Streit

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Darf man noch Michael Jackson hören?

… Roman Polański auszeichnen oder Richard Wagner aufführen? Unsere Autoren streiten über die Trennung von Künstler und Werk

  • 4 Min.
Pro & Contra Trennung Künstler Werk

Ja: Alles und alle immer gleich stummzuschalten, ist gefährlich und autoritär

sagt Felix Denk

In einer Netflix-Show sitzt der US-Rapper Jay-Z bei David Letterman. Und der mittlerweile rauschebärtige Talkaltstar fragt, ob das eigentlich alles wahr ist, was Rapper so reimen. Eine ganz einfache und zugleich megakomplexe Frage, zielt sie doch ins Herz einer kunsttheoretischen Debatte, die viel älter ist als die Hip-Hop-Oldschool. Jay-Z aber muss nicht lange überlegen: „Natürlich nicht.“ 90 Prozent seien selbstverständlich erfunden.

Letterman hätte auch gleich fragen können: Darf man Künstler*in und Werk trennen? Nein, man muss sogar, wäre die Antwort. Jedenfalls nach Jay-Z, Roland Barthes, Michel Foucault und vielen anderen Poststrukturalist*innen. Dass in den Debatten um R. Kelly, Michael Jackson, Roman Polański und wie sie alle heißen, die Schaffenden oft völlig mit ihrem Werk verschmelzen, ist erstaunlich.

Manches ist keine Frage der Kunst, sondern der Justiz

Im 20. Jahrhundert wurden große theoretische Anstrengungen unternommen, Autor und Werk zu trennen. Und zwar mit dem Ziel, den Geniekult zu beenden, der in der Romantik entstand: Die Deutungshoheit über das Werk hat nicht mehr der Autor, sondern der Leser. Der Aufsatz „Der Tod des Autors“ von Roland Barthes gehört nicht ohne Grund zu den heiligen Texten des 20. Jahrhunderts: In ihm steckt ungemeines Empowerment, er lädt zum Selberdenken ein. Ganz anders als der denkfaule Hashtag-Aktivismus, der so manche wichtige kritische Auseinandersetzung gleich mit stummstellt, sobald Anschuldigungen auftauchen.

Seien wir doch bitte nicht so naiv: Auch jemand, der eine Jahrhundertbassline wie die von „Billie Jean“ schreiben kann, ist möglicherweise ein übler Mistkerl, der hinter Gitter gehört. Große Kunst wird auch von schlimmen Menschen gemacht. Michael Jackson war so einer. Und natürlich ist es falsch, dass er ungesühnt davongekommen ist. Übergriffe, Missbrauch und Gewalt gehören bestraft. Sie sind aber eine Frage der Justiz, nicht der Kunst. Ich höre auch nicht mehr gerne Michael Jackson, aber nicht jeder, der ein Verbrechen begangen hat, muss als Künstler*in gleich mundtot gemacht werden. Diesen Stummschalten-Rigorismus halte ich für gefährlich.

Dürfen Künstler nur noch mit einem Schein auf die Bühne?

Seine logische Folge wäre, dass nur das Werk makelloser und straffreier Menschen Kunst sein darf. Der Gedanke ist bedrückend und seltsam autoritär. Wohin würde das führen? Dürfen sich nur bestimmte Menschen kreativ äußern? Bräuchte man ein Berufsverbot für alle, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind? Dann gäbe es keinen Hip-Hop und auch kein Pussy Riot. Dürfte man Kunst, die über moralische Reinheit der Künstler*in legitimiert ist, dann überhaupt noch kritisieren – wo sie doch so gut gemeint ist? Müsste sie nicht letztlich von irgendjemandem als Kunst genehmigt werden? Welche Behörde stellt die Erlaubnis aus? Ist das dann wie in der DDR, wo man die sogenannte „Pappe“ brauchte, einen Berechtigungsschein, um auf Bühnen aufzutreten?

Klar, Richard Wagner war Antisemit. Aber seine Musik ist nicht antisemitisch. Der Dirigent Daniel Barenboim würde allen etwas geigen, die fordern, dass man Wagner stummschaltet. Barenboim dirigiert Wagner, auch in Israel. Das ist mutig, aber nötig, um die Auseinandersetzung mit einem so schwierigen Komponisten nicht abzuwürgen. Sonst hieße stumm allzu oft auch dumm.

Felix Denk schreibt über die politische Dimension von Musik, Literatur, Kino, Essen und Trinken. Ginge es dabei nicht immer wieder um Ungerechtigkeiten, Halbseidenes und moralische Verkommenheit, würde er den Job nicht seit vielen Jahren machen.

Collagen: Renke Brandt

Nein, unsere Aufmerksamkeit ist politisch: Sie zu entziehen, kann die Gesellschaft besser machen

entgegnet Johann Voigt

Emil Nolde, Richard Wagner, Leni Riefenstahl, Woody Allen, R. Kelly, Kevin Spacey, Roman Polański, Michael Jackson, Peter Handke, Gzuz. Egal aus welcher Kunstrichtung, egal aus welcher Generation: Ständig soll ich lernen, das Werk von den Künstler*innen zu trennen, die sich falsch verhalten haben. Warum eigentlich?

Die Forderung ist mittlerweile eine genauso leere Phrase wie „Kunst kommt von Können“. Und: Sie ist nicht nur nicht mehr zeitgemäß, sie war es noch nie. Die Trennung vermittelt Künstler*innen als unantastbare Genies, die sich von der Gesellschaft und Privatperson entkoppeln, wenn sie Kunst schaffen. Das hat noch nie der Realität entsprochen: Künstler*innen sind keine bipolaren Fabelwesen – auf der einen Seite Kunstproduktionsroboter, auf der anderen Seite Mensch. Sie kreieren immer auch als die Menschen, die sie sind, entlang der Werte, die sie teilen.

Der Zweispalt zwischen Fansein und Haltung schmerzt…

Wir sollten die Person dahinter also unbedingt mitdenken, wenn wir hören, lesen oder schauen – und sie bitte auch danach bewerten. Vor allem, um reaktionäre, diskriminierende und sexistische Haltungen nicht einfach unreflektiert durchzuwinken, nur weil sie uns als Kunst begegnen.

Richard Wagner wird beispielsweise von vielen Klassikfans sehr zu Recht als Genie wahrgenommen. Gleichzeitig war Wagner ein glühender Antisemit, verfasste unter Pseudonym die judenfeindliche Kampfschrift „Das Judenthum in der Musik“.

Natürlich kann man Wagner hören, ohne davon zu wissen oder die Schrift beim Hören mitzudenken. Aber es ist ignorant. Gegenüber den Opfern des Holocaust, gegenüber allen enteigneten, entbürgerlichten und verfolgten, auch gegenüber allen noch lebenden Jüdinnen und Juden, für die Antisemitismus immer noch Alltag ist. Man darf Wagner hören. Aber nicht, ohne ihn für seine Haltung zu verurteilen. Auch wenn der mögliche Zwiespalt – zwischen dem Fan, der man vielleicht mal war, und der Haltung, die man vertritt – schmerzt.

… aber er ist eine Chance, etwas zu verändern.

Das Dilemma wird bei heutigen Acts noch offenbarer, gerade beim um Authentizität bemühten Rap. Viele Karrieren bauen auf der Behauptung auf, real zu sein. Zum Beispiel die von Gzuz. Die Menschen glauben, was er rappt. Auch wenn dabei Frauen heimlich Drogen ins Glas geschmissen bekommen, sexuell belästigt oder backstage „zerfetzt“ werden. Ob Kunstfreiheit oder nicht: Hier bringt die vermeintliche Kunstperson Gzuz nichts anderes auf die Bühne als die Gedankenwelt des Kristoffer Jonas Klauß (wie Gzuz bürgerlich heißt).

Wer diese Lieder reinen Gewissens hören kann und problematischen Künstler*innen unreflektiert eine Bühne gibt, verhöhnt nicht nur Menschen, die unter dieser Kunst oder ihren Urheber*innen leiden. Er verschenkt auch eine gesellschaftliche Chance: Jeder Klick bei Spotify oder Netflix, jeder Cent im Buchladen oder Kino ist auch ein politisches Gut – mit dem wir uns mit bestehenden Strukturen einverstanden erklären. Solange sie Geld einspielen, haben problematische Künstler*innen auch große Reichweiten. Niemand muss das unterstützen.

Der eine Johann Voigt schreibt über Pop, für die „taz“, „Die Zeit“ oder „Das Wetter“. Der andere schaut dreimal hintereinander dasselbe slowakische Graffitivideo und freut sich darüber.

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