Das erste Mal, dass jemand meinen Waschzwang problematisiert hat, muss so in der siebten Klasse gewesen sein. Ich weiß noch, dass wir im Unterricht saßen, es war ein extrem kalter Winter. Dementsprechend sahen meine Hände aus: signalrot, aufgerissen, blutig. Als ich die Tafel gewischt habe, sind sie meiner Musiklehrerin aufgefallen.
Ich wusste schon, dass ich speziell war, was Sauberkeit und Händewaschen angeht. Ich empfand fast alles als eklig. Und wenn ich etwas angefasst hatte, konnte ich mich, mein Portemonnaie oder andere Gegenstände, die ich eng bei mir trug, erst nach dem Händewaschen wieder berühren. Meine Mitschüler fanden mich sicher ulkig. Aber als Kind habe ich mir keine Gedanken gemacht. Um ehrlich zu sein: Ich fand es auch ein bisschen geil, im Mittelpunkt zu stehen.
Meine Lehrerin hat mir damals deutlich gesagt, dass ich mir Hilfe suchen soll. Auch mit meiner ersten Freundin war das Waschen Thema. Ich wollte sie nicht küssen, wenn sie sich ohne Händewaschen ins Gesicht gefasst hatte. Hilfsangebote habe ich damals abgetan. Ich hatte keine Angst, zum totalen Außenseiter zu werden. Vermutlich, weil ich gar nicht wusste, wie krass solche Zwangsstörungen werden können.
„Wenn ich mir unterwegs Pommes hole und die Hände nicht waschen kann, esse ich sie mit dem Mund direkt vom Teller“
Woher mein Waschzwang kommt, weiß ich nicht. Da war immer so eine Art Ekel, Keime zu bekommen. Bis heute drücke ich Türklinken zum Beispiel nur mit dem Ärmel runter. Die Stelle am Pullover kann ich danach nicht mehr anfassen. Extrem ist alles, was mit dem Gesicht zu tun hat. Ich habe Angst, krank zu werden, Pickel und Herpes zu bekommen, eklig gefunden zu werden. Das ist fast paranoid.
Dass ich mich so oft wasche, bedeutet aber nicht, dass ich besonders auf meine Gesundheit achte. Ich bin Veganer, esse aber viel Ungesundes. Wenn ich mir unterwegs Pommes hole und die Hände nicht waschen kann, esse ich sie mit dem Mund direkt vom Teller. Meine Kippen drehe ich mit der linken Hand. Die wird vorher gewaschen und darf währenddessen nichts anderes machen, Filter und Blättchen berühre ich ja mit dem Mund. Da bin ich besonders sensibel: Ich habe früher in Bands gesungen, und wenn ich mit dem Mund das Mikrofon berührt hatte, musste ich abbrechen. Dann habe ich mir Desinfektionsgel in den Mund gesprüht. Keine Ahnung, ob das hilft. Aber das hat gereicht, um nicht mehr darüber nachzudenken.
Ich weiß mittlerweile, dass mein Verhalten irrational ist. Darauf weisen einen die Leute sehr gern hin: dass ich mich ja gar nicht so viel waschen müsste. Solche Hinweise helfen null, durch die habe ich mich oft eher noch hilfloser gefühlt.
Dieser Text ist im fluter Nr. 90 „Barrieren“ erschienen
Mit 18 habe ich doch Hilfe angenommen und eine Therapie gemacht, meinen Eltern zuliebe. Ich habe mich mit dem Therapeuten nicht verstanden, das hat gefühlt nichts gebracht. Geholfen hat mir die Zeit: Ich habe gesehen, dass ich krank werde und Pickel kriege, immer und immer wieder, da kann ich schrubben, wie ich will.
Waschzwang ist eine der häufigsten Zwangsstörungen. Im Gegensatz zu anderen kriege ich meinen Alltag glücklicherweise hin. Gerade wasche ich mir etwa 25-mal am Tag die Hände, das ist vergleichsweise wenig. Mein Alltag ist vergleichbar mit dem der meisten in der Coronapandemie. Da hat sich plötzlich auch jeder ausgiebig die Hände gewaschen, keiner hat in der U-Bahn mehr die Griffe angefasst oder die Hand gegeben. Ich trage immer noch Maske und vermisse den Faustcheck zur Begrüßung. Die Pandemie war für mich ein kleiner „Ich hab’s euch doch gesagt“-Moment.
Eine Sache, die immer befreit war von meinem Zwang, ist mein Sexleben. Da kann ich abschalten. Ich bin in einer längeren Beziehung und sehr zufrieden. Würde der Zwang die Beziehung und meine Sexualität belasten, würde ich intensiver versuchen, ihn loszuwerden. Gerade ist es echt in Ordnung. Nur eines stört mich: Ich weiß, dass manche meiner Geschichten witzig sind. Humor ist ein Weg, die Sache zu bewältigen. Aber ich würde mich freuen, wenn die Gespräche dann auch tiefer gehen, wenn mich jemand ernsthaft fragt, wie es mir damit geht.
Illustration: Nadine Redlich