee verteilt. „Es hat eine Weile gedauert, das zu begreifen, aber wir sind endlich wütend genug, um nicht mehr weiter dabei zuzusehen.“ Zum Justizgebäude sind an diesem Abend so viele Menschen gekommen, dass der Wagen der Stadtreinigung um Mitternacht nur kurz vor den Kerzen und Blumen anhält – und dann weiterfährt. Die regennasse Menge jubelt. Zum ersten Mal wird die kleine Gedenkstätte für Daphne Caruana Galizia nicht geräumt.
Fotos: Maria Jou Sol