Thema – Körper

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Grenzerfahrungen

Teil 1: Dorothee (27) ist schlagfertig, kerngesund und lebt mit einer unschönen Wahrheit

Illustration: Nadine Redlich

Ich bin eher der luftige Typ: ziemlich hager. Ich beneide Leute, die gedankenlos eine Mahlzeit auslassen können, weil ich ständig Gefahr laufe, zu dürr zu werden. Ich quäle mich nicht im Fitnessstudio oder hungere über winzigen Rationen irgendeines Superfoods. Mein Körper ist so.

Ich habe kleine, eng beieinanderstehende Augen, schiefe Zähne und einen krummen Rücken (sagt mein Physiotherapeut). Ich finde Schminken lästig, trage eine Brille und bin stolz auf meine Haare, die kupferfarben sind und überall wachsen. Und schon ist es passiert: Ich beschreibe mein Äußeres. Anhand der Merkmale, die die Gesellschaft schön oder hässlich nennt. Ich mache mit bei der Ausgrenzung von Menschen, die als nicht schön gelten. Menschen wie mir. Andererseits: Ich weiß, dass nicht ich anders bin, sondern wir alle.

Ich spreche über mein Äußeres, weil unser Aussehen politisch ist. Weil Schönheit nicht natürlich gegeben, sondern gesellschaftlich gemacht ist. Dein Aussehen zeichnet deinen Lebensweg vor. In einer Gesellschaft, die die Symmetrischen, Glatten, Jungen, die Weißen und Fitten anschmachtet, gehen Schöne leichter durchs Leben. Sie bekommen bessere Noten und kriegen eher einen Job, in dem sie dann mehr Geld verdienen. „Pretty Privilege“ heißt das, googelt mal. Über attraktiv oder nicht entscheiden wir in Millisekunden – unbewusst. Deshalb sind die Vorurteile so hartnäckig.

„Ich spreche über mein Äußeres, weil unser Aussehen politisch ist. Weil Schönheit nicht natürlich gegeben, sondern gesellschaftlich gemacht ist“

Mir wurde nicht nur die Schönheit abgesprochen, sondern meiner Person als Ganzes die Daseinsberechtigung. Nach einem Umzug wurde ich an der neuen Schule in einem Ausmaß gemobbt, dass ich das Gymnasium erneut verlassen musste. Manche Lehrerinnen und Lehrer haben mich weniger gefördert. Viele halten Nicht-Normschöne für weniger intelligent.

Noch schlimmer ist, dass ich oft links liegen gelassen wurde. In der Schule war ich das Mädchen, mit dem man grundsätzlich nicht spricht. Ich trug die Klamotten, die zu Hause eben da waren. Manchmal fragten mich die anderen, ob sie mich mal einkleiden dürften. Einmal war ich verzweifelt genug, um Ja zu sagen. Sie wollten mich schminken und steckten mich im Herbst in ein kurzes Sommerkleid. Das Outfit war eher seltsam, fand ich zumindest. Ich fühlte mich wie eine Schaufensterpuppe. Als ich vor ihnen saß, starrte mir eine Mitschülerin auf die Beine: „Oh. Mein. Gott. Bist du gar nicht rasiert?“ Was soll man darauf antworten? Es war Herbst, ich trug lange Hosen. Und unabhängig davon: Wozu rasieren? Ich verstehe das bis heute nicht.

Frauen mit unrasierten Körperpartien gelten in unserer Gesellschaft oft als ungepflegt und undiszipliniert. Ähnlich wie mehrgewichtige Frauen. Sie leiden unter der Erzählung, dass wir alle schön werden, wenn wir uns nur genug anstrengen – und zahlen können. Die Creme, der Sportkurs, die Schönheitsoperation versprechen Lebensfreude und Erfolg. Das funktioniert nur, solange Schönheit für die meisten unerreichbar bleibt, damit wir ihr weiter hinterherrennen können.

Dieser Text ist im fluter Nr. 90 „Barrieren“ erschienen

Diese Ideale werden spätestens dann absurd, wenn man sich vergegenwärtigt, wie austauschbar sie sind. In anderen Teilen der Welt, zum Beispiel dort, wo Nahrung knapp ist, gelten Menschen mit fülligem Körper als schön, erfolgreich und begehrenswert. Welchen Sinn soll Schönheit haben, wenn sie übermorgen ganz anders definiert sein könnte? Wenn ich sie durch einen Unfall oder eine Krankheit jederzeit verlieren kann? Wenn das „schön“ von hier und heute woanders auf dem Planeten möglicherweise nie als schön gegolten hat?

Schönheit ist subjektiv. Und doch fügen wir uns einem vermeintlich objektiven Regelwerk. Um ihm zu entsprechen, verwehren wir uns Essen, das uns schmeckt, Kleidung, die wir bequem finden, und unterziehen unsere Körper gefährlichen Operationen. Diese Regeln sind nicht naturgegeben. Menschen haben sie eingeführt und erlernt. Also können Menschen diese Regeln auch wieder verlernen.

Seit Kurzem stehe ich in der Modelkartei einer Agentur, die Menschen mit Bierbäuchen, Tränensäcken, Hautkrankheiten oder sichtbaren Behinderungen vertritt. Menschen, die man in der Werbung selten sieht. 

Illustration: Nadine Redlich

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.