Gott wollte, dass Henry Fernsehen guckt. Allah führte seine Hand zur Fernbedienung, ließ ihn genau dieses Programm auswählen, an genau diesem Tag. Schicksal. So wird Henry das später sehen. Aber als er den Fernseher einschaltet und der Bildschirm aufleuchtet, denkt Henry noch nicht an göttliche Fügung. Er will nur Zeit totschlagen.
Henry, der seinen richtigen Namen lieber nicht in den Medien lesen will, sitzt in einem Wohnzimmer in Accra, der Hauptstadt Ghanas. Das Haus ist still, der Boden gefliest, die Klimaanlage summt. Er ist Anfang 20, sieht aber eher aus wie 14: klein, dünne Arme, kaum Bartwuchs. Viele halten Henry deswegen für harmlos, aber das ist er nicht. In einer Ecke steht sein Rucksack, darin ein paar Klamotten und ein Bild von Abu Bakr al-Baghdadi, dem mittlerweile getöteten Anführer des sogenannten Islamischen Staats (IS). In wenigen Stunden will Henry einen Bus nehmen, von Ghana nach Burkina Faso. Von dort soll es weitergehen bis in den Nahen Osten, nach Syrien. Henry zieht in den Krieg, für Allah und den IS. Aber bis der Bus kommt, schaut er fern.
Es gibt Momente, die alles verändern. Die meisten sind nicht laut, sondern so banal wie das Umschalten mithilfe einer Fernbedienung – und trotzdem entscheiden sie über ein ganzes Leben.
Nur ein Handy und ein Traum
Henry wird Mitte der 1990er-Jahre geboren, in Wulensi, einer Kleinstadt im Norden Ghanas. Tagsüber brennt die Sonne. Abends knistert der Ruf des Muezzins zum Gebet aus alten Lautsprechern. Henrys Vater stirbt früh. Seine Mutter verlässt die Kinder. Er wächst bei einem Onkel auf, einem armen Farmer. „Manchmal“, sagt Henry, „habe ich drei Tage lang nichts gegessen.“ So geht es vielen Kindern in Wulensi. Aber Henry ist anders als die meisten. Er ist neugierig, und er will mehr. Schon als Kind sagt er: „Irgendwann steige ich in ein Flugzeug und fliege in ein anderes Land.“ Als Henry 18 ist, macht er seinen Schulabschluss, den besten seines Jahrgangs. Als Belohnung schenkt ihm sein Lehrer ein Handy. Das ist alles, was Henry hat, ein Handy und einen Traum: Er will studieren. Aber er hat kein Geld.
Dann, ein Jahr nach seinem Schulabschluss, bekommt er eine Nachricht auf Facebook. Ein Mann aus Accra bietet an, für Henrys Studium zu zahlen, wenn dieser seiner Frau im Haushalt helfe. Henry sagt sofort zu. Er denkt: „Jetzt wird sich alles verändern.“
Accra und drum herum: fünf Millionen Menschen, 80 Prozent Luftfeuchtigkeit, 24 Stunden Hip-Hop-Dröhnen, Flip-Flop-Flappen, Motorheulen. Stadtstrände und Sushirestaurants, Frauen in bunten Kleidern und Männer mit glänzenden Schuhen. Accra ist so, wie Henry es sich immer vorgestellt hat. Doch sein Leben dort ist es nicht.
Der Mann, für den er arbeitet, besitzt ein Haus am Stadtrand. Jeden Tag kocht Henry für die Familie, kauft ein, putzt. „Auf Knien habe ich die Toiletten geschrubbt“, sagt er. „Und mit der Hand Unterwäsche gewaschen.“ Es dauert ein halbes Jahr, bis Henry versteht: Er wurde betrogen. Niemand wird für sein Studium bezahlen. „Ich war traumatisiert“, sagt er. „Ich habe jeden Tag geweint.“ Zurück nach Wulensi kann er nicht – er hat kein Geld für ein Busticket, und in dem Dorf erwartet ihn nichts. In Accra kennt Henry niemanden – würde er die Familie verlassen, wäre er obdachlos. Also arbeitet er weiter, ohne Bezahlung, wie ein Haussklave. „Niemand wusste, dass es mich gibt“, sagt Henry. „Ich war ganz allein.“ Bis eines Nachts sein Handy aufleuchtet.
Die Hitze staut sich. Auf dem Handy leuchtet eine Nachricht: „Ich liebe dich!“ „Ich liebe dich auch, Bruder“
Eine Chatnachricht: „Salam aleikum.“ Henry tippt zurück: „As-Salam aleikum.“ „Bist du ein Moslem?“, fragt der Unbekannte. „Ja, das bin ich“, antwortet Henry. Die Hitze staut sich in seiner Dachkammer. Er schwitzt. Auf dem Handy leuchtet die nächste Nachricht: „Ich liebe dich!“ Henry zögert, dann schreibt er: „Ich liebe dich auch, Bruder.“ Der Fremde sagt, sein Name sei Atib, er komme aus Algerien. „Was machst du?“, fragt er Henry. „Bist du Student?“ Henry kann sich nicht erinnern, wann sich das letzte Mal jemand für ihn interessiert hat. Also erzählt er alles. Er tippt seine ganze Geschichte ins Handy, schreibt von Wulensi, von den Blasen an seinen Händen, von der Dachkammer, in der er schläft. „Wow“, antwortet Atib. Dann fragt er: „Glaubst du, Moslems sollten ihren Brüdern helfen, wenn sie in Not sind?“ Henry antwortet: „Natürlich.“
Nach dieser Nacht schreiben sich Atib und Henry jeden Tag. Wenn Henry aufwacht, wartet bereits die erste Nachricht: „Guten Morgen, Bruder!“ Wenn er ins Bett geht, tippt er selbst: „Gute Nacht, Atib!“ Henry ist 20 Jahre alt, aber noch nie hatte er einen Freund. Atib wird innerhalb weniger Monate zum wichtigsten Menschen in seinem Leben. Von Anfang an ist es ihr Glaube, der die beiden zu verbinden scheint, den Mann aus Ghana und den Mann aus Algerien. Und nach und nach wird der Islam zu ihrem einzigen Thema. Atib schickt Henry Predigten, es geht um den „Heiligen Krieg“, um Helden, um Gut und Böse. Am Telefon beten die beiden gemeinsam, und Atib sagt: „Du bist nicht allein.“ Er erzählt Henry, unschuldige Moslems würden ermordet, in Gaza und in Syrien. Irgendwann sagt er: „Ich kämpfe für unsere Sache. Ich bin ein Soldat des Islamischen Staats.“
„Das war die Zeit, in der ich radikalisiert wurde“, sagt Henry rückblickend. Seit er ein Kind war, betet er fünfmal am Tag. In Wulensi gehörte der Glaube dazu, wie eine Vereinsmitgliedschaft. Es gab das Feld, die Schule und die Moschee. Aber jetzt verändert sich Henrys Glaube. Die Mehrheit der Menschen in Accra sind Christen. Bisher waren sie für ihn andersgläubig, jetzt sieht er sie als Ungläubige. „Wenn ich einkaufen ging, stellte ich mir vor, sie zu töten“, sagt Henry. Nachts, in seiner Kammer, träumt er vom Krieg. Er schaut Videos aus Syrien, sieht die Männer des IS Menschen erschießen. „Bum, bum, bum machten die Schüsse aus meinem Handy“, sagt er. „Ich hatte Angst, jemand könnte mich hören.“ Aber niemand beachtet ihn.
Niemand ahnt, dass Henry ein Geheimnis hat. Irgendwann ruft Atib ihn an. Er sagt: „Wir planen etwas Großes. Ich werde mich ein paar Tage nicht melden.“ Dann legt er auf. Es ist der 20. März 2016. Zwei Tage später sprengen sich in Brüssel drei Selbstmordattentäter des IS in die Luft. 35 Menschen sterben. 340 werden verletzt.
Am Morgen nach den Anschlägen schreibt Atib Henry: „Hast du die News gesehen?“ „Ja“, tippt Henry. „Das ist es, was wir machen“, schreibt Atib. „Das ist unser Krieg.“ Henry ist nicht erschüttert. „Ich war stolz“, sagt er. „Weil diese Männer mir vertraut haben.“ Als Atib ihn schließlich fragt, ob er nach Syrien kommen will, ist er bereit. „Ja“, sagt Henry, „ich will für Allah kämpfen.“ Atib schickt ihm Geld für ein Busticket von Ghana nach Burkina Faso. Dort soll Henry einen Mittelsmann treffen, der ihn weiterschleust.
„Der Islamische Staat sucht sich die Schwächsten – die ohne Geld, ohne Familie, ohne Hoffnung“
Am Tag der Abreise ist Henry nervös. Er hat gepackt, Klamotten und ein Bild von IS-Führer al-Baghdadi. Das Haus ist still, die Klimaanlage summt. Henry sitzt im Wohnzimmer und schaltet den Fernseher ein. „Welcome“, sagt eine Stimme, „willkommen bei Iqra TV.“ Iqra TV sendet eine islamische Talkshow. Der Moderator: Sheik Bagnya, ein in Ghana bekannter Imam. An diesem Tag heißt sein Gast Mutaru Muqthar: ein junger Mann mit einem runden, freundlichen Gesicht.
Muqthar erklärt, wie der Islamische Staat über das Internet Mitglieder rekrutiert. „Sie suchen sich die Schwächsten“, sagt er. „Die ohne Geld, ohne Familie, ohne Hoffnung.“ Sie gäben sich als ihre Freunde aus, verführten sie über Monate und lotsten sie schließlich nach Syrien. Wort für Wort beschreibt er, was Henry passiert ist. Satz für Satz bricht Henry zusammen. Er schreit, sackt zu Boden, während der Fernseher läuft und Muqthar redet. Henry liegt da, zwei Stunden lang, zusammengekrümmt, und weint. Henry nimmt den Bus nicht. Er denkt an Suizid. „Ich dachte, es ist zu Ende“, sagt er. Dann nimmt er sein Handy, loggt sich auf Facebook ein und schreibt dem einzigen Menschen, der ihm noch helfen kann: Mutaru Muqthar. „Bitte, Bruder“, schreibt Henry, „ich brauche Hilfe.“
Muqthar und Henry treffen sich nachts, in einem menschenleeren Park. Noch einmal vertraut Henry einem Wildfremden, noch einmal erzählt er seine Lebensgeschichte. Dieses Mal wird er nicht ausgenutzt. Muqthar nimmt Henry bei sich auf, in seinem Haus. Draußen verkaufen Frauen Früchte, abends trinken Muqthars Freunde Tee auf der Terrasse. An der Wand hängt ein Poster von Obama. „Change“ steht darauf. „Wandel“. Atib schreibt wieder und ruft an, fast jeden Tag. Aber jetzt sitzt Muqthar neben Henry. Er sagt ihm, was er schreiben soll: Seine Abreise würde sich verzögern, es dauere nur ein bisschen. „Diese Menschen sind gefährlich“, sagt Muqthar, „sie dürfen nicht merken, dass du dich von ihnen abwendest.“
Manchmal hat Henry das Gefühl, dass der IS seine einzige Chance war
Muqthar hat in England Terrorismusbekämpfung studiert und in Italien gegen die Mafia gekämpft. Seit ein paar Jahren ist er wieder in seiner Heimat Ghana und hilft radikalisierten Jugendlichen. Über Wochen nimmt er jedes Gespräch auf, das Henry mit Atib führt, und sichert die Chatverläufe. Am Ende bringt er alles zur Polizei. Henry bekommt einen neuen Namen, eine neue Identität. Und: eine Perspektive. Muqthar verschafft ihm einen Studienplatz. Die Studiengebühren für die ersten Semester bezahlt Muqthar. „Dieser Mann“, sagt Henry, „hat mir das Leben gerettet.“
Inzwischen lebt und studiert Henry in einer Stadt im Norden Ghanas. Niemand hier weiß von seiner Vergangenheit, nicht einmal sein Mitbewohner. „Ich bin glücklich“, sagt Henry. „Meistens.“ Aber Henry hat wieder kein Geld. Er weiß nicht, wie er die nächsten Studiengebühren bezahlen soll. Muqthar will er nicht fragen. „Ich schulde ihm zu viel“, sagt Henry. „Es gibt Tage“, sagt er, „da bereue ich es, nicht nach Syrien gegangen zu sein.“ Nicht weil er noch an die Ideologie des IS glaube. Sondern weil er manchmal das Gefühl habe, das sei seine einzige Chance gewesen, „Teil von etwas Großem zu sein“. Würde Henry sich noch einmal rekrutieren lassen? „Nein“, sagt er. „Diese Menschen sind böse – die bekommen mich nicht wieder.“ Das sei Allahs Wille. Und: „Meine eigene Entscheidung.“
Illustration: Frank Höhne