„Hi, ich bin der Fischer!“ Sven Fischer steht in der Tür zu seiner Wohnung. Braun gebrannt auch im Winter, der Kopf rasiert, Ohrringe, Muskelshirt über dem trainierten Oberkörper. Seine Adresse, die Kopenhagener Straße 46, ist mittlerweile deutschlandweit bekannt. Fischer selbst auch. Makler und Medien nennen ihn den „renitentesten Mieter“ Berlins.
Fischers Geschichte ist lang und kompliziert, zusammengefasst geht sie so: Ein Großinvestor kauft ein Haus und versucht die Mieter zu vertreiben, alle gehen – bis auf einen. Und der kämpft: mehr als 50 Gerichtsprozesse, 15 fristlose Kündigungen, fünf Räumungsklagen, eine Strafanzeige. Schikanen, Psychoterror, schlaflose Nächte, Medienauftritte, fast bis zum Burnout. Doch bislang hat Fischer seine 38 Quadratmeter im vierten Stock behalten können.
Berlin ist bei Investoren besonders begehrt – und nicht in jedem Haus kann einer wie Fischer wohnen
Seit Jahren steigen in ganz Deutschland die Mieten. Die Gründe sind oft dieselben: Immobilienspekulation, Wohnungsmangel, Airbnb-Tourismus. In Deutschland zahlte man 1990 beim Erstbezug einer Wohnung im Schnitt 6,79 Euro für den Quadratmeter, im Jahr 2018 11,79 Euro – also 73,6 Prozent mehr. Mit Immobilien kann man gut verdienen, zumal die Zinsen nicht aus ihrem Dauertief herauskommen und Kredite für den Wohnungskauf billig zu haben sind. Berlin ist bei den Investoren besonders begehrt. Viele Gebäude sind lange nicht renoviert worden, die Modernisierungskosten können die Eigentümer auf die Mieter abwälzen. Oder sie versuchen, sie gleich ganz aus dem Haus zu bekommen. Denn dann können sie die modernisierte Wohnung noch teurer an neue Mieter vermieten oder sie für viel Geld verkaufen. Das war auch die Idee in der Kopenhagener Straße 46. Aber da hatten die neuen Eigentümer ohne Sven Fischer gerechnet.
Fischer ist 50 Jahre alt, in der DDR groß geworden und kurz nach der Wende in dieses Haus gezogen. „Dem früheren Vermieter war schnuppe, wer hier wohnt, Hauptsache, die Miete wurde gezahlt“, sagt er. Dem Vermieter sei aber auch schnuppe gewesen, in welchem Zustand die Wohnung war. Also baute die WG, in der Fischer damals wohnte, auf eigene Kosten Bad und Gasetagenheizung ein. Dafür gab es eine garantierte feste Miete – damals im oberen Bereich des Mietspiegels –, per Handschlag. Das Haus verwaltete sich im Grunde selbst. Man kannte sich, die Türen standen offen. „Es war kein Bullerbü, aber man hielt zusammen, half sich gegenseitig“, sagt Fischer.
„Die wollten das Haus leer haben, da waren wir Mieter im Weg. Wir sollten entsorgt werden wie ein altes Sofa“
Das ging lange gut, bis 2013 die Erben des verstorbenen Eigentümers an ein großes Immobilienunternehmen verkauften. Eines Tages, als die WG beim Essen saß, kam ein Bote mit einer ganzen Tasche voller Kündigungen – für jede Wohnung eine. „Die wollten das Haus leer haben, da waren wir im Weg. Wir sollten entsorgt werden wie ein altes Sofa“, erzählt Fischer. Politisch sei er eigentlich nie gewesen, „aber hier bin ich durch meine eigene Betroffenheit aus meinem Dornröschenschlaf erwacht“. Mehr als 80 Prozent der 1,9 Millionen Wohnungen in Berlin sind Mietwohnungen. Während 70 Prozent von Privatleuten oder Unternehmen vermietet werden, sind rund 18 Prozent in der Hand städtischer Wohnungsbaugesellschaften und 11 Prozent im Besitz von Genossenschaften. Besonders den großen Unternehmen geht es bei dem Geschäft hauptsächlich um den Umsatz. Dagegen bildete sich Widerstand: 2018 wurde ein Volksbegehren gestartet, um die börsennotierte Wohnungsgesellschaft „Deutsche Wohnen“ und alle Immobilienbesitzer mit mehr als 3.000 Wohnungen zu enteignen.
In Berlin-Prenzlauer Berg entstehen gerade viele schicke Eigentumswohnungen.
Hinter dieser Fassade befindet sich aber noch eine unsanierte: die von Fischer halt.
In Fischers Fall waren nach anderthalb Jahren alle anderen 30 Parteien ausgezogen. Die junge Mutter etwa, die monatelang eine blickdichte Plane vor dem Fenster hatte. Dann riss man die Fallrohre von der Regenrinne ab, Wasser lief in die Wohnung, Schimmel bildete sich. Am Ende war ihr die Gesundheit des Babys wichtiger, sie kapitulierte. Einen Tag nachdem sie ihren Auszug unterschrieben hatte, waren die Rohre wieder anmontiert. Bei Fischer selbst war eines Tages das Badezimmerfenster zugemauert, ein anderes Mal rissen Bauarbeiter im Dachgeschoss den Schornstein ein und deckten das Loch im Boden mit Brettern zu – ohne den Mietern vorher Bescheid gesagt zu haben. Von einem Tag auf den anderen konnte niemand mehr heizen.
Sven Fischer organisierte sogar ein Treffen mit dem damaligen Justizminister Heiko Maas, der ihm bescheinigte: „Das erkennt ein Blinder, um was es hier geht. Der Eigentümer will über exorbitante Mietpreissteigerungen die Bude leer kriegen.“
Fischer hat es mit seinem „Kampf“ gegen Eigentümer und Makler bis zur Gesetzesänderung gebracht
Für Fischer wurde der Wohnungskampf phasenweise zum Vollzeitjob, seine Arbeit als Caterer wurde zur Nebensache: An zwei bis drei Verhandlungen pro Woche nahm er teil, dazu kamen Interviews und die Vernetzung mit anderen Mietern. Manchmal klingt es, als wäre Fischer jahrelang an der Front gewesen, im Krieg. „Guerillakampf“ nennt er das, wenn er darüber wachte, dass kein Handwerker seine Wohnung „aus Versehen“ unbewohnbar machte.
155.000 Euro sollte seine Wohnung kosten, angesichts der explodierenden Immobilienpreise in Berlin war das nicht mal übermäßig viel für rund 40 Quadratmeter. Der Makler ließ potenzielle Käufer in der Annonce wissen, dass sie ein „dickes Fell“ bräuchten, bis sie die Wohnung selbst nutzen könnten, dafür aber die Möglichkeit bekämen, im Rahmen der Wohnungsbesichtigung mit Fischer „ein authentisches Exemplar des Prenzelbergers live zu erleben“.
42 Mio. Wohnungen
gibt es in Deutschland. Etwa jede fünfte Person lebt allein. In 58 Prozent der Haushalte (24 Millionen) leben zwei oder mehr Personen. Jeder Einwohner hat in Deutschland im Durchschnitt 46,5 Quadratmeter Wohnfläche.
Dass er nun als renitenter Mieter gilt, findet Fischer gar nicht so schlecht, es bringt ihm noch mehr Schlagzeilen. Die Annonce für seine Wohnung ist inzwischen offline. „Es hat gerade keinen Sinn“, sagt der Makler am Telefon. Der Besitzer will sich auf Anfrage nicht zu der ganzen Geschichte äußern. Fischer hat derweil aber nicht nur seinen persönlichen Krieg gewonnen, seine Prozesse haben sogar zu Gesetzesänderungen geführt. Luxussanierungen zum Zweck der Entmietung sind mittlerweile eine Ordnungswidrigkeit, Vermietern droht eine Geldbuße von bis zu 100.000 Euro, und Mieter haben Anspruch auf Schadenersatz. Zudem dürfen Modernisierungskosten nur in Höhe von acht statt elf Prozent pro Jahr auf die Mieter umgelegt werden.
Fischer hat all die Ordner mit den Dokumenten aus sechs Jahren in den Keller verfrachtet. Auf dem Bett liegt gerade nur noch ein kleiner Stapel Papiere, es geht um einen Fahrstuhl, der kürzlich in der Nebenkostenabrechnung auftauchte, den es aber gar nicht gibt. Fischer winkt ab. Eine Lappalie. Er zahlt jetzt doppelt so viel Miete wie vorher, aber auch nur 280 Euro netto. Vor allem ist das erste Mal seit Langem Ruhe eingekehrt. Und sollte seine Wohnung doch noch verkauft werden, könnte der neue Eigentümer ihm zwar wegen Eigenbedarfs kündigen –aber wegen des sogenannten Milieuschutzes erst in zwölf Jahren.
Fotos: Tobias Kruse / Ostkreuz